Montag, 08. Juli 2024, Waldeckische Landeszeitung / Guten Morgen, Waldeck!
Plötzlich unter goldenen Sternen
Zeitzeugenbericht vom ersten Besuch in der Vöhler Landsynagoge 1994
VON KARL-HERMANN VÖLKER
Vöhl – Mein ganz persönlicher erster Eindruck von der Synagoge in Vöhl ist schon 30 Jahre alt: Es war ein Tag im Juli 1994, als ich mit einer Gruppe Referendarinnen vom Studienseminar Korbach zum ersten Mal das von außen so unauffällige Fachwerk-Wohnhaus in der Vöhler Mittelstraße betrat. Wir standen unter der gewölbten blauen Decke mit goldenen Sternen, mitten im ehemaligen jüdischen Betsaal mit umlaufender Frauenempore und Thora-Nische.
Welch unerwartete Atmosphäre! Seit Jahrzehnten war der Raum nur noch als Lager oder zum Wäschetrocknen genutzt worden.
Eine alte Dame wohnte ganz allein im Wohnteil der ehemaligen Landsynagoge. Sie hatte nur wenige Außenkontakte, noch nie hatte jemand offiziell den ehemaligen Synagogenraum auf seine Bedeutung als Denkmal hin angeschaut. Eine Lehrerin aus unserer Seminargruppe, ihre Nichte, hatte sie gefragt, ob wir uns bei unserer „historischen Spurensuche“ durch Vöhl auch den großen Raum der Synagoge ansehen und Fotos machen dürften.
Auf den Brüstungen der Frauenemporen entdeckten wir handgeschriebene Ziffern, fest vergebene Platznummern, ähnlich wie auf den Kirchenbänken von Oberorke, außerdem ein gitterartiges Stück Sichtschutz vor einem Platz auf der Frauenempore, unter einem Mond in der Mitte des Sternenhimmels ein Kreuz aus schweren Eisenbändern, an denen früher der Synagogenleuchter gehangen haben musste. In diesem Bethaus hatte die jüdische Gemeinde Vöhl bis zu ihrer Ausrottung unter dem NS-Regime den Sabbath gefeiert, es dann aber rechtzeitig an eine nichtjüdische Familie verkauft, sodass es der Vernichtung in der Pogromnacht 1938 entging.
Heimgekehrt, schrieb ich einen Brief an den damaligen Bürgermeister Harald Plünnecke: Sollte jemals dieses Kulturdenkmal verkauft werden, müsse die Gemeinde Vöhl unbedingt von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch machen. Der Bezirksdenkmalpfleger Prof. Michael Neumann in Marburg erhielt am 8. August 1994 alle meine Fotos vom Inneren des Synagogenraums – die ersten, die es bisher gab. Er erkannte den Wert des Denkmals und schaltete sich im Juni 1999, als das Gebäude nach dem Auszug der letzten Bewohnerin frei wurde, auch beherzt ein. Er appellierte an die Gemeinde Vöhl, ihr Vorkaufsrecht auszuüben: „Ich denke, dass die Restaurierung der Synagoge dem Ansehen der Gemeinde in seiner verpflichtenden Rolle für eine geschichtsbewusste Aufarbeitung der Vergangenheit sehr zum Ansehen gereichen würde.“ Er stellte eine Soforthilfe von 50000 DM in Aussicht.
Der Antrag von SPD und Grünen wurde im Oktober 1999 in der Gemeindevertretung abgelehnt. Der Geschichtsverein Itter-Hessenstein blieb treibende Kraft. Mehr als 200 Bürger gründeten einen Förderkreis und kauften das Haus, renovierten es mit der nötigen Weitsicht. Michael Neumann stand als Ratgeber und Förderer in allen Bauphasen eng an ihrer Seite und schrieb an Kurt-Willi Julius: „Der Raum ist so wunderschön in seinen Proportionen und hat einen derart angenehmen ‚Kammerton’, dass man hier ein kulturelles – musisches – literarisches – musikalisches Zentrum schaffen sollte, das sich über das Thema Landjudentum hinausbewegen könnte.“ Neumann, der 2003 verstarb, erwies sich damit als wirklicher Visionär.