„Wir treten ein für Toleranz“
Setzt sich für Toleranz und gegen Fremdenfeindlichkeit ein: Karl-Heinz Stadtler ist Vorsitzender des Förderkreises der alten Vöhler Synagoge. Foto: renner
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Renner, Julia

VON JULIA RENNER

Vöhl - „Facetten des Rassismus“ hieß die erste große Veranstaltungsreihe, die der Förderkreis der Synagoge Vöhl jetzt auf die Beine gestellt hatte. Über Rassismus (im Alltag), bewegende Flüchtlingsschicksale und was jeder Einzelne von uns gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus unternehmen kann, darüber sprachen wir mit Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises.

Herr Stadtler, in der Schule, im Fernsehen, in Zeitungen wird Rassismus immer wieder thematisiert. Warum fanden Sie es wichtig, es dennoch zum Gegenstand einer großen Veranstaltungsreihe zu machen?

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind so aktuell wie eh und je. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahres sahen wir im immer wieder Fernsehbilder von Demonstrationen der politischen Rechten gegen angebliche Überfremdung durch Menschen anderer Herkunft und Religion. Die Demonstrationen waren von Feindschaft und Hass geprägt. Da mehrere Vorstandsmitglieder in der Flüchtlingsbetreuung engagiert sind, hat uns das sehr aufgewühlt, zumal auch „unsere“ Flüchtlinge immer wieder Probleme bei der Anmietung von Zimmern hatten und haben. Eine unterschwellige Ablehnung von Menschen mit anderer Herkunft erfährt man immer wieder, auch bei uns in Dörfern. Oft geht es um Ablehnung des Fremden allgemein.

Hat Deutschland ein Rassismus-Problem?

Dies ist nicht nur ein deutsches Problem, obwohl es hier natürlich besonders virulent ist und obwohl wir aufgrund unserer Geschichte eine besondere Verantwortung haben. Auch in anderen Ländern gibt es Rassismus.

Während der Veranstaltungsreihe gab es Lesungen, Vorträge, Konzerte, Ausstellungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Gibt es eine zentrale Botschaft?

Das ist das Ziel, das wir uns als Verein immer setzen: Wir wollen eintreten für Toleranz, Offenheit und Demokratie. Das haben wir versucht, mit der Veranstaltungsreihe deutlich zu machen.

An einem Wochenende ging es vor allem um Asyl und Flüchtlinge. Einige berichteten von ihrer Flucht, der alten und neuen Heimat. Gibt es etwas, das Sie besonders bewegt hat?

Ich hatte schon vorher Kontakt aufgenommen zu einer jungen Syrerin. Vor allem ihre Fluchtgeschichte, mit welchen Gefahren sie verbunden war, der Weg übers Meer - das war schon sehr berührend. Oder ein Eritreer, der aus Äthiopien geflohen ist und den Weg über die Sahara und das Mittelmeer nahm. Er hat Schlimmes erlebt, war inhaftiert und wurde gefoltert. Er konnte gar nicht über alles sprechen.

Erst vor ein paar Tagen habe ich einen Afghanen zum Flughafen gebracht, der freiwillig ausreiste, nachdem er eine Gerichtsverhandlung hatte, die negativ für ihn ausging. Der Richter schrieb in das Urteil, dass er ihm seine Geschichte nicht glaube und das hat den jungen Afghanen schwer getroffen. Er wird nicht in seiner Heimatregion wohnen können, da die von Taliban beherrscht wird, die ihn mit dem Tode bedroht haben.

Sie selbst haben in der Reihe auch einen Vortrag gehalten, in dem es um die vergessenen Mordlager im Holocaust ging. Warum sind Belzec und Sobibor vergessene Mordlager?

Vergessen deshalb, weil sie lange Zeit unbekannt waren. Man kannte Auschwitz, wusste aber nichts von Sobibor und Belzec, vielleicht noch etwas von Treblinka. Von diesen Lagern haben wir erst nach 1990 erfahren, nach den Veränderungen in der Sowjetunion. Vorher hieß es immer, dass Menschen aus Nordhessen nach Osten deportiert wurden. Man wusste nicht, wohin.

Sie sind selbst auch dort gewesen und haben die Lager besucht.

Ja, wir haben mit dem Bildungswerk Stanislaw Hantz aus Kassel eine Bildungsreise dorthin gemacht. Heute sieht man von den Vernichtungslagern nur noch sehr wenig, es sind nur noch Gedenkstätten. In Sobibor und Treblinka gab es Aufstände und danach hat man diese beiden Lager dem Boden gleich gemacht und dort ukrainische Bauern angesiedelt. Als die Rote Armee kam, sollte nicht mehr zu sehen sein, was ursprünglich mal dort war.

Während die Veranstaltungsreihe lief, gab es den Anschlag auf die Synagoge in Halle, bei dem zwei Menschen starben. Wie haben Sie den Anschlag erlebt?

Ab dem kommenden Tag wurde unsere Synagoge 24 Stunden am Tag bewacht. Der Anschlag war an einem Mittwoch, und von Donnerstag bis zum folgenden Montag war die Polizei vor dem Haus. Anschließend waren Polizisten bei unseren Veranstaltungen vor Ort.

Der Anschlag hat uns animiert, relativ kurzfristig zu einer Lesung gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus einzuladen. 50 Frauen und Männer, darunter auch Repräsentanten der Kirche sowie Kreis- und Landespolitiker haben teilgenommen.

Hat dieser Anschlag Konsequenzen für die Arbeit des Förderkreises in Vöhl?

Wir fühlen uns in unserer Arbeit bestätigt. Es ist richtig und notwendig, was wir tun. Und wir werden es natürlich fortsetzen.

Was kann jeder Einzelne machen gegen Rassismus?

Jeder sollte immer dann, wenn er mit rassistischen oder fremdenfeindlichen Äußerungen konfrontiert wird, das nicht unwidersprochen lassen. Wir sollten deutlich machen, dass das nicht unsere Position ist.

 
 
Ein Heim für verstoßene „Mischlingskinder“
HistorikerinEva-Kathrein Hack
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Hennig, Armin

Vöhl-Asel - Einer der letzten Vorträge der Reihe „Facetten des Rassismus“ des Förderkreises der Synagoge behandelte eine Einrichtung, bei der Vöhl gewissermaßen ein historisches Alleinstellungsmerkmal besaß: Das Albert-Schweitzer-Heim für „Mischlingskinder“ in Asel.

Nach der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg und in einer Gesellschaft, die durch die Rassenlehre der Nazis geprägt war, standen Frauen unter Druck, wenn sie ein Kind zur Welt brachten, das einen Vater mit afrikanischen Wurzeln hatte.

Referentin Eva-Kathrein Hack ist in den 50ern in Asel aufgewachsen und hatte Kontakt mit den Kindern, die von 1956 bis 1959 auf dem Weinberg eine Heimat fanden. Als Heimatkundlerin hatte sie sich die Geschichte des Heims vorgenommen und Forschungsliteratur studiert. Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass Asel bei Fachgelehrten zu Unrecht in schlechtem Licht steht - wenn man die gesellschaftlichen Verhältnisse der Nachkriegsjahre als Maßstab nimmt.

Schwierigkeiten mit Verwandten, schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder ein Zukünftiger, der bei der Familienplanung bei null anfangen wollte, führten dazu, dass etwa ein Drittel von 6800 Frauen ihre Kinder in staatliche Fürsorge gaben. Die Vermittlung an kinderlose afro-amerikanische Paare war ein Ansatz, oft blieb aber nur die Heimunterbringung, wo die farbigen Außenseiter unter Druck gerieten.

Um der Diskriminierung aus dem Weg zu gehen, entwickelte die Pfarrersfrau Irene Dilloo einen eigenen Ansatz. Die „Mischlingskinder“ sollten in einem Heim unter ihrer Fürsorge aufwachsen und dabei drei Stufen der Akzeptanz durchlaufen: Annahme der eigenen Hautfarbe, Vergebung der weißen Gesellschaft und Vergebung der eigenen Mutter. Das Haus auf dem Weinberg war das Ausweichquartier für Dilloo, die ihr Konzept bereits mit 16 Kindern nahe Wuppertal realisiert hatte.

Die Miete im ehemaligen Bergarbeitererholungsheim in Asel lag bei 750 Mark, sie war „kein Preis der Nächstenliebe“, so der Autor einer Münchner Illustrierten. Mit der Überschrift „Haus der Verstoßenen“ prägte der Journalist einen Begriff, der dem Albert-Schweitzer-Heim bis in die neuere Forschungsliteratur gefolgt ist.

Aufgrund der hohen Miete nutzte Dilloo sämtliche Kanäle beim Sammeln von Spenden und wurde damit international bekannt. Die permanente Öffentlichkeitsarbeit sorgte aber auch dafür, dass die Jugendämter den Verstoß gegen geltende Richtlinien aus der Welt schaffen wollten. Die Kinder wurden 1959 auf dem Schulweg abgefangen und kamen unter Obhut der Behörden oder zurück zu den Müttern, die Druck auf die Ämter wegen Rückgabe ihrer Kinder ausgeübt hatten. Foto: hennig  ahi

 
 Leben mit Widersprüchen
 
 
„Unter den Wolken“: Dieser Song der „Toten Hosen“ geriet zum rockigsten Moment des alternativen Weihnachtsoratoriums von Paul Hoorn und Freunden in der Vöhler Synagoge. Foto: Armin Hennig
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Hennig, Armin

VON ARMIN HENNIG

Vöhl - Mit ihrem dialektischen Weihnachtskonzert „Und die Finsternis hat es nicht begriffen“ gastierten Paul Hoorn und Freunde zum zweiten Mal in der Alten Synagoge in Vöhl.

Die Neuauflage des Plädoyers für ein Leben in Vielfalt und mit den Widersprüchen dieser Welt geriet spiritueller als im Vorjahr. Im komplett abgedunkelten Raum disputierten die Stimmen von Paul Hoorn, Matthias Manz und Karolina Petrova das Für und Wider eines Weihnachtskonzerts und einer angemessenen Liedauswahl für einen alternativen Entwurf.

Dabei übernahm der Kopf der Gruppe die Rolle des Spielverderbers, der mit seiner resignierten Einstellung jeden Wunsch des Traditionalisten an der Gitarre nach wenigstens ein bisschen heile Welt zum Fest, unterläuft.

Als Stimme von oben griff Carolina Petrova mit geistreichen Gegenvorschlägen und dem Verweis auf die jiddischen Traditionen vermittelnd in den Disput ein und lieferte die Vorlage zur Eröffnung „In der Finster.“

Ein düsterer Akkordeonlauf und ein Schmerzensruf eröffneten den musikalischen Dreiklang aus jiddischer Leidenserfahrung, Nachkriegselend („Zur halben Nacht“) und christlicher Tradition („Es ist ein Ros’ entsprungen“). Die inhaltlichen und musikalischen Wechselwirkungen zwischen der zu allen Zeiten gern gesungenen Vorlage und der Neubesinnung in der Trümmerlandschaft spann den dialektischen Faden weiter. Die Verbindung von Verfolgung und Leid, Aneignung und Weiterentwicklung der Traditionen mit abschließender Rückkehr in die weihnachtliche Konvention bildete auch den folgenden Dreiklang.

„Unter dajne wajsse Schtern“ war während des Zweiten Weltkriegs im Ghetto von Wilna entstanden und gestaltete mit Hoffnung in aussichtslosen Zeiten den Widerspruch in sich. Den heiteren Kontrast zum Hunger im Ghetto bildete Paul Hoorns Vertonung des kaschubischen Weihnachtsliedes von Walter Bergengruen.

Es ist eine Parodie auf den Stolz der slawischen Pommern auf ihre deftige Küche, die einen ganz anderen Kerl aus dem Jesuskind gemacht hätte, wäre die Krippe nicht in Bethlehem, sondern in den Kaschubei gestanden. Diese extrem bodenständige kulinarische Ausrichtung wirkte zunächst als krasser Gegensatz zur barocken Dichtung Johann Francks und Johann Sebastian Bachs Vertonung von „Ihr Gestirn, ihr hohen Lüfte“, doch das Finale stellte die Verbindung her.

Die finale Auflösung der dialektischen Widersprüchlichkeiten blieb der ersten Zugabe vorbehalten. „Durch den Riss in jedem Sein, kommt erst das Licht hinein“, mit dieser Zeile aus Leonard Cohens „Hymne“ spielten Paul Hoorn und Freunde ihr letztes und überzeugendstes Plädoyer gegen geschlossene Weltbilder und für das Leben mit den eigenen Widersprüchen.

 
 
 Tag zur Freude und zur Trauer
 
Eine Vöhler Flötengruppe spielte jüdische Weisen. Fotos: Nadja Zecher -Christ
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Nadja Zecher-Christ

VON NADJA ZECHER-CHRIST

Vöhl - Der 9. November ist ein Tag der Freude aber auch der Trauer. Freude bescherte der Fall der Berliner Mauer (1989), für Trauer sorgte das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte, denn bei der „Reichspogromnacht“ (1938) wurden jüdische Geschäfte und Synagogen in Brand gesetzt. Auch in Waldeck-Frankenberg verloren zahlreiche jüdische Bürger durch die NS-Rassenpolitik ihr Leben.

