Ei­nen Tag nach dem Be­such bei den Schü­le­rin­nen und Schü­lern in Kor­bach steht Le­on Wein­traub abends am Pult in der ehe­ma­li­gen Syn­ago­ge Vöhl. Der glei­che An­lass, die glei­che Ge­schich­te, der glei­che Mensch. Und doch ist es an­ders. Er weiß, er trifft auf ein er­fah­re­nes Pu­bli­kum. Es gibt al­so Raum – so­gar für klei­ne Scher­ze, nicht je­des Wort muss ab­ge­wo­gen wer­den. „Ich bin von Stock­holm in zwei klei­ne nord­hes­si­sche Or­te ge­fah­ren, von de­nen ich vor­her noch nie ge­hört hat­te. Es ist ein­drucks­voll. Ich ha­be mit vie­len wun­der­ba­ren Men­schen ge­spro­chen und ste­he jetzt zum ers­ten Mal in ei­ner Syn­ago­ge in ei­nem klei­nen Fach­werk­haus. Ich füh­le mich sehr wohl“, sagt der 97-Jäh­ri­ge.

Wenn er hier von der Wä­sche­rei der Mut­ter er­zählt, dann er­in­nern sich vie­le im Saal, dar­an, wie es war, als die Mut­ter oder Gro­ßmut­ter im hei­ßen Was­ser auf dem har­ten Wasch­brett die Wä­sche rieb. Aus al­ten Er­zäh­lun­gen in der Fa­mi­lie ah­nen sie, was es hei­ßen kann, von Sep­tem­ber 1939 bis April 1945 Hun­ger zu ha­ben. Ei­nen Hun­ger, der un­ab­läs­sig schmerzt. Sie sind ent­setzt, als sie von der Ar­beit der Ka­pos, der Funk­ti­ons­häft­lin­ge, er­fah­ren.

„Als wir in Ausch­witz an­ka­men, hat mir ein Ka­po mei­ne Brief­mar­ken­samm­lung ab­ge­nom­men“, be­rich­tet Le­on Wein­traub „Als ich sie wie­der ha­ben woll­te, sag­te er nur: Die brauchst Du nicht mehr. Du bist nicht hier, um zu le­ben. Im­mer wie­der ha­be ich ge­se­hen und er­lebt, wie die­se Men­schen sich der Un­mensch­lich­keit ih­rer Ar­beit­ge­ber an­pass­ten.“ Er spü­re bis heu­te, dass sein Kör­per sich ver­än­de­re, wenn er dar­an den­ke. Es sei noch ein­mal schlim­mer, von den ei­ge­nen Leu­ten ver­folgt und ge­de­mü­tigt zu wer­den. „Ich hat­te nie ei­ne gro­ße Bin­dung an die jü­di­sche Re­li­gi­on, aber hät­te ich sie ge­habt, in Ausch­witz hät­te ich sie ver­lo­ren.“

„Le­on Wein­traub ist ei­ner der letz­ten Men­schen, der aus ei­ge­ner Er­fah­rung von die­sem dunk­len Ka­pi­tel deut­scher Ge­schich­te be­rich­ten kann“, sagt Va­le­rie van der Kraan aus Fran­ken­au. Sie ist be­ein­druckt. „Es be­rührt sehr, wie er das Grau­en auf die klei­nen Mo­men­te zu­rück­holt. Wie er sich selbst zu­rück­nimmt, kei­ne Schuld zu­weist. Er hat vie­le Jah­re sei­nes Le­bens ver­lo­ren und sich doch sein Le­ben zu­rück­ge­holt und ein neu­es auf­ge­baut.“

As­trid Som­mer und ihr Mann hat­ten ei­nen ganz be­son­de­ren Grund, aus Es­sen zu die­sem Vor­trag an­zu­rei­sen. „Der Va­ter mei­ner Tan­te ist de­por­tiert und er­mor­det wor­den. Sie ha­ben hier in Vöhl in der Nach­bar­schaft der Syn­ago­ge ge­lebt“, er­zäh­len sie. Mit Blick auf den Vor­trag Le­on Wein­traubs be­to­nen sie: „Die ru­hi­ge und sach­li­che Schil­de­rung sei­nes Le­bens hat uns per­sön­lich viel er­klärt. Frei von An­kla­gen er­zählt er, wie es trotz al­lem wei­ter­ging. Er hat­te wohl im­mer die Hoff­nung, wei­ter­ge­hen zu kön­nen. Und wie er sein Le­ben ge­stal­tet hat, ist ein­fach gro­ß­ar­tig. Ge­nau­so gro­ß­ar­tig ist es, dass es Karl-Heinz Stadt­ler ge­lun­gen ist, ihn hier­her zu ho­len in die al­te Syn­ago­ge.“

Er ha­be, so be­tont es Le­on Wein­traub, die Er­eig­nis­se in­zwi­schen ver­ar­bei­tet und ra­tio­na­li­sie­ren kön­nen. Es gä­be kaum ein Er­eig­nis in der Welt­ge­schich­te, das so gründ­lich in Wort und Bild von den Tä­tern, den Über­le­ben­den oder Wis­sen­schaft­lern do­ku­men­tiert wer­de. Je­des Mal aber fal­le nach ei­nem Vor­trag, wenn er sei­ne Pflicht der Er­in­ne­rungs­ar­beit er­füllt ha­be, ge­ra­de auch in Schu­len, ei­ne Last von sei­nen Schul­tern.

Die Zu­hö­rer in der voll be­setz­ten Syn­ago­ge er­in­nert er dar­an, nicht zu ver­ges­sen. „Es wa­ren nicht nur Ein­zel­ne. Es wa­ren Deut­sche. Wir müs­sen ge­mein­sam die Er­in­ne­rung wach­hal­ten.“ Nach ei­nem lan­gen Ap­plaus im Ste­hen be­ant­wor­tet Le­on Wein­traub noch vie­le Fra­gen und si­gniert Bü­cher.  bl