Donnerstag, 03. April 2025, Waldeckische Landeszeitung / Guten Morgen Waldeck!
Von Vertreibung und Schokolade
Senioren teilen 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Erinnerungen
Vöhl – „Wir hatten solche Angst“, sagt Marlies Schreiber und schüttelt den Kopf. „So etwas wie den Krieg will ich nicht mehr erleben.“ Die im Jahr 1932 geborene Obernburgerin gehört zu den knapp 40 Seniorinnen und Senioren, die am vergangenen Sonntag in der Henkelhalle in Vöhl von ihren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg erzählt haben. Eindrucksvoll schildert sie von einer Gruppe deutscher Soldaten, die kurz vor Kriegsende nach Russland an die Front mussten und dort alle umkamen. „Wir hatten uns als Kinder ja immer mit denen unterhalten.“ Für die junge Marlies war das damals alles unbegreiflich.
80 Jahre nach dem Ende des Krieges wollten die Veranstalter in Vöhl so viele Zeitzeugen wie möglich zusammenbringen und deren Geschichten sammeln. Sie haben die mündlichen Berichte aufgezeichnet und wollen sie später schriftlich festhalten, damit nicht noch mehr Erinnerungen an diese Zeit verloren gehen.
Pfarrerin Ursula Nobiling, die Pfarrer Matthias Müller, Andreas Reichwein und Dr. Harald Wahl zählten zu den Moderatoren, die die Gespräche an den Tischen anleiteten, wo sich Bewohnerinnen und Bewohner der verschiedenen Vöhler Ortsteile versammelt hatten. Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises Synagoge Vöhl und Volker König vom Geschichtsverein Itter-Hessenstein freuten sich über die große Resonanz der älteren Bürgerinnen und Bürger, die das Kriegsende meist als Kinder miterlebt hatten.
Viele Erinnerungen sind verblasst, manches ist nach acht Jahrzehnten längst vergessen, doch einzelne Erlebnisse haben die alten Menschen noch heute klar vor Augen. „Wir Kinder haben die Amerikaner nach Schokolade gefragt“, erinnert sich Walter Henkler aus Basdorf an die Zeit der amerikanischen Besatzung.
In den Dörfern rund um Vöhl und darüber hinaus endete der Krieg bereits Ende März 1945, als amerikanische Panzer durch die Orte fuhren. „Wir Kinder standen am Zaun und haben zugeschaut. Ein Panzer schoss in die Luft. Da haben wir uns erschreckt und sind schnell ins Haus geflitzt“, berichtet Wilfried Schultze-Ueberhorst aus Basdorf. „Ein amerikanischer Soldat mit Maschinengewehr ging dann durch unser Haus und suchte alle Zimmer ab.“ An der Dorfkirche war ein Bettlaken als weiße Flagge gehisst.
„Keine guten Erinnerungen“ an diese Jahre hat seine Ehefrau Johanna Schultze-Ueberhorst, die 1939 geboren wurde und mit ihrer Familie aus dem Riesengebirge nach Detmold ausgewiesen wurde. „Wir hatten sehr viel Hunger gelitten. Wenn es mal Pellkartoffeln mit Salz gab, war das ein Festmahl.“ Ihr Vater war in Kriegsgefangenschaft und traf die Familie nach dem Krieg wieder. Doch später sprachen die Eltern nicht über die Zeit des Nationalsozialismus. „Das wurde verdrängt. Wir haben lange Jahre nichts von der Tragik erfahren.“
Flucht und Vertreibung hat auch Gerhard Stumpe erfahren. Als niederrheinische Familie wurden er, seine fünf Geschwister und seiner Mutter wegen der herannahenden Westfront evakuiert und später aus dem Egerland vertrieben. „Meine 16-jährige Schwester musste Zwangsarbeit leisten, und meine jüngere Schwester und ich arbeiteten für den Broterwerb in der Landwirtschaft.“ Später wurde die Familie nach Herzhausen gebracht.
Der Krieg endete offiziell am 8. Mai 1945. Viele Menschen waren mittellos. „Wir haben Bucheckern im Wald gesammelt und Ähren vom Feld, wenn es abgeerntet war“, erinnert sich Manfred Kreuzer aus Obernburg.
Die zahlreichen Tonaufnahmen sollen in Texte verarbeitet werden, kündigte Karl-Heinz Stadtler an. „Vielleicht entsteht daraus ein Buch.“ Am 25. Mai sollen die Ergebnisse in Vöhl präsentiert werden.
STEFANIE RÖSNER