In Vöhl wurde wieder traditionell mit einer Gedenkfeier an die Holocaust-Opfer und deren Angehörigen gedacht. Die Veranstaltung wurde mit einem Friedensgebet in der Vöhler Martinskirche eingeläutet, umrahmt von einer Flötengruppe.

„Es gibt Tage, da weiß man nach Jahrzehnten noch, wo man gewesen ist“, sagte Pfarrer Jan-Friedrich Eisenberg. Er habe im Arbeitszimmer seines Vaters im Fernsehen vom Mauerfall erfahren. Er und die Eltern hätten gespannt die Ereignisse verfolgt.

Bei der Pogromnacht und beim Mauerfall sei man jeweils mit einer Regierung konfrontiert gewesen, die sich nicht um biblische Visionen scherte und keine Pluralismen duldete. Das eine Mal sei Deutschland in Schutt und Asche gelegt und vier Millionen Menschen unbeschreibliches Leid zugefügt worden. Beim anderen Mal sei äußerlich nicht viel zerstört worden, doch der Staat habe sich als riesiges Instrument der Repression entpuppt, welches eine freie Lebensentfaltung verhinderte.

Bürgermeister Matthias Stappert hielt in der Synagoge eine Gedenkrede und befand, dass der 9. November 1989 sich gut dazu eigne, die Einheit Deutschlands zu symbolisieren. Mit dem 9. November 1938 sei jedoch Leid über die Juden in Gestalt der Reichspogromnacht gekommen. Der Geist des Nationalsozialismus in Europa rege sich seit einigen Jahren wieder deutlicher und stärker und nannte dazu den Brexit und die Visegrád-Staaten. Nationale Egoismen brächen auf und die Gefahr wuchere auch in Deutschland von rechts und links. „Ich hoffe, dass Freiheitlichkeit, Bürgersinn und Klarheit des Denkens siegreich bleiben über Dummheit, Ignoranz, Moralismus und Parolen“, betonte Stappert.

Der ehemalige Vöhler Pfarrer Günter Maier verlas das Kaddisch-Gebet auf Deutsch, Barbara Küpfer trug es auf aramäisch vor. Auf dem Klavier und Flöten wurden jüdische Weisen vorgetragen. Tom Wiesemann, Najila Nazeri, Mali Klöcker, Leo Wilden und Laura Evers entzündeten 72 Teelichter zum Gedenken an die Holocaust-Opfer.

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Nadja Zecher-Christ
 
Auftritt mit musikalischem Humor und Virtuosität
 
Phantasie in Gelb: Mit „Hoch auf dem gelben Wagen“ als Teil eines Weltmusik-Hitmix boten „Quadro nuevo“ musikalischen Kleingeistern die Stirn. Foto: Hennig
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Hennig, Armin

VON ARMIN HENNIG

Vöhl - Sechs Jahre ist es her, seitdem „Quadro nuevo“ zuletzt in der Alten Synagoge gastiert hatten. Da die vier Weltmusiker seitdem neue Wege gegangen sind, geriet auch das Wiederhören mit Kindheitserlebnissen wie „Hoch auf dem gelben Wagen“ oder „Die Gedanken sind frei“ zum Erstkontakt für zahlreiche Zuhörer.

Im halbstündigen Opener „Flying Carpet“ und dessen zahlreichen nahtlosen Übergängen von einer morgenländischen Region zur nächsten forderte sich das Quartett und verlangte dem Publikum ebenso viel Aufmerksamkeit wie Bewunderung ab. Auf die Tour de Force durch diverse Stile und dynamische Extreme folgte mit „Café Cairo“ die Konfrontation zwischen westlicher Walzer-Tradition und nahöstlichen Klängen, die Akkordeonist Andreas Hinterseher aber erst einmal in kreativer Karl-May-Nachfolge komponiert hatte. Bei der Erstaufführung in Kairo war es dann zu einem denkwürdigen Crossover gekommen, bei dem die afrikanischen Musiker den Walzer-Part und die vier Europäer den orientalischen Teil übernommen hatten. Eine anregende Erfahrung für alle Beteiligten.

Den Weg der Auseinandersetzung mit der lokalen Tradition wollten nicht alle Fans mitgehen, ließ Saxofonist Mulo Francel in der Ansage zum von Bundespräsident Walter Scheel und Heino in die deutschen Hitparaden gebrachten Volkslied anklingen. Die in Postfarben gerückte kreative Auseinandersetzung mit musikalischen Kindheitstraumata geriet aber so weltläufig wie vom Quartett gewohnt und damit zum Musterbeispiel für Kombination von musikalischem Humor und Virtuosität. Denn anstelle von gemächlichem Postkutschentempo begleiteten feurige Bossa-Nova-Rhythmen die bekannte Weise, die sich immer wieder atomisierte und neu zusammensetzte und dabei auch andere Welthits wie „Tequila“ aufscheinen ließ, bevor sich die nächste mehr oder minder vertraute Konstellation einstellte.

Neue Wege gingen Bassist/Percussionist D. D. Lowka und seine Mitspieler auch beim Arrangement von „Die Gedanken sind frei“. Für die ganz in blau ausgeleuchtete Jazz-Version hatte Akkordeonist Hinterseher Trompete gelernt. Pianist Chris Gall, der erstmals in Vöhl mit dabei war, sorgte an den Tasten für das Hardbop-Feeling. Eine Komposition des „Neuzugangs“ erwies sich dagegen eher als Stolperstein für die Hörgewohnheiten von langjährigen Fans. Erklangen die vermeintlich verpönten Volkslieder in gewohnter Vielfalt, so geriet das ungewöhnlich geradlinig und klar strukturierte „Thom Yorkes Guitar“ zum Fels in der musikalischen Brandung des fließenden Sounds. Orient und Okzident bildeten in der finalen Sehnsuchtsballade „Ikarus Dreams“ eine vollkommene Synthese.

In den beiden Zugaben „Der Mond ist aufgegangen“, und Variationen über Mozarts Kanon „Bona nox“ knüpften die vier Weltmusiker auf Jazz-Basis noch einmal zahlreiche Querverbindungen zwischen Volkslied, Klassik und Folklore.

 
 
Schwierige Wege in die neue Heimat
Am Gesprächsnachmittag stellte (von links) Herbert Keim auch Öslem und Riza Aras Fragen zu ihren Leben in Deutschland. Foto: celina pohlmann
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Pohlmann, Selina

VON SELINA POHLMANN

Vöhl - Ein spannender Gesprächsnachmittag fand am Sonntag im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Facetten des Rassismus“ statt. Organisiert vom Förderkreis „Synagoge in Vöhl“ stand die dritte Staffel der Reihe unter der Überschrift „Wir und die anderen“; sie stellte die Frage, wie sich unsere Gesellschaft jenen gegenüber verhält, die nach Deutschland kommen.

Zahlreiche Gäste waren eingeladen, von ihrer Flucht oder Vertreibung zu berichten - sei es aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg oder der Gegenwart. Denn „es gab schon immer Konflikte im Zusammenhang mit Zuwanderung“, erklärte Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises.

Von den Gründen, die dazu führen das Heimatland zu verlassen, über den Fluchtweg, bis in zu der Aufnahme in Deutschland und der Frage nach gelungener Integration reichten die verschiedenen Geschichten. Sie verdeutlichten, wie vielfältig Migration ist. So kam Gerhard Stumpe aus Zierenberg 1945 als Vertriebener aus Gablonz im tschechischen Nordböhmen in einem Flüchtlingszug nach Herzhausen und dann nach Basdorf. Zwei seiner Schwestern wurden beim damaligen Bürgermeister untergebracht. Er selbst und seine Mutter mit zwei weiteren Geschwistern musste in einem neun Quadratmeter großen Zimmer leben, bis sie eine eigene Wohnung fanden. Trotz seiner bewegenden Vergangenheit, die geprägt ist von politischen Umbrüchen, Krieg und Vertreibung, habe er in Nordhessen eine neue Heimat gefunden. „Das ist mein Weg von meiner Heimat in eine neue Heimat gewesen“, sagte Stumpe.

Öslem und Riza Aras leben in Frankenberg. Sie kamen als Gastarbeiter aus dem türkischen Igdir nach Deutschland und erzählten von Problemen mit Sprachkursen und Arbeitsgenehmigungen.

Außerdem berichtete Richard Oppenheimer, der derzeit aus den USA in Bad Wildungen zu Gast ist, von seiner Mutter und Großmutter, die die Konzentrationslager der Nationalsozialisten überlebten und später in die USA emigrierten.

Auch Shams Haydari erzählte seine Geschichte. Er floh 2015 aus dem Iran und kam über Türkei und Balkanroute nach Deutschland. Den gleichen Weg nahmen die Kurdin Bayaza Rostom und der Syrer Essa Almohammad Alessa in den Jahren danach. Khadar Mahammed Dahirfloh 2016 aus Äthiopien über die Sahara, das Mittelmeer und Italien.

Jeanette Küpfer hatte ebenfalls eine beeindruckende Geschichte zu erzählen. Sie floh als einjähriges Kleinkind mit Eltern und Geschwistern nach Shanghai, lebte dort 14 Jahre und emigrierte dann zunächst nach Italien, bevor ihr Weg später nach Deutschland führte. Die Lebensberichte wurden mit Bildern aus der Heimat der Migranten und mit Karten der Fluchtrouten unterlegt. Herbert Keim (Frankenberg) und Karl-Heinz Stadtler moderierten und führten die Gespräche.

 
 
Gelingt Integration im Landkreis?
Diskussion in der Vöhler Henkelhalle: (von links) Karl-Heinz Bastet, Latif Al-Homssi, Majd Ajam, Ursula Müller, Kilian Emde, Änne Vetterlein, Gerhard Gottmann, Johannes Rabe und Amir Hourizad. Foto: Selina Pohlmann
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Pohlmann, Selina

VON SELINA POHLMANN

Vöhl - „Wir und die Anderen“ war der Titel: Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Facetten des Rassismus“ hat der Förderkreis Synagoge in Vöhl am Samstagnachmittag zu einem Markt der Möglichkeiten in die Henkelhalle eingeladen. Bei Kaffee und Kuchen tauschten sich die Besucher über die Themen Flucht und Integration aus, bevor ein Rahmenprogramm dann das Thema vertiefte.

Bei einer Podiumsdiskussion diskutierten Karl-Heinz Bastet, Latif Al-Homssi, Majd Ajam, Kilian Emde, Änne Vetterlein, Gerhard Gottmann, Johannes Rabe und Amir Hourizad über die Frage, ob Integration in Waldeck-Frankenberg gelungen ist. Die Vertreter des Landkreises, Netzwerker, Ehrenamtler, Betreuer und Flüchtlinge selbst boten mit ihren verschiedenen Blickwinkeln einen „vielseitigen Blick auf die Situation“, so Moderatorin Ursula Müller.

Bei der Unterhaltung sollten aber nicht nur die guten Entwicklungen dargestellt werden, auch Verbesserungsvorschläge wurden vorgebracht. Kilian Emde, Fachdienstleiter Ausländerwesen des Landkreises, betonte, dass seit 2015 die größte Herausforderung gewesen sei, „in irgendeiner Weise für alle da sein zu wollen“. Dafür habe vor allem Personal für den hohen bürokratischen Aufwand gefehlt.

Majd Ajam kam 2015 aus Syrien nach Deutschland, studiert mittlerweile in Gießen und ist ausgebildeter Rettungssanitäter. Er habe zwar viel Hilfe erhalten und sei dafür mehr als dankbar, allerdings habe auch er eineinhalb Jahre auf die Genehmigung gewartet, andere hätten bis heute noch keine. Viele andere Asylbewerber hätten es schwer und würden es auch weiter schwer haben, wenn sie keinen direkten Kontakt zu Betreuern und zum Ausländeramt hätten.

Aus dem Publikum kam daraufhin die Frage nach der anderen Seite auf: Nach denen, die die Flüchtlinge aufnehmen. „Integration kann nur gelingen, wenn die Gesellschaft sich weiter aktiv engagiert“, sagte Johannes Rabe vom Jobcenter Korbach. Daher würden die Ehrenamtler, die sich für Toleranz und gegen Rassismus einsetzen eine schwere Last mit ihrer wichtigen Arbeit tragen.

Im Anschluss an die Diskussion wurde „Sarahs Flucht“ aufgeführt. In dem Theaterstück geht es um ein afghanisches Mädchen, das sechs Monate lang auf der Flucht war, mit dem Ziel, nach Deutschland zu kommen. Das Besondere: Das Stück handelt von der wahren Geschichte zweier Kinder, die bei dem Theaterstück selbst mitwirkten.

Die Kinder erzählten eindrücklich, welche Schwierigkeiten und traumatischen Ereignisse mit der Flucht einhergegangen waren. Angst, Gestank, Enge, Gefahr, Gewalt und Langeweile waren die schmerzhaftesten Dinge, an die sich die Kinder erinnerten. Als der Flüchtlingszug in Österreich von rechtsradikalen Demonstranten gestoppt wurde, erreichten diese Gefühle ihren Höhepunkt. Schließlich kam die Familie in einem Lager in Kassel an, heute lebt sie in Eppe.

Mit traditioneller Musik aus dem Iran des „Dilan Ensembles“ klang der Tag anschließend aus.

Bürokratische Hürde ist groß

 
 
Zeichen gesetzt gegen Antisemitismus
 
Facetten des Faschismus in Geschichte und Gegenwart: Vom Kinderbuchklassiker über die Aussteigerbeichte eines früheren Neonazis bis zu praktischen Handreichungen reichte die Bandbreite der präsentierten Texte in der Alten Synagoge. Foto: armin hennig
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Hennig, Armin

VON ARMIN HENNIG

Vöhl - Als Reaktion auf den Anschlag von Halle setzten Besucher in der Alten Synagoge Vöhl ein Zeichen. Sie lasen aus Klassikern der Literatur gegen den Antisemitismus und aus aktuellen Texten, die sich mit dem Phänomen des Rechtspopulismus auseinandersetzen. „Das Unsägliche geht leise über das Land“, dieses bedrohliche Fazit zog Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht „Früher Nachmittag“ über das neue Behagen der alten Nazi-Eliten im Nachkriegsdeutschland.

Barbara Küpfer hatte sich unter dem Eindruck des Anschlags auf die Synagoge von Halle für die schaurig-subtile Momentaufnahme mit überzeitlichen Momenten entschieden. Die Täter von einst spielen keine aktive Rolle mehr im politischen Leben, manche überholt geglaubte Einstellungen kommen wieder, „da eine immer kompliziertere und unübersichtlichere Welt die Regression auf den Nationalismus und das Vertraute begünstigt, erklärte Karl-Heinz Stadtler.

Ulrich Müller stellte in seiner Lesung aus einem im Spiegel erschienen Artikel dagegen die Techniken vor, mit denen rechtspopulistischen Einstellungen unter Kollegen oder Verwandten begegnet werden kann, ohne in eine Eskalationsspirale zu geraten. Die Bandbreite reichte von freundlichem, aber entschiedenen Widerspruch im persönlichen Gespräch bis zur Aufdeckung von Scheinzusammenhängen, bei denen ein Problem überhaupt nichts mit dem anderen zu tun hat. So etwa bei den Themen Obdachlosigkeit und der Versorgung von Asylsuchenden, da die Finanzierung der Bedürftigen aus ganz unterschiedlichen Etats stamme.

Die Schere zwischen Theorie und Praxis beziehungsweise persönlicher Überzeugung und unmittelbarer Konfrontation mit rechten Einstellungen im Alltag bestimmte die Diskussion. Denn alle Anwesenden waren in Beruf und Alltag mit Konstellationen konfrontiert worden, in denen es mit bloßem Widerspruch gegenüber Vorurteilen nicht immer getan war.

„Einem Schüler, der von einer populistischen Seite oder rechten Band verhetzt ist, kann man leicht widersprechen. Ein gestandener 60-Jähriger, der um seine gerade verstorbene Mutter trauert und dabei rassistische Überzeugungen äußert, ist hingegen schon ein schwierigerer Fall“, gab Pfarrer Eisenberg zu, der bei Musikwünschen zu Trauungen sehr genau hinsieht. Nach eingehender Prüfung des Textes hatte er das Liebeslied einer einschlägig verrufenen Band aber zugelassen.

 
 
Rassismus und Völkermord
Die Ausstellungen in der Vöhler Synagoge eröffneten am Sonntag Dr. Wolfgang Werner, Dr. Hartmut Wecker und Karl-Heinz Stadtler. Zu sehen sind Zeichnungen und Fotos. Foto: Selina Pohlmann
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Privat

VON SELINA POHLMANN

Vöhl - Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Facetten des Rassismus“ des Förderkreises Synagoge in Vöhl wurden am Sonntagvormittag zwei Ausstellungen zum Thema „Rassismus und Völkermord“ eröffnet. Dies ist das zweite Themengebiet, dem sich die Veranstaltungsreihe widmet.

In der ersten Staffel ging es um die Themen „Vernichtung und Auslese“, die dritte und letzte Staffel wird ab dem 1. November unter der Überschrift „Wir und die anderen“ stehen.

Der erste Vorsitzende des Fördervereins, Karl-Heinz Stadtler, eröffnete die Ausstellungen am Sonntag mit mahnenden Worten zu aktuellen Entwicklungen in Politik und Gesellschaft. „Rassismus ist ein Thema, das uns in letzter Zeit wieder sehr bewegt hat“, erklärte Stadtler.

Insgesamt zwölf Bilder des Künstlers Enric Rabasseda erzählen auf subtile Weise von Gewalt, Unterdrückung und Ausgrenzung.

Dr. Hartmut Wecker eröffnete die Ausstellung mit Gedanken zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Es sei angesichts der aktuellen Entwicklungen, besonders seit der Flüchtlingswelle im Jahr 2015 „nicht nur begrüßenswert, sondern notwendig“, dass sich der Förderverein mit dem Thema auseinandersetze. Weitere interessante Gedanken zu den einzelnen Zeichnungen gaben Bekannte Stimmen des Landkreises in Form von Kommentaren ab, die die Ausstellung nicht nur sehens-, sondern auch lesenswert machen.

Die zweite Ausstellung umfasst ebenfalls zwölf Werke, allerdings keine Zeichnungen, sondern analoge Schwarz-Weiß-Fotografien. Die Bilder des Fotografen Christoph Alexis Werner sind alle situativ entstanden, in den Jahren 2005 bis 2009, auf dem Gelände der Firma „Topf & Söhne“, kurz vor dem Abriss.

Das Unternehmen mit Sitz in Erfurt stellte die Verbrennungsöfen her, in denen in den Konzentrationslagern die Opfer des millionenfachen Völkermords verbrannt wurden. Dr. Wolfgang Werner eröffnete stellvertretend für seinen Sohn die Ausstellung in der Vöhler Synagoge und gab einen geschichtlichen Überblick zum Thema „Topf & Söhne“.

Die dritte Ausstellung, die sich Besucher momentan anschauen können, beschäftigt sich noch mit dem Thema aus der ersten Staffel „Vernichtung und Auslese“, genauer gesagt mit Eindrucken aus Gedenkstätte Hadamar, einer früheren Tötungsanstalt.

Bis zum 31. Oktober können die drei Ausstellungen in der Vöhler Synagoge noch besucht werden. Ergänzt wird das Programm durch Vorträge zum Thema Rassismus und Völkermord.

 
 
Wahre Zahlen noch nicht bekannt
Facetten des Rassismus: Robert Domes las in der Synagoge Vöhl aus seinem Buch „Nebel im August“ vor und sprach über die verschleierten Tötungen der Nationalsozialisten. Foto: Armin Hennig
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VON ARMIN HENNIG

Vöhl - Facetten des Rassismus: Im Rahmen dieser Reihe war Robert Domes nach seiner Lesung in der Korbacher Alten Landesschule (wir berichteten) auch in der Synagoge Vöhl zu Gast. Der Journalist und Autor ließ sich zu Beginn der Lesung aus seinem Roman „Nebel im August“ etwas Zeit und stieg direkt bei fehlerhaften Fakten über die Patientenmorde im Nationalsozialismus ein. Die wahren Zahlen der oft verschleierten Tötungen ließen sich nur anhand von individuellem Aktenstudium ermitteln, eine längst noch nicht abgeschlossene Arbeit.

Viele Jahre habe man sich nur auf die Aussage eines Experten aus den 1950er-Jahren verlassen, der den Anstieg der Sterblichkeit während des Zweiten Weltkriegs im Vergleich zu den Zahlen aus Friedenszeiten gesetzt habe.

Die Auswertungen im Opferbuch eines Angehörigen-Projekts aus Hartheim bei Linz habe aber ergeben, dass jede achte Familie einen Angehörigen im österreichischen Pendant zu Hadamar verloren habe. Mehrere Besucher der Lesung mit totgeschwiegenen Verwandten bestätigten durch ihre Anwesenheit - im Verhältnis zur Besucherzahl - wie durch ihre Aussagen den Eindruck des Autors.

Robert Domes, der inzwischen in Kaufbeuren-Irsee lebt, wo auch die Anstalt ihren Sitz hatte, in der Ernst Lossa zu Tode gebracht wurde, sprach dabei ganz offen darüber, wie er sich in seiner Naivität auf den Vorschlag des Psychiatrie-Reformers Michael von Cranachs einließ, die 20 Seiten der Akte von Ernst Lossa in ein Buch zu verwandeln. „Ich dachte, das ließe sich schnell machen, in einem halben Jahr oder so. Tatsächlich habe ich sechs Jahre gebraucht“, erzählte Domes vom Anfang seines Weges zur Romanbiografie auf Augenhöhe, mit der er der Täterperspektive der Akten entkommen war. Die Suche nach Zeitzeugen und überlebenden Angehörigen war nicht der einzige Grund. Die beiden überlebenden Schwestern seien zwar auf Anhieb freundlich gewesen, aber es habe einige Zeit gedauert, bis er das Vertrauen gewonnen habe. Eher zufällig sei der Jüngeren schließlich entschlüpft, dass ihre Familien zur Volksgruppe der „Jenischen“ gehöre, einer bis heute nicht anerkannten Minderheit, die unter Begriffen wie „Fahrendes Volk“ zusammengefasst wird.

Der Versuch, sich auf institutionellem Wege schlau zu machen, führte zunächst in eine Sackgasse. Der Zentalrat deutscher Sinti und Roma erklärte sich für nicht zuständig, da die Jenischen ethnisch nicht zu ihnen gehören würden.

Dass die Familie Lossa wegen der Tuberkulose Erkrankung von Mutter Anna den gewohnten Lebensrhythmus unterbrechen musste, und im Sommer in Augsburg eine Wohnung mieten musste, geriet zum Anfang der Tragödie. Denn als das Jugendamt feststellte, dass die schwer kranke Frau nicht angemessen für ihre Kinder sorgen konnte, kamen die Kinder in staatliche Fürsorge und von der NS-Bürokratie das Etikett „Zigeuner“ verpasst.

Zu den Facetten des Rassismus gehört sicher nicht nur die Reaktion des juristisch nicht zuständigen Zentralrats der deutschen Sinti und Roma. Die Jenischen sind bis heute keine anerkannte Minderheit mit entsprechenden Rechten.

 

Wie „Chanson auf Speed“
Rekordtempo: Juliette Brousset und ihre Mitstreiter hinterließen beim Publikum nachhaltigen Eindruck. Foto: armin hennig
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Hennig, Armin

VON ARMIN HENNIG

Vöhl - Die französische Begrüßung spielten Juliette Brousset und ihre musikalischen Mitstreiter im absoluten Rekordtempo ab. Die Gruppe „Moi et les autres“ vermittelte deshalb zum Auftakt des Auftritts in der Alten Synagoge den Eindruck „Chanson auf Speed“.

Auf den kurzen, aber intensiven Kulturschock, der eventuelle Befremdlichkeiten gleich auf die Spitze trieb, folgte die ironische Frage „Habt ihr auch alles verstanden?“, stellte die Sängerin dann ihre Band und das Programm ausführlich auf Deutsch vor. Anschließend nahm das Energiebündel sein Publikum als Chor bei einer Fahrt über die Seine gleich als staunenden Touristen-Chor mit ins Boot.

Der anschließend angestimmte Titelsong der Tour „Départ“ vermittelte die Aufbruchsstimmung zu neuen Ufern in einem raffinierten Stilmix aus Musette, Tango und Blues mit dem Akkordeon von Eric Dann als transatlantischer Brücke von Paris nach Buenos Aires und ins Mississippi-Delta, dessen musikalischer Strom sich mit typischen Seine-Klängen eine selten gehörte Synthese bildete.

„Riviere“, das anschließend den Fluss des Lebens beschrieb, bildete als klassicher Bossa Nova den Kontrast mit dankbaren Solo-Aufgaben für Bassist Dirk Kunz und Gitarrist David Heinz. Letzterer spielte auch im rockigen „Métro“ eine Hauptrolle, diese vielschichtige Symphonie der Großstadt mit positiver Hektik und Schüben von Panik geriet zum Höhepunkt der ersten Hälfte des Konzerts.

Eine Steigerung in Sachen Intensität bot nur noch „Sel“, die Umsetzung einer aus der Not geborenen Reise über das Mittelmeer, die im nassen Element und dem Untergang im Salzwasser ihr Ende findet. Im atmosphärischen Seestück bildeten die Instrumentalisten die wechselnde Charakteristik der Wellen und die Reaktionen auf das immer bedrohlichere Szenario ab, das in Juliette Broussets Aufschrei „Sel“ gipfelte.

Die gescheiterte Flucht aus Afrika bildete gewissermaßen das Gegenstück zum zuletzt erfolgreich bewältigten persönlichen Aufbruch von Mannheim nach Berlin, dem autobiografischen Kern des jüngsten Streichs „Départ“. Im zweiten Teil erfreuten „Moi et les autres“ die Freunde des klassischen Chansons auch mit einem Rückblick auf die Evolution der Band.

 
 
 Facetten des Rassismus
Die Ausstellung „Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke“ wurde in der Vöhler Synagoge eröffnet. Foto: Armin Hennig
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Hennig, Armin

VON ARMIN HENNIG

Vöhl - Am ersten September jährten sich gleich zwei Verbrechen des Nationalsozialismus: der Beginn des Zweiten Weltkriegs und das Euthanasie-Programm T4. Die Methoden zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ fungierten als Vorlauf zur Massenvernichtung der Juden.

Die alte Synagoge in Vöhl nahm das historisch belastete Doppeldatum zum Anlass, die Ausstellung „Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke“ erneut der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Eröffnung der Ausstellung fungierte zugleich als Start der 101-teiligen Veranstaltungsreihe „Facetten des Rassismus“, die in der Synagoge stattfindet.

In seiner Begrüßungsansprache erwähnte Karl-Heinz Stadtler seine Lektüre von Uwe Timms „Ikarien“ als Ausgangspunkt. Der Großvater seiner Frau war Eugenik-Papst Eugen Ploetz, auf dessen Theorien auch jene Elemente der Nazi-Ideologie aufbauten, die Vernichtung von als minderwertig angesehenen Menschen und Rassen zum methodisch durchgeführten Projekt erhoben hatten.

Dem in zahlreiche Lebensreform-Projekte und wissenschaftlichen Untersuchungen des frühen 20. Jahrhunderts eingebauten Rassegedanken erteilte Stadtler eine klare Absage: „Alle Menschen, egal welcher Hautfarbe, haben dieselben Emotionen, nur die Äußerungen sind der jeweiligen Kultur verpflichtet, das hat die Erforschung der menschlichen DNA gezeigt.“

In diesem Zusammenhang warnten Stadtler, der Vöhler Bürgermeister Matthias Stappert sowie die Referenten Dr. Wilhelm Völcker-Janssen und Dr. Georg Lilienthal vor den aktuellen pränatalen Eugenik-Tendenzen, die wieder mit dem Anspruch des Fortschritts und der Verbesserung der Menschheit unterwegs seien.

Ebenso einig waren sich sämtliche Redner beim Blick auf die politische Entwicklung seit der ersten Ausstellung zum Krankenmord im Nationalsozialismus in der Synagoge. Vor zehn Jahren sei es kaum vorstellbar gewesen, dass die größte Oppositionspartei im Bundestag aktive Holocaustleugner in ihren Reihen haben oder dulden könnte.

In der abschließenden Choreographie „Selektion“ stellte die Theatergruppe der Lebenshilfe gängige Vorurteile gegen Menschen mit Behinderungen sowie den Druck der Mehrheit dar, die zur letztendlich letalen Selektion führten.

 
 
„Ziehe meinen Hut vor euch“
Sie waren als Landkulturboten in der Synagoge Vöhl im Einsatz: (von links) Laura Evers, Josephine Kowalczyk, Celina Henkler, Kira Gräbe, Emily Henkler und Leo Wilden. Foto: renner
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Renner, Julia

VON JULIA RENNER

Vöhl - Sie haben mit dafür gesorgt, dass die Arbeit des Förderkreises der Synagoge Vöhl auch über die Grenzen Waldeck-Frankenbergs hinaus bekannter wird: Sechs Schüler von ALS und Ederseeschule. Sie waren beim zweiten Durchlauf des Projekts Landkulturboten dabei.

Während der Sommerferien haben Laura Evers, Josephine Kowalczyk, Celina Henkler, Kira Gräbe, Emily Henkler und Leo Wilden jeweils zwei Wochen lang Besucher durch die Vöhler Synagoge geführt, ihnen das Gebäude und die jüdische Kultur Vöhls näher gebracht - und nebenbei an eigenen Projekten gearbeitet. Diese stellten sie zum Abschluss des Landkulturbotenprojekts jetzt vor.

Mit dem Leben jüdischer Kinder und Jugendlicher im Nationalsozialismus haben sich die Schüler ebenso beschäftigt wie mit den Themen „Juden in Basdorf“ und mit jüdischen Gottesdiensten. In zehnminütigen Präsentationen fassten sie ihre Ergebnisse in Präsentationen in der Vöhler Synagoge zusammen.

Der Kulturtourismus im ländlichen Raum werde oft unterschätzt, sagte Daniel Teppe von der Grimmheimat Nordhessen, die das Projekt mittlerweile federführend leitet. „Wir wollen mit dem Projekt auch darauf aufmerksam machen, dass wir nicht nur eine Urlaubsregion sind, sondern dass man hier auch gut leben kann. Das tragen die Kulturboten nach außen“, so Teppe.

Kreisbeigeordnete Hannelore Behle freute sich, dass das Beispiel der Vöhler Synagoge, die im vergangenen Jahr Vorreiter mit dem Projekt waren, Schule gemacht habe. Kultur und Tourismus im ländlichen Raum würden durch die Landkulturboten gestärkt. Der Landkreis sei sich des Potenzials bewusst, daher habe man das Projekt durch das „Netzwerk für Toleranz“ auch finanziell unterstützt. „Vöhler Saat ist auf guten Boden gefallen“, so Behle. Denn im kommenden Jahr wächst das Projekt weiter: In diesem Jahr sind in Nordhessen 18 Landkulturboten dabei, im kommenden werden es 36 sein. Reinhard Metka, Erster Beigeordneter der Gemeinde Vöhl, lobte den Mut der jungen Menschen, den besonderen Ferienjob anzutreten: „Ich ziehe meinen Hut vor euch.“

Auch in 2020 werde die Finanzierung vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft übernommen, sagte Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises. Wie es danach weitergehe, sei aber noch nicht klar. Der Förderkreis sei jedenfalls „begeistert“ von den Landkulturboten - und hofft auf eine Fortsetzung in den kommenden Jahren.

Die Schüler haben in der Zeit „viel gelernt“, sagte Kira Gräbe. Besonders deutlich sei geworden: „So etwas darf sich in der Geschichte niemals wiederholen.“

 

Vorträge, Lesungen, Ausstellungen, Filme und Musik bis Dezember in Vöhler Synagoge

Auftakt für große Reihe "Facetten des Rassismus"

Start für Veranstaltungsreihe: Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises der Synagoge, wirbt für die Reihe „Facetten des Rassismus“.

Vöhl – „Facetten des Rassismus“ heißt die größte Veranstaltungsreihe, die der Förderkreis der Synagoge Vöhl je gestemmt hat. Ausstellungen, Lesungen, Filme, Vorträge, ein Konzert und einen „Markt der Möglichkeiten“ gibt es. Auftakt ist am Sonntag.

Eine der Besonderheiten Reihe: Der Eintritt ist – abgesehen vom Konzert – bei allen Angeboten frei. Die Veranstaltungen im Überblick.

Sonntag, 1. September, 10 Uhr: Ausstellung „Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke...“. Dr. Wilhelm Völcker-Janssen führt ein, Dr. Georg Lilienthal referiert zu „Krankenmord im Nationalsozialismus“. Die Theatergruppe des Lebenshilfe-Werks wirkt mit.

Samstag, 7. September, 17 Uhr: Eröffnung der Ausstellungen „Bäume, Schienen, Zäune. Ein Versuch, das Gesehene auf dem Gelände der Gedenkstätte Buchenwald künstlerischen Mitteln zu verarbeiten“ vom Lebenshilfe-Werk Weimar-Apolda sowie „Die Gedenkstätte in der früheren Tötungsanstalt Hadamar“ mit Dr. Wolfgang Werner. Sonntag, 8. September, 14 bis 17 Uhr: Offene Synagoge.

 
 Auftakt Facetten II
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Autor Robert Domes liest in der Synagoge

Dienstag, 10. September, 19 Uhr: Kino mit Spielfilm zum Thema; Donnerstag, 12. September, 19 Uhr: Lesung mit Autor Robert Domes aus „Nebel im August“ (Kooperation mit Alter Landesschule und Thalia in Korbach). Donnerstag, 19. September, 19 Uhr: Vortrag mit Dr. Georg Lilienthal „Lebensborn-Kinder. Die letzten Opfer der SS“; zudem Gespräch mit Lebensborn-Kind Adolf Kopp aus Asel, der seine Eltern nicht kennt. Donnerstag, 26. September, 19 Uhr: Katharina Oehl referiert unter dem Titel „Auf der Suche nach der eigenen Identität. Die gewaltsame Eindeutschung polnisch-deutscher Kinder.“

2. Staffel

Freitag, 4. Oktober, 19 Uhr: Vortrag mit Ruth Piro-Klein „Krankenpflege im Nationalsozialismus“. Sonntag, 6. Oktober, 10 Uhr: Eröffnung der Ausstellungen „Zeichnungen von Enric Rabasseda über Faschismus, Krieg und die Hintergründe“, Einführung von Dr. Hartmut Wecker sowie „Ehemaliges Firmengelände J.A. Topf & Söhne Erfurt“ mit der Einführung von Alexis Werner. Montag, 7. Oktober, 19 Uhr: Rebekka Schubert „J.A. Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz“, Vortrag.

Sonntag, 13. Oktober, 14 bis 17 Uhr: Offene Synagoge. Donnerstag, 17. Oktober, 19 Uhr: Vortrag von Dr. Udo Engbring-Romang „Die Diskriminierung und Verfolgung von Sinti und Roma im 20. Jahrhundert“ (in Zusammenarbeit mit der VHS). Sonntag, 20. Oktober, 19 Uhr: Karl-Heinz Stadtler, „Belzec, Sobibor, Treblinka – Die vergessenen Mordlager im Holocaust. Ein Reisebericht“. Donnerstag, 24. Oktober, 19 Uhr: Dr. Christoph Franke über medizinische Experimente und die Rolle der Behringwerke bei Menschenversuchen im KZ Buchenwald.

3. Staffel

Freitag, 1. November, 18 Uhr: Ausstellung von Pro Asyl „Menschen und Rechte sind unteilbar“; um 20 Uhr Konzert „Migrantig“ mit Andrea Pancur, Hansjörg Gehring und Ian Chapman (Karten 15 Euro, beides in der Henkelhalle). Samstag, 2. November, 14 bis 19 Uhr: Markt der Möglichkeiten in der Henkelhalle mit Musik, Lesungen, Kurzfilmen. Sonntag, 3. November, 14 bis 18 Uhr: Migranten berichten in der Henkelhalle über Flucht und Heimat.

 Auftakt Facetten III
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Gedenken in der Vöhler Synagoge.

Samstag, 9. November, 19.30 Uhr: Gedenken zum Pogrom in der Martinskirche, 20 Uhr Gedenkfeier in der Synagoge. Sonntag, 17. November, 14 bis 17 Uhr: Offene Synagoge. Donnerstag, 21. November, 19 Uhr: Vortrag mit Jana Bonn „Antisemitismus – Struktur und aktuelle Ausformungen“. Sonntag, 1. Dezember, 15 Uhr: Eva-Kathrein Hack über „Mischlingskinder“ im Nachkriegs-Asel. Sonntag, 8. Dezember, 14 bis 17 Uhr: Offene Synagoge. Dienstag, 10. Dezember, 19 Uhr: Multimedialer Abend über den Buchenwald-Überlebenden Stéphane Hessel (mit Arolsen Archives).

Infos über die Synagoge und den Förderkreis gibt es hier.

 
 Musikalische Lebensfreude
 
Das Quartett „Kata y Co“ gab in der Alten Synagoge in Vöhl ein beschwingtes Konzert voll lateinamerikanischer Lebensfreude. Foto: Armin Hennig
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Hennig, Armin

VON ARMIN HENNIG

Vöhl - Für die Gruppe „Kata y Co“ und das Programm „Summer Samba“ wich die Alte Synagoge in Vöhl von der Routine der Sommerpause ab. Zur Freude sämtlicher Zuhörer, die ein beschwingtes Konzert voll lateinamerikanischer Lebensfreude erlebten, hinter der sich oft auch Trauer verbirgt.

Bassist Henry Altmann legte nicht nur am siebensaitigen Bass das rhythmische Fundament. Mit profundem Wissen und heiteren Histörchen vermittelte der musikalische Kopf des Projekts rund 50 Jahre Bossa Nova, Samba und Tango und die oft tragikomischen Umstände der Entstehung.

Schon das Eröffnungsstück „A Felicitade“ aus Orfeu negro erwies sich als unmittelbar wirksame Einstimmung in das Lebensgefühl des Bossa nova. Dieses lässt sich mit dem Paradoxon zusammenfassen: „Je schlechter es mir geht, desto heiterer gebe ich mich.“ Nach tiefer schwermütiger Introduktion mit Morgenstimmung von Bass und Cello schaltete die Band auf extrem lebhaften Bossa Nova um, dessen hellen Tönen aber jegliche Bodenhaftung fehlte. Erst das Finale bot rhythmisch geerdete Lebensfreude mit sattem Sound.

Weitere Kompositionen von Antonio Carlos Jobim bildeten den roten Faden, um die sich Werke von musikalischen Mitstreitern mit Joao Gilberto rankten. Der Gitarrist hatte den einzigartigen Rhythmus während seines zwei Jahre andauernden Asyls im Badezimmer der Schwester entwickelt. Das Zusammenwirken der Glocken mit dem Klatschen der Waschfrauen hatte zur Initialzündung in „Bim Bom“ geführt. Das in sämtlichen Klangfarben schillernde Wechselspiel von Cello, Bass, Piano mit der Alt-Stimme von Katharina Mais Mezzo geriet zum eindrucksvollen Höhepunkt des Konzerts, das die Zuhörer mit zahlreichen Spielarten und der Vorgeschichte der Songs vertraut machte.

Bei „Insensatez“ für das sich Jobim von Fryderyk Chopins c-moll Polonaise inspirieren ließ, integrierte das Quartett die Vorlage als Glanzpunkt für Martin Alexander Terens in die Ballade für Bossa Nova. Cellist Adranik Sargasyan verzauberte die Zuhörer immer wieder mit atmosphärisch gestrichenen Eröffnungen und tänzerisch gezupften Pizzicati bei der Begleitung des Gesangs von Katharina Mai, die ihre Opernausbildung auch bei der mimischen Umsetzung des lyrischen Gehalts einsetzte und die Geschichte im Gesichtsausdruck erzählte.

In Astor Piazzollas komplexem Tango Melodram „La Bicycletta blanca“ übernahm sie noch die Rolle der Rezitatorin der existenzialistischen Aktualisierung des Neuen Testaments, deren musikalische Umsetzung die volle Aufmerksamkeit von Mitspielern wie Zuhörern abverlangte. Das vollkommen beeindruckte Publikum sparte denn auch nicht mit Beifall.

Schillerndes

Wechselspiel

Viel Beifall für

gelungenen Auftritt

 
„Normale Menschen, so wie wir“
Memory mit Bildern aus der Synagoge spielten die Kinder.
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Renner, Julia

VON JULIA RENNER

Vöhl - Wie vermittelt man Kindern die Gräueltaten des Nationalsozialismus? Die Landkulturboten in der Vöhler Synagoge stellen sich auch dieser Aufgabe. Während des besonderen Ferienjobs hatten Celina Henkler und Leo Wilden am Montag Besuch aus dem Vöhler Kindergarten.

„Wisst ihr denn, was eine Synagoge ist?“, wollte Leo Wilden von den Mädchen und Jungen wissen. „Eine Kirche“, ruft eines der Mädchen im Stuhlkreis. Henkler und Wilden, beide 15 Jahre alt, erklären den Kindern den jüdischen Glauben und die Judenverfolgung mit einfachen Worten. „Sie waren normale Menschen, so wie wir auch, aber manche mochten sie nicht und brachten sie deshalb weg.“ Die Drei- bis Sechsjährigen hören aufmerksam zu.

„Mit Zahlen können die Kinder nicht viel anfangen“, war sich Leo Wilden zuvor bereits sicher. Mit Celina Henkler hat er deshalb nicht nur einen lockeren Stuhlraum aufgebaut, sondern auch ein Memory-Spiel vorbereitet. Die beiden Ferienjobber haben dafür Gegenstände aus der Synagoge fotografiert. Mit diesen gehen die Kleinen im Anschluss noch durch das ehemalige jüdische Gotteshaus. Sie sollen einige dieser Gegenstände finden. Wer etwas entdeckte, bekam eine kleine Leckerei. „Das spielerische Element ist wichtig“, sagt Wilden.

Zusammen mit den 21 Kindern ist auch Kindergartenleiterin Marion Fichtenau in die Synagoge gekommen. Wilden hatte bei ihr angefragt, ob sie nicht einmal mit einer Klasse zu einer Führung kommen wolle. Sie sagte spontan zu, bereits im vergangenen Jahr war sie mit einer Gruppe zum Besuch in der Synagoge.

Auch jüngeren Kindern könne man diesen Teil der deutschen Geschichte näher bringen, findet sie. „Kinder können gut unterscheiden zwischen Gut und Böse“, sagt sie. „Man kann ihnen vermitteln, dass jeder seinen Platz hat. Niemand ist besser oder schlechter als jemand anders.“ In kleiner Runde fragt sie ein paar Mädchen und Jungen: „Darf man einfach in eine Kirche gehen und alles kaputt hauen?“ Die Antwort der Kinder ist eindeutig: „Nein!“

Jeweils zwei Wochen sind stets zwei Landkulturboten in der Synagoge, unter anderem, um in der Ferienzeit Führungen anzubieten. Montags bis freitags, zwischen 9 und 12 sowie von 13 bis 16 Uhr stehen die Türen für Besucher offen. Auch an weiteren Projekten arbeiten die Kulturboten während des Ferienjobs. So erstellt Celina Henkler eine Präsentation über jüdische Familien in ihrem Wohnort Basdorf, während Leo Wilden tiefer in das Thema Euthanasie einsteigt. Zum Abschluss des Landkulturbotenprojekts werden die Arbeiten vorgestellt.

Für die beiden Schüler ein spannender Ferienjob, bei dem sie selbst noch viel lernen, erzählen sie. Den Nationalsozialismus mache man sich durch die Arbeit noch einmal ganz anders bewusst, sagt Leo Wilden.

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Renner, Julia

Ausstellungen, Vorträge, Konzerte, Lesungen von September bis Dezember

Reihe zu „Facetten des Rassismus“ in Vöhler Synagoge

Ein Foto, das um die Welt ging: Bürgerrechtlerin Rose Parks wurde 1955 in den USA in Haft genommen, weil sie im Bus auf einem Platz saß, der Weißen vorbehalten war. Das Foto ist Teil der Ausstellung von „Pro Asyl“ in der Henkelhalle.

Vöhl – Sechs Ausstellungen, 16 Vorträge, ein Konzert, eine Autorenlesung, Filme und eine Diskussionsrunde: Erstmals stemmt der Förderkreis der Synagoge Vöhl eine Veranstaltungsreihe.

Vom 1. September bis 10. Dezember steht alles unter dem Titel „Facetten des Rassismus“.

Eingeteilt in drei Staffeln gibt es an insgesamt 22 Tagen ein umfangreiches Programm. „Vernichtung und Auslese“, „Rassismus und Völkermord“ sowie „Wir und die Anderen“ sind die Staffeln überschrieben. „Und wir haben uns bei der Planung nicht vorstellen können, dass das Thema Rassismus jetzt so brisant ist“, sagte Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises der Synagoge, in Anspielung auf den Fall des ermordeten Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke.

Die Reihe will dafür Sorge tragen, dass sich möglichst viele Menschen mit dem Thema Rassismus und dessen Facetten auseinandersetzen und das in die Öffentlichkeit tragen. Auch Vöhls Bürgermeister Matthias Stappert betonte: „Rassismus hat viele Formen.“ Das Thema habe nichts von seiner Aktualität verloren, historische und aktuelle Aspekte würden in der Reihe beleuchtet.

Diskussion über Integration im Landkreis

Umgesetzt wird die Veranstaltungsreihe in Regie des Förderkreises der Synagoge, aber unterstützt von einigen Partnern. Neben der Gemeinde Vöhl, die zehn Prozent der Kosten übernimmt, sind der Landkreis, das Netzwerk für Toleranz, Arolsen Archives, die Kreisvolkshochschule (VHS) Waldeck-Frankenberg und die Landeszentrale für politische Bildung als Sponsoren dabei, gestalten aber auch einige Programmpunkte mit.

Ein Höhepunkt der Reihe ist das Wochenende vom 1. bis 3. November. In der Henkelhalle Vöhl – alle anderen Veranstaltungen finden in der Synagoge statt – gibt es dann eine Ausstellung mit Plakaten der Organisation Pro Asyl, aber auch ein Konzert und einen Markt der Möglichkeiten.

Diskutiert wird mit mehreren Gesprächspartnern zudem die Frage, ob die Integration im Landkreis gelungen ist. Auch Flüchtlinge werden an diesem Wochenende zu Wort kommen und von ihren Erfahrungen der Flucht und in der neuen Heimat berichten. 

Die Höhepunkte der Reihe:

September

Sonntag, 1. September, 10 Uhr: Eröffnung der Ausstellung „Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke...“; Dr. Wilhelm Völcker-Janssen und Dr. Georg Lilienthal referieren zur Entstehung der Ausstellung und zu Krankenmorden in der NS-Zeit. Die Theatergruppe der Lebenshilfe wirkt an der Vernissage mit.

Samstag, 7. September, 17 Uhr: Eröffnung der Ausstellung „Bäume, Schienen, Zäune. Ein Versuch, das Geschehene auf dem Gelände der Gedenkstätte Buchenwald mit künstlerischen Mitteln zu verarbeiten“ der Lebenshilfe Weimar-Apolda sowie der Ausstellung „Die Gedenkstätte in der früheren Tötungsanstalt Hadamar, in die Dr. Wolfgang Werner einführt.

 Facetten II
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Autor Robert Domes

Donnerstag, 12. September, 19 Uhr: Autorenlesung mit Robert Domes aus „Nebel im August“; Kooperation mit der Alten Landesschule und der Thalia-Buchhandlung Korbach.

Donnerstag, 19. September, 19 Uhr: Vortrag von Dr. Georg Lilienthal, „Lebensborn-Kinder. Die letzten Opfer der SS. Ungeliebt, verleugnet, nicht anerkannt.“ Und Gespräch mit Adolf Kopp, einem Lebensborn-Kind.

Donnerstag, 26. September, 19 Uhr: Vortrag von Katharina Oehl, „Auf der Suche nach der eigenen Identität: Die gewaltsame Eindeutschung polnisch-deutscher Kinder“.

Oktober

Sonntag, 6. Oktober, 10 Uhr: Eröffnung der Ausstellungen „Zeichnungen von Enric Rabasseda über Faschismus, Krieg und die Hintergründe“ (Einführung Dr. Hartmut Wecker) und „Ehemaliges Firmengelände J.A. Topf & Söhne Erfurt – Eine fotografische Dokumentation“ (Einführung Alexis Werner). 

Donnerstag, 17. Oktober, 19 Uhr: Vortrag Dr. Udo Engbring-Romang, „Die Macht der Vorurteile. Die Diskriminierung und Verfolgung von Sinti und Roma im 20. Jahrhundert; in Kooperation mit der VHS.

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Organisatoren und Partner der Veranstaltungsreihe

Donnerstag, 24. Oktober, 19 Uhr: Vortrag von Dr. Christoph Franke, „Medizinische Experimente zur Erprobung von Seren und Impfstoffen. Die Rolle der Behringwerke bei Menschenversuchen im KZ Buchenwald“.

November

Freitag, 1. November, 18 Uhr: Eröffnung der Ausstellung „Asyl ist Menschenrecht“ in der Henkelhalle, ab 20 Uhr Konzert „Migrantig“ mit Andrea Pancur, Hansjörg Gehring und Ian Chapman (Eintritt 15 Euro). 

Samstag, 2. November, 14 bis 19 Uhr: Markt der Möglichkeiten unter anderem mit Thementischen, Mitmachangeboten, moderierter Diskussion, Musik, Kurzfilmen und Lesungen in der Henkelhalle. 

Sonntag, 3. November, 14 bis 18 Uhr: Migranten berichten in der Henkelhalle über ihre Flucht, die neue Heimat und Begegnungen.

Dezember

Sonntag, 1. Dezember, 15 Uhr: Vortrag mit Eva-Katharina Hack, „Mischlingskinder im Nachkriegs-Asel – Das Albert-Schweitzer-Kinderheim des Ehepaars Dilloo“. 

Dienstag, 10. Dezember, 19 Uhr: Multimedialer Abend rund um den Buchenwald-Überlebenden Stéphane Hessel; gestaltet von Arolsen Archives.

Das vollständige Programm steht demnächst auf der Internetseite des Förderkreises zur Verfügung.

Projekt in ehemaliger Vöhler Synagoge läuft bereits zum zweiten Mal

Besonderer Ferienjob: Sechs Schüler sind Landkulturboten

Das ist ein Ferienjob der besonderen Art. Die Landkulturboten der alten Vöhler Synagoge: (von links) Celina Henkler, Emily Henkler, Josephine Kowalczyk, Leo Wilden, Laura Evers und Kira Gräbe. 

Vöhl – Sechs Schüler von Ederseeschule und Alter Landesschule (ALS) werden in den Ferien in der Vöhler Synagoge arbeiten. Die 15- und 16-Jährigen werden so zu Landkulturboten.

Im vergangenen Jahr gab es das Projekt erstmals in dem jüdischen Gotteshaus, auch damals waren sechs Schüler dabei. Nun die Neuauflage und das auch gleich in größerem Rahmen: Dieses Mal ist auch die Grimmheimat Nordhessen eingebunden, in insgesamt drei Einrichtungen werden junge Menschen als Kulturboten arbeiten. Neben der Synagoge wird es noch Ferienjobber auf der Krukenburg in Bad Karlshafen-Helmarshausen geben und im Generationenhaus Bahnhof Hümme.

„Der Förderkreis der Synagoge war der Pionier im vergangenen Jahr“, sagte Daniel Teppe von der Grimmheimat bei der Vorstellung des Projekts in der Synagoge. „Und es lief hier sehr erfolgreich.“ Mit dem Projekt solle nicht nur der Tourismus, sondern auch die Kultur in der Region gestärkt werden. 

 

Zudem sei ein Ziel, junge Menschen für ihre Heimat zu begeistern. Im kommenden Jahr werden, kündigte er an, drei weitere Einrichtungen hinzu kommen, dann würden 36 Schüler als Kulturbotschafter arbeiten. In diesem Jahr sind es 18.

Je zwei Wochen im Dienst

Die Ferienjobber von der Ederseeschule in Herzhausen sind Josephine Kowalczyk (16), Celina Henkler (15) und Laura Evers (15), von der Alten Landesschule Emily Henkler (15), Kira Gräbe (16) und Leo Wilden (15). Die Beweggründe für die Schüler, den Ferienjob anzutreten, sind unterschiedlich. „Ich möchte der Gemeinde mehr über die Juden der Gemeinde erzählen“, sagte Celina Henkler. Kira Gräbe will ihre Heimat selbst genauer kennenlernen und Leo Wilden interessiert sich für die Geschichte(n) und Ereignisse, die sich in der Synagoge zugetragen haben. Für je zwei Wochen sind die Schüler von Montag bis Freitag im Dienst.

„Das ist ein Ferienjob der besonderen Art, den nicht jeder machen will und nicht jeder machen kann“, sagte Bürgermeister Matthias Stappert. Die sechs Schüler würden dafür das nötige Verantwortungsbewusstsein mitbringen. Die ehemalige Synagoge sei nicht nur für die Gemeinde wichtig, sondern für die gesamte Region.

Finanziert vom Bund

„Das Leben auf dem Land ist lebenswert, auch hier gibt es Kultur. Und das sollen die Boten erleben und nach außen zeigen“, sagte Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises. Zugleich sollen Toleranz und Demokratie vermittelt werden. Auch in den kommenden Jahren solle das Projekt Landkulturboten fortgesetzt werden.

Finanziert wird das Projekt der Kulturboten in diesem Jahr vollständig vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Im vergangenen Jahr wurde es in Vöhl durch Sponsoren getragen. Für die je zwei Wochen, die die Schüler im Job sind, bekommen sie zehn Euro pro Stunde. Die Grimmheimat Nordhessen stellt für diese Zeit zudem Tablets zur Verfügung, mit denen sie arbeiten können. Vor allem Social-Media-Kanäle wie Facebook sollen auf diesem Weg von den Schülern betreut werden.

Erstmals seit mehr als 80 Jahren wieder jüdischer Gottesdienst gefeiert

20 Jahre Förderkreis Synagoge: „Das sucht seinesgleichen“

Besondere Besucher: Camille Calman und Elizabeth Foote (von links) aus Salt Lake City in den USA, und Daniel und Jeffrey Baird (zweite Reihe von rechts), ebenfalls aus Amerika. Den jüdischen Gottesdienst leiteten Amnon Orbach (vorne Mitte) und Thorsten Schmermund (hinten mit Brille).

Vöhl – Mit dem ersten jüdischen Gottesdienst seit über 80 Jahren und einem Kommers wurde der 20. Geburtstag des Förderkreises der Synagoge Vöhl gefeiert. Angereist waren auch Gäste aus den USA.

„Dieser Abend wird mir lange in Erinnerung bleiben. Nach diesem beeindruckenden Gottesdienst fehlen mir fast die Worte“, sagte Petra Hegmann, Dekanin des Kirchenkreises Eder. So wie ihr erging es den meisten Besuchern des jüdischen Gottesdienstes in der ehemaligen Synagoge.

Ermöglicht hatten ihn Mitglieder der jüdischen Gemeinde aus Marburg. 18 Mitglieder, unter ihnen Amnon Orbach als Vorsitzender der Gemeinde, waren nach Vöhl gekommen, Thorsten Schmermund leitete den Gottesdienst.

Viele Redner nutzten im Anschluss die Gelegenheit, dem Förderkreis für seine wichtige Arbeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu danken. Der Verein sei nicht mit anderen vergleichbar, sagte Bürgermeister Matthias Stappert.

 20 Jahre II
Für Musik beim Kommers sorgten Barbara Küpfer (rechts) und ihre Musikschülerinnen.

Dass das Gemeindeparlament seinerzeit gegen den Kauf der alten Synagoge stimmte, sei am Ende gut gewesen. So sei der Förderkreis entstanden, der wichtige Aufgaben besser erfülle, als es die Gemeinde je gekonnt hätte. Der langjährige und bereits verstorbene Kurt-Willi Julius und der amtierende Vorsitzende Karl-Heinz Stadtler seien die „Motoren des Vereins“. Sie hätten die Synagoge über die Grenzen der Region hinaus bekannt gemacht. „Was hier stattfindet, ist Versöhnung“, sagte Stappert.

Erhard Wagner, Mitglied des Kreisausschusses, lobte: „Was hier in 20 Jahren organisiert wurde, sucht seinesgleichen.“ Die Nähe zwischen Förderkreis und evangelischer Kirche betonte Pfarrer Jan Friedrich Eisenberg. Es sei erstaunlich, was der Förderkreis auf die Beine stelle. Zu weiteren Gratulanten zählten auch Ernst Klein, Vorsitzender des Vereins Rückblende in Volkmarsen, und Dr. Gunnar Richter von der Landesarbeitsgemeinschaft Hessische Gedenkstätten.

Karl-Heinz Stadtler blickte zurück auf 162 Konzerte, die bisher stattfanden, berichtete davon, dass in 20 Jahren rund 400 000 Euro in die alte Synagoge investiert wurden und erinnerte seinerseits an Kurt-Willi Julius, der ein „Glücksfall“ für den Förderkreis gewesen sei. Und er mahnte: „Jeder von uns muss sich auch heute immer wieder vornehmen, nicht wegzuschauen.“ 

Nachforschungen über die Familie

Sichtlich bewegt war Elizabeth Foote, eine Nachkommin der Vöhler Familie Rothschild. Gut 15 Jahre stand sie zwar schon mit Karl-Heinz Stadtler, dem Vorsitzenden des Förderkreises, per Mail in Kontakt. Doch jetzt war sie erstmals selbst in Vöhl auf den Spuren ihrer Familie unterwegs.

Aus Salt Lake City im us-amerikanischen Utah war sie zusammen mit Camille Calman gekommen, auch sie stammt von der Familie Rothschild ab. Schon ihre Mutter habe 1977 mit Nachforschungen begonnen, um mehr über die Familie zu erfahren, berichtete Elizabeth Foote. 2004 sei sie selbst dann auf die Internetseite des Förderkreises gestoßen.

 20 Jahre III
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Die ehemalige Synagoge in Vöhl

Mehrere Nachfahren der Familie Rothschild habe sie mittlerweile gefunden. Der Besuch in Vöhl „war für Camille und mich ein Traum“, sagte sie. Sie dankte dem Förderkreis mehrfach für die wichtige Arbeit, die er übernehme. Ein Exemplar des Buchs zur Familiengeschichte, an dem Foote derzeit arbeitet, will sie dem Förderkreis nach Fertigstellung zur Verfügung stellen.

Daniel und Jeffrey Baird aus San Diego und Seattle, waren ebenfalls zur Geburtstagsfeier des Förderkreises gekommen. Beide sind Nachfahren der Familie Frankenthal. Für Jeffrey Baird war es bereits der zweite Besuch in der Gemeinde am Edersee. Bereits vor 19 Jahren war er erstmals zu Besuch, um die frühere Heimat seiner Vorfahren kennenzulernen. Die Mitglieder beider Familien blieben mehrere Tage, erlebten Konzerte und erkundeten Vöhl.

 
Frische Songs und viele Klesmer-Klassiker
 
Akzentuierter Auftritt: Die Gruppe „Aufwind“ in der Besetzung (von links) Claudia Koch, Hardy Reich, Janek Skirecki, Andreas Rohde und Jan Hermerschmidt. Foto: Armin Hennig
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Hennig, Armin

VON ARMIN HENNIG

Vöhl - Zur musikalischen Feier des 20-jährigen Bestehens ist „Aufwind“ die Idealbesetzung, denn das Klesmer-Quintett aus Berlin hatte nicht erstmals zum ersten Geburtstag des Synagogenvereins aufgespielt, sondern seitdem vier weitere Auftritte in Vöhl absolviert.

Mit frischen Songs vor der Pause und einem reichhaltigen Best of im zweiten Teil begeisterten die fünf Musiker gleichermaßen langjährige Fans wie Klesmer-Novizen. Denn für eigens angereiste Nachfahren der Vöhler Juden gerät der Auftritt von „Aufwind“ zum erstmaligen Live-Kontakt mit dem jiddischen Jazz, in einem Konzert, das viele Musikstile streift und keinen Lebensbereich auslässt.

Schon der erste Titel beginnt außerhalb des Ghettos, wenn auch hinter Gittern. Denn in „Lemotschniki“ erzählen sich drei Kriminelle ihre Vorgeschichte. Als Geigerin singt und spielt Claudia Koch überaus glaubwürdig die Rolle der Frau, die sich, mittels einer Saite um den Hals ihres Gatten, weitere Misshandlungen erspart hatte. Auf die groteske Humoreske aus dem Untergrund von Odessa folgt ein Naturidyll mit nachdenklichem Hintergrund. Die Vertonung von Itzik Mangers Reaktion auf Wolkenbilder und vorbeifliegende Vögel illustriert den Gedankenflug über die Vergänglichkeit der Welt durch den permanenten Wechsel der Instrumente zwischen den Strophen.

Die gut nachvollziehbare Art und Weise, in der bezeichnender Einsatz Instrumente und unmittelbar ansprechende Arrangements das Geschehen nachvollziehbar machen, unterscheidet „Aufwind“ positiv von schlichter gestrickten Ensembles, deren Stücke alle auf den Umschlag von tiefster Traurigkeit auf rasant jubilierende (Über-)Lebensfreude ausgerichtet sind. Im Schlaflied einer Mutter, die längst müder als ihr Kind ist, markiert das Absinken der Begleitstimmen auf immer tiefere Töne, bis zum letzten solistischen Basslauf von Janek Skirecki den Erfolg der Bemühungen.

Die Fähigkeit zur Integration anderer Musikstile macht Klesmer zur idealen Grundlage für Weltmusik, und eröffnet den Solisten zugleich ein freies Feld für Soli und Duette. In der Rolle des lange getrennten Liebespaares, das vor der Versöhnung erst einmal seine Differenzen ausräumen muss, spielen sich Jan Hermerschmidt und Claudia Koch gegenseitig die Themen zu und überbieten einander immer wieder bei virtuosen Läufen, ehe der letzte gemeinsame Durchgang den wieder erreichten Einklang hörbar macht.

Im Verlauf des Konzerts bereicherte der Wechsel zwischen Sopran-, Alt und Baritonklarinette mit unterschiedlichen Stimmfarben das Klangbild. Andreas Rohde setzte mit dem Bandoneon einige Tango-Akzente, Hardy Reich glänzte immer wieder als Sänger-Darsteller mit Mandoline oder Banjo, so auch in der mit Claudia Koch in der Rolle der Squaw als Western-Klamotte in der drastisch in Szene gesetzten Zugabe „Schnucki, ach Schnucki, fahrn mer nach Kentucky“.

 

Künstler Heinrich Groß zeigt mehr als 20 Bilder

Neue künstlerische Ausstellung in Vöhler Synagoge

Geschichten aus dem Alten Testament und historische Ereignisse hat Heinrich Groß in Form von Holzschnitten dargestellt. Die Bilder – abstrakt und gegenständlich – sind in der Ausstellung „T orah und Schofar“ in der ehemaligen Vöhler Synagoge zusehen. 

Vöhl. Seit 2005 sind die Bilder des Künstlers Heinrich Groß  die erste Ausstellung, die es in den Sakralraum der ehemaligen Synagoge in Vöhl geschafft hat.

Die Werke des Malers aus Niederwalgern bei Marburg passen nach Einschätzung des Förderkreises „wunderbar“ in die religiöse, historische Umgebung, sagte der Vorsitzende Karl-Heinz Stadtler bei der feierlichen Eröffnung.

Mehr als zwei Dutzend Bilder menschlicher und abstrakter Darstellungen, mithilfe der Holzschitt-Technik, zumeist in Schwarz-Weiß gehalten, zieren im Jahr des 20-jährigen Vereinsbestehens bis 11. August die Wände des Andachtsraums. Die technischen Voraussetzungen dafür hatten Peter Göbel und Walter Schauderna geschaffen.

Das Thema passt: Geschichten aus dem Alten Testament und weltliche Themen mit dem Schwerpunkt der jüdischen Kultur treffen hier unter dem Titel „Torah und Schofar“ aufeinander. Jüdische Rituale und Symbole finden immer wieder Beachtung. Der Künstler legt Wert darauf, Gemeinsamkeiten mit dem Christentum hervorzuheben und beschäftigt sich intensiv mit der Verfolgung der Juden und dem Holocaust.

"Bilder weiten unsere Perspektiven"

Heinrich Groß, geboren im Jahr 1935, habe seine Aufgabe als Zeitzeuge verstanden und sei ihr in diesem „Alterswerk“ gerecht geworden, lobte Dr. Siegfried Becker (Uni Marburg). Der ebenfalls in Niederwalgern wohnende Professor wertschätzte die vielseitige Hingabe des Künstlers, der bereits in „namhaften Galerien und Museen“ ausgestellt habe. Die aktuelle Ausstellung war 2018 nach zweijährigem Schaffen in der Landsynagoge Roth in der Gemeinde Weimar gezeigt worden. „Heinrich Groß überrascht mit seinen Bildern und weitet unsere Perspektiven.“ Der Künstler sei stets angetrieben von dem „Anderen, dem Experimentellen“. „Er hat sich nie beschränken lassen und gleichzeitig seine Bodenständigkeit bewahrt“, so Becker.

Diese Bodenständigkeit verbunden mit Tiefsinnigkeit werden beim Anblick der schlicht erscheinenden, aber ergreifenden Motive deutlich. Der erfahrene Künstler – gelernter Tischler – nutzt das ihm lieb gewonnene Material Holz als Medium für das künstlerische Ergebnis. Mit einem einfachen Schustermesser schneide er zumeist das Holz, das er dann oft mit Offsetdruckfarbe bemalt, bevor das Motiv auf Papier gebracht wird.

Erinnerungen aus der Kindheit

Inhaltlich greift der Christ in dieser Ausstellung ein Thema auf, das seine Kindheit geprägt und das ihn seitdem nachdenklich gestimmt hat.

Er habe erlebt, wie Juden verspottet wurden. „Wie muss sich das für die Menschen angefühlt haben?“, fragt Groß. In seinen Bildern zeige er die „bedrängte Existenz einer religiösen Minderheit“, so Becker.

„Erst die Erinnerungen machen die Bilder authentisch“, sagt Heinrich Groß. Bevor er ein Bild gestaltet, umtreibe es ihn oft tagelang. „Ich kann dann an nichts anderes denken.“

Der Vöhler Bürgermeister Matthias Stappert wünschte der Ausstellung breite Beachtung. Das wäre auch eine Herzensangelegenheit des Künstlers, dem daran gelegen ist, dass die Menschen Gemeinsamkeiten und Errungenschaften der verschiedenen Religionen achten. So hat er einem seiner Bilder diesen Namen gegeben: „Haltet Frieden“.

Verein Lebensborn vermittelte heute 76-Jährigen an Fremde 

Als Kind in SS-Familie gegeben: Adolf Kopp kennt seine Eltern nicht

Seine Geburtsurkunde hält Adolf Kopp hier in die Kamera. Dort ist vermerkt, dass eine Hebamme die Geburt in Metz eingetragen hat. Im Hintergrund sind kleinere Kunstwerke zu sehen. Kopp malt seit Jahrzehnten. 

Asel – Mutter und Vater? Adolf Kopp hat sie nie kennengelernt, nicht einmal ihre Namen kennt er. Was er weiß: Als Baby wurde er vom sogenannten Verein Lebensborn in eine Nazi-Familie gegeben.

Erfahren hat Adolf Kopp das jedoch erst, als er bereits 49 Jahre alt war.

Am 27. Januar 1943 kam Adolf Kopp im französischen Metz zur Welt. Auf der Geburtsurkunde – die Angaben machte damals die Hebamme – sind nicht die leiblichen Eltern eingetragen. Sein Adoptivvater sei ein „höherer SS-Mann gewesen“, sagt Kopp. Er und dessen Frau hätten ein Kind gehabt, das an Diphtherie gestorben sei, fand Adolf Kopp später heraus. Deshalb sei er in die Familie gegeben worden, als Ersatzkind.

 Adolf Kopp als Kind
Kindheit: Adolf Kopp (rechts) mit Adoptivbruder Lothar. 

Schon bevor er in die neue Familie kam, wurde ihm der Name Adolf gegeben, benannt nach Adolf Hitler. So war es bei vielen Jungs üblich, die in Lebensborn-Heimen zur Welt kamen. Dass er in der falschen Familie lebte, wurde Kopp früh bewusst. „Mit zehn Jahren habe ich begriffen, dass ich in der Familie nicht angesehen war. Es gab keine Wärme, ich war isoliert. Ich bin bald gestorben vor Heimweh.“ Obwohl er nie wusste, wohin er gehört.

Adolf Kopp wuchs schließlich bei Verwandten seiner Adoptivfamilie auf, in zehn verschiedenen Familien in Frankreich und Deutschland lebte er. „Ich hatte kein Zuhause.“ Im Alter von 17 Jahren ging er zur Bundeswehr, wo er mehr als 40 Jahre bis zur Pensionierung blieb. Erst, als Kopp 49 Jahre alt war, erfuhr er durch Zufall – beim Aufeinandertreffen mit einem älteren Arzt – dass er ein Lebensborn-Kind ist. Wirklich überrascht hat den heute 76-Jährigen das nicht. Auch wenn in seiner Kindheit und Jugend alle beharrlich geschwiegen hätten: Das Gefühl der Fremdheit war stets da, als Fremdkörper habe er sich gefühlt.

"Du bist mein Knecht"

Als er 16 Jahre alt war, so erinnert er sich, habe er einmal eine Truhe mit Dokumenten gefunden, in denen es um ihn ging. Er sprach seine Adoptivmutter darauf an, ob er ihr Kind sei, doch sie sagte nur: „Du bist mein Knecht.“ Das bedeute so viel wie Sohn, sagt Kopp.

Erst, als er längst erwachsen war, fügten sich die Puzzleteile: Nach der Aussage des Arztes recherchierte Adi, wie er genannt wird, und fand heraus, dass die HIAG, die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS, für ihn zahlte, er fuhr nach Metz, schaute sich viele Dokumente an. Möglicherweise, so sagt er heute, habe er einen Onkel in Ostdeutschland. Beweisen könne er das aber nicht.

Früher hatte Kopp kein Zuhause, heute fühlt er sich in der Gemeinde Vöhl heimisch, er lebt im Seniorenheim Asel. Schon 1965 kam er nach Frankenberg, wurde in der Burgwaldkaserne stationiert, und war von dort aus für die Bundeswehr in der ganzen Welt unterwegs.

Zwei Mal war Adi Kopp verheiratet, hat einen Sohn und eine Tochter. Seine bewegende Lebensgeschichte hat er bereits in Büchern aufgeschrieben, an einem weiteren arbeitet er bereits. Öffentlich über sein Leben und die Verbindung zum Verein Lebensborn zu sprechen, scheuen sich viele, das weiß der 76-Jährige. Doch er will das bewusst erzählen. Auch, um zu warnen. Er ist sich sicher: Vereine wie Lebensborn könnten auch heute noch entstehen.

Im Herbst wird Adi Kopp bei einer Veranstaltung des Förderkreises der Synagoge in Vöhl von seiner Lebensgeschichte berichten.

Der Verein Lebensborn

1935 wurde der Verein Lebensborn auf Initiative von Heinrich Himmler gegründet. Durch die Einrichtung der Heime in Deutschland und anderen Ländern sollte die Zahl der Abtreibungen verringert werden. Denn: Dadurch hätte „arisches Blut“ verloren gehen können. Mitglieder der SS wurden außerdem dazu ermutigt, Kinder zu zeugen – nicht unbedingt nur mit den Ehefrauen. Schwangere konnten anonym bei Lebensborn entbinden, die Kinder wurden dann in Nazi-Familien gegeben. Lebensborn-Kinder, die ihre Geschichte erzählen wollen, können sich bei Karl-Heinz Stadtler melden, Vorsitzender des Förderkreises der Vöhler Synagoge unter Tel. 05635 / 1491.

Waldeckische Landeszeitung, 26.03.2019

Interessante Lernorte
„Lebendiges Gedenken“: (von links) Claudia Papst-Dippel,ihr Landtagskollege Dimitri Schulz und Karl-Heinz Stadtler vor dem Mahnmal im Garten der Vöhler Synagoge. Foto: pr
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Vöhl - Die AfD-Landtagsabgeordneten Claudia Papst-Dippel und Dimitri Schulz haben mit Stefan Ginder (Fraktionsvorsitzender der AfD im Kreistag) und Hakola Dippel (Kreistagsmitglied und Sprecher des Stadtverbandes Volkmarsen) das Gustav-Hüneberg-Haus in Volkmarsen, die Synagoge in Vöhl und den Internationalen Suchdienst ITS in Bad Arolsen besucht.

Die erste Station war im Gustav-Hüneberg-Haus in Volkmarsen die jüdische Schachtmikwe aus dem 16. Jahrhundert. Der Verein „Rückblende - gegen das Vergessen“ hatte das Haus im vergangenen Jahr erworben. Vom Vorsitzenden des Vereines, Ernst Klein, erhielten die Besucher einen Überblick über die wertvolle Arbeit des Vereines. „Durch diese Ausstellung lebendig gemachte Geschichte erleichtert auch den Bezug zur Gegenwart“, meinte Hakola Dippel. „Der kritische Besucher“ könne sehr leicht „Parallelen der Entwicklung in der heutigen Zeit erkennen“.

„Die Synagoge Vöhl strahlt lebendiges Gedenken aus und ist für mich darüber hinaus ein kulturelles Zentrum im Landkreis“, sagte Claudia Papst-Dippel. Ihr Landtagskollege Dimitri Schulz, Mitbegründer der Bundesvereinigung Juden in der AfD (JAfD), zeigte sich beeindruckt davon, dass sowohl in Volkmarsen als auch in Vöhl lebendige Gedenkstätten und interessante Lernorte entstanden seien. Der Vorsitzende des Fördervereines, Karl-Heinz Stadtler, habe es geschafft, innerhalb von einer guten Stunde das jüdische Leben in Vöhl vor dem inneren Auge entstehen zu lassen.

Der Suchdienst in Bad Arolsen habe zum Abschluss noch einmal deutliche Hinweise darauf geliefert, dass noch immer viel Aufarbeitungsbedarf bestehe, so die Abgeordneten. Beeindruckend sei die riesige Menge der Schicksale, die dort sozusagen gespeichert sind und die mehr und mehr online sichtbar werden.

Man könne nur den Hut vor den Mitarbeitern ziehen, die sich mit schwersten Schicksalen befassen müssen und doch eine in die Zukunft gerichtete Arbeit haben, so die Besucher. Selbst wenn es nur noch wenige Überlebende der NS-Zeit gebe, so sei die Arbeit doch für die Familien und Nachfahren sinnvoll.

„Ich werde die drei Orte, die ich heute kennengelernt habe, zum Besuch weiter empfehlen“, sagte Schulz nach der Reise durch den Landkreis.  red

 
Heitere Ständchen und schaurige Romantik
Eingespieltes Team: Pianistin Masako Ono und Bariton Christian Backhaus beim Konzert. Foto: zecher-christ
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Nadja Zecher-Christ

Vöhl - Liebhaber der Klassik sind Samstagabend in der gut gefüllten Vöhler Synagoge voll auf ihre Kosten gekommen. Bariton Christian Backhaus aus Vöhl und Pianistin Masako Ono aus Leipzig bescherten einen faszinierenden Liederabend unter dem Motto „Von Abendrot bis Morgentod“.

Zu Gehör kamen Gedichtvertonungen von Franz Schubert, Robert Schumann und Carl Loewe. Zunächst konnte man Werken von Robert Schumann lauschen. Den Auftakt bildete das heitere Ständchen, Op. 36/2 - „Komm’ in die stille Nacht“ nach Robert Reinick. Lebensfreude pur vermittelten „Zwei venezianische Lieder - „Leis’ rudern hier, mein Gondolier“ (I) und „Wenn durch die Piazzetta die Abendluft weht“ (II) nach Thomas Moore. Mit dramatischem Gesang trug Backhaus die Ballade Belsazar, op. 57 - „Die Mitternacht zog näher schon“ vor, bei dem Heinrich Heine den Untergang des babylonischen Königs Belsazar beschreibt. Einen Ohrenschmaus bescherte Ono, als sie einfühlsam „Träumerei“ aus Schumanns „Kinderszenen“ spielte. Sehnsuchtsvoll kam „Lust der Sturmnacht op. 35/1 - „Wenn durch Berg und Tale draußen“ nach Justinus Kerner daher.

Zauberhaft waren Franz Schuberts romantische Kunstlieder, wie das schwärmerische „Du bist die Ruh“ aus „Schwanengesang“, D.957 nach Friedrich Rückert und Kriegers Ahnung - „In tiefer Ruh liegt um mich her“ nach Ludwig Rellstabs Liebeslyrik. Eine unheimliche, spannungsvolle Atmosphäre verbreitete die Ballade „Der Zwerg“ op. 22/1 - „Im trüben Licht verschwinden schon die Berge“ nach Matthäus von Collin, ebenso wie der Erlkönig op. 1 - „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“ nach Johann Wolfgang von Goethe.

Den Abschluss bildete Schauerromantik von Carl Loewe, wie Der späte Gast, Op. 7/2 - „Was klopft ans Thor?“ nach Willibald Alexis, die nordische Volksballade Herr Oluf op. 2/2 - „Herr Oluf reitet spät und weit“ nach Johann Gottfried Herder und Der Totentanz op. 44 Nr. 3. - „Der Türmer, der schaut zu Mitten der Nacht“ nach Goethe. Mit stehendem Applaus und Bravorufen forderte das begeisterte Publikum eine Zugabe ein und bekam diese auch: „O du, mein holder Abendstern“ aus Richard Wagners „Tannhäuser“.  nz

 

Förderkreis der Synagoge Vöhl möchte Betroffenen eine Stimme geben

Waldeck-Frankenberg: „Lebensborn“-Kinder gesucht

Wenige Dokumente rund um den Verein Lebensborn sind noch vorhanden, viele wurden zerstört oder sind verschwunden. Der Suchdienst in Arolsen besitzt einige Originaldokumente, unter anderem die von Himmler signierte Vereinssatzung.  

Waldeck-Frankenberg – Es ist ein Thema, über das heutzutage noch immer selten gesprochen ist, das gerade für Betroffene mit großer Scham besetzt ist: Der Verein Lebensborn, den Heinrich Himmler im Dritten Reich gründete.

Doch noch gibt es Kinder, die in einem der Heime geboren und dann weggegeben wurden und Kinder, die aus ihren ursprünglichen Familien gestohlen wurden. Nach ihnen sucht der Förderkreis der Synagoge in Vöhl jetzt.

Die Männer der SS sollten sexuell möglichst aktiv sein, sagt Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises. Mindestens vier Kinder gab Heinrich Himmler vor. Ob die mit der eigenen Ehefrau oder einer Geliebten gezeugt wurden, war dem SS-Chef gleichgültig. 

 

Dafür gab es die sogenannten „Lebensborn“-Heime. Dort konnten schwangere Frauen anonym gebären. „So sollte die Zahl der Abtreibungen verringert werden“, sagt Stadtler. Ledige Frauen, die schwanger wurden, seien damals oft von Zuhause rausgeworfen worden, sie hätten ihre Arbeit verloren, seien diskriminiert worden. In den Heimen konnten sie die unehelichen Babys zur Welt bringen.

Aus dem Nachwuchs wurden "stramme Nazis"

Die Amerikaner hätten nach dem Krieg die Heime zunächst auch als karitative Einrichtungen verstanden, so Stadtler. Allerdings: Der Nachwuchs wurde nach der Geburt in Pflegefamilien gegeben oder an Adoptiveltern, „in der Regel an stramme Nazis“. Auch geraubte Kinder aus eroberten Ländern, die möglicherweise „arische“ Vorfahren gehabt haben könnten, steckten die Nazis in die „Lebensborn“-Heime, bevor sie in linientreue Familien gegeben wurden.

„Die Heime waren aber keine Zuchtanstalten“, sagt Historiker Dr. Georg Lilienthal, der mitwirkt an der Reihe „Facetten des Rassismus“, in der es sich auch um „Lebensborn“-Kinder drehen soll. Lilienthal und Stadtler gehen davon aus, dass viele Menschen gar nicht wissen, dass sie „Lebensborn“-Kinder sind.

Bis heute sind viele ehemalige Lebensborn-Kinder traumatisiert

Doch bei vielen, die es längst wüssten, hätte es mit einem Gefühl angefangen. Dem Gefühl, „dass etwas nicht simmte“, sagt Lilienthal. Hatten die Kinder Zweifel und fragten nach, seien sie von den neuen Familien meist belogen worden, wenn sie denn überhaupt eine Antwort bekommen hätten. „Das war ein elementarer Vertrauensbruch. Bis heute sind viele deswegen traumatisiert“, sagt Georg Lilienthal.

Allein in den deutschen Heimen, so schätzt er, seien 8000 bis 9000 Mädchen und Jungen geboren worden. Einige wenige dieser Kinder leben in Waldeck-Frankenberg, Lilienthal und Stadtler haben bereits Kontakte geknüpft. Doch für die Ausstellung im Rahmen der Reihe „Facetten des Rassismus“ suchen sie weitere „Lebensborn“-Kinder, die ihre Geschichte erzählen wollen – auch anonym, wenn gewünscht. Beide wissen: Viele scheuen die Öffentlichkeit. Dabei ist Lilienthal sicher: „Für die Betroffenen kann das auch eine Art Therapie sein.“

Und die beiden Geschichtsexperten bieten auch ihre Hilfe an: Wer Zweifel an der eigenen Identität habe und im Zeitraum bis zur Vereinsauflösung am Ende des Krieges geboren wurde, dem wolle man gern auch bei der Erforschung der Familiengeschichte helfen.

Georg Lilienthal hat vor einigen Jahren bereits einer Österreicherin dabei geholfen, ihre wahre Herkunft zu klären. Ursprünglich stammte die Österreicherin aus Jugoslawien, berichtet er. Und dort fand Lilienthal sogar noch einige Verwandte der Frau – und sorgte so für eine besondere Familienzusammenführung.

 
Sinfonie der Steppe
 
Perlende Klänge und Kehlkopfgesang: Nasaa Nasanjargal, Ganzorig Davaakhuu, Omid Bahadori und Naraa Naranbaatar verzauberten das Publikum mit einer Melange aus mongolischer und orientalischer Musik. Foto: Nadja Zecher-Christ
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Nadja Zecher-Christ

VON NADJA ZECHER-CHRIST

Vöhl - „Sedaa“ bedeutet auf Persisch „Stimme“ und ist der Name einer faszinierenden Musikgruppe. Am Samstagabend entführten die Meistersänger Nasaa Nasanjargal, Naraa Naranbaatar und Hackbrettspieler Ganzorig Davaakhuu aus der Mongolei gemeinsam mit dem iranischen Multiinstrumentalisten Omid Bahadori in der voll besetzten Vöhler Synagoge in eine exotische Welt zwischen Orient und mongolischer Steppe.

„Es ist höchste Zeit, dass wir uns wieder haben blicken lassen“, sagte Omid Bahadori. Es sei schon drei Jahre her, dass sie hier gespielt hätten. Das Publikum begab sich mit den Musikern auf eine Reise entlang der Seidenstraße, bei der sie auch Titel der neuen CD „East West“ präsentierten. Es kamen auch exotische Musikinstrumente wie die Pferdekopfgeige, das Yochin (mongolisches Hackbrett) und die Bischgur (mongolische Oboe) zum Einsatz.

Ein Hörgenuss war der Kehlkopfgesang von Nasaa Nasanjargal und Naraa Naranbaatar, bei dem ein lang gezogener, metallischer Ton den Raum erfüllte. Brummen, Pfeifen und nasale Laute erinnerten an ein Didgeridoo. Beeindruckend war der Untertongesang mit seinen unglaublich tiefen Klängen. Zum Gesang gesellten sich die perlenden Klänge des Hackbretts von Ganzorig Davaakhuu.

Die orientalische Prise fügte Omid Bagadori hinzu. Er gab das Tempo mit Gitarrenklängen und Percussion-Instrumenten vor, das sich über einen Klangteppich aus mongolischen Tönen legte. Dabei entstand eine gelungene Melange aus mongolischer und orientalischer Musik. Zwischen den einzelnen Stücken brandete donnernder Applaus auf.

Vorm geistigen Auge konnte man die Pferde durch die Wüsten- und Steppenlandschaft der Mongolei galoppieren sehen. Bei ernsten Themen, die sich mit Umwelt oder Unfreiheit der Nomaden befassten, muteten die Töne der Pferdekopfgeige, wie ein Wehklagen an. Auch Empfindungen wie Liebe und Sehnsucht wurden akustisch umgesetzt.

Das Publikum war am Ende so begeistert, dass es mit lauten Jubelrufen und donnerndem Applaus noch eine Zugabe einforderte.

 
 
Große Kunst inmitten des Grauens
Winfried Radeke berichtete aus der Forschung und der Aufführungspraxis.
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VON KARL-HERMANN VÖLKER

Vöhl - „Ich wandre durch Theresienstadt, das Herz so schwer wie Blei…“ schrieb die jüdische Dichterin Ilse Weber, die als Kinderkrankenschwester im Ghetto Theresienstadt arbeitete, bis sie am 6. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Ihr Gedicht, geschrieben für ihren durch einen Kindertransport nach England geretteten Sohn Hanu, stand am Beginn des 159. Synagogenkonzertes in Vöhl mit dem Ensemble „Zwockhaus“.

Daraus entwickelte sich am internationalen Holocaust-Gedenktag ein tief beeindruckender Abend. Er war geprägt von bitterer Poesie, melancholischem Witz und bewundernswerter Auflehnung todgeweihter Komponisten und Textdichter.

Theresienstadt - das war eine ehemalige tschechoslowakische Garnisonstadt für etwa 4000 Soldaten, die von den deutschen NS-Besatzern ab 1940 zu einem Sammellager vorwiegend für jüdische Bürger umgerüstet wurde. Dort waren zeitweilig bis zu 50 000 Menschen eingepfercht. Auch die letzten Transporte von Juden aus dem heutigen Kreisgebiet von Waldeck-Frankenberg führten 1942 in dieses angebliche „Altersghetto“, das Nazi-Propagandisten mit verblenderischer Kulisse beim Besuch von Rotkreuz-Delegationen vorführten.

Es war dieses Leben „als ob“, in einem Gedicht beschrieben von Ghetto-Bewohner Dr. Leo Strauß (1897-1944), das das Ensemble Zwockhaus in der Vöhler Synagoge mit beklemmender Schärfe in Liedern und Texten sichtbar machte: Es gab im Ghetto tatsächlich nicht nur Theater und Orchester, sondern auch drei tschechische und fünf deutsche sogenannte „Kabaretts“, wie Moderator Winfried Radeke berichtete. In jüngster Zeit seien diese in der Zwangsgemeinschaft des Lagers entstandenen Kulturformen einer künstlerischen Elite immer besser erforscht, letzte Zeugnisse der Kabarettisten wiederentdeckt worden.

„Aus schlichten Liedern soll ein bisschen Glück und gütiges Vergessen erblühen“, heißt es in einem Text, mit dem Ilse Weber ihren Mithäftlingen gegen die Verzweiflung helfen wollte. Maria Thomaschke (Mezzosopran), Andreas Joksch (Tenor) und Nikolai Orloff (Klavier) ließen, musikalisch fein auf einander abgestimmt, in Liedern wie diesem Wehmut mitschwingen. Sie zeigten aber auch mit deklamatorischer Unerbittlichkeit, wie damals die Kabarett-Künstler von Theresienstadt mit sarkastischen Parodien selbst beim Schnulzentraum vom „kleinen Café“ auf „Wien“ nur noch den realistischen Reim „Terezin“ zu Papier brachten.

Selbstironie über die „gelben Fleckerln“ (die zwangsweise zu tragenden Judensterne), über die „schönste Stadt der Welt“, Ansingen gegen die Verzweiflung im Schluss-Couplet „Jetzt ist alles aus“ - dem Publikum in Vöhl stockte manchmal sekundenlang die Hand zum Applaus.

Erst am Schluss gab es langen, herzlichen Beifall für vier Künstler, die am Abend des Holocaust-Gedenktages ein Stück Hochkultur inmitten des Grauens von Theresienstadt sehr eindrucksvoll zu würdigen wussten.

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Melancholie, Satire, bissiges Chanson: Die Künstler des Ensembles „Zwockhaus“ mit (von links) Nikolai Orloff, Maria Thomaschke und Andreas Jaksch erinnerten in der Vöhler Synagoge an ermordete, aber unvergessene Kulturschaffende des Ghettos Theresienstadt. Fotos: Karl-Hermann Völker
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Gemeinsame Feierstunde am Holocaust-Gedenktag

Vöhl: Landkreis und Förderkreis Synagoge gedachten der NS-Opfer

Vier Brüder ihres Vaters und Großvaters Robert Ebender kamen in Auschwitz um: Ihrer Familienangehörigen und aller Sinti-Opfer des Holocaust gedachten Tochter Elisabeth Aydin geb. Ebender (vorn, Mitte), Enkel und Verwandte in der Synagoge Vöhl. 

Vöhl – „Wir können eine Wiederholung von Schreckensherrschaft und Völkermord nur verhindern, indem wir das Bewusstsein dafür bewahren, was in der Zeit zwischen 1933 und 1945 geschehen ist“, mahnte Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises „Synagoge in Vöhl“, als er dort am Sonntag die gemeinsame Feierstunde mit dem Landkreis zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ eröffnete.

Es gebe nur noch wenige Zeitzeugen, die die Nazi-Diktatur bewusst erlebt hätten. Darum sei es heute Aufgabe aller, die als Politiker, Lehrer oder Eltern Verantwortung trügen, Bürger dafür zu sensibilisieren, dass sie Widerstand leisteten, wenn Menschenrechte, Freiheit und Toleranz gefährdet seien, sagte Stadtler.

Er freute sich deshalb besonders über die große Zahl junger Leute, die an der Gedenkfeier teilnahmen, darunter Schülerinnen der Ederseeschule Herzhausen. Von dem Auschwitz-Überlebenden Robert Ebender, gestorben 2003 in Frankenberg (WLZ berichtete), war die Tochter Elisabeth Aydin geb. Ebender mit Enkeln, Nichten und Neffen gekommen, um ihrer im Holocaust ermordeten Sinti-Vorfahren zu gedenken.

 

Der Vöhler Bürgermeister Matthias Stappert erinnerte in seinem Grußwort an den 27. Januar 1945, als das NS-Todeslager KZ Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit wurde. Es sei zu einem Symbol für alle Opfer des Nationalsozialismus geworden, und deshalb sei dieser Tag „wichtiger Teil unserer Erinnerungskultur“. Stappert dankte dem Landkreis, dass er dazu an solch einen geschichtsträchtigen Ort wie die Synagoge in Vöhl eingeladen habe.

In ihrer engagierten Gedenkrede stellte die Kreisbeigeordnete Hannelore Behle (Diemelsee) nach Beispielen aus der Geschichte die Frage, wie in der NS-Zeit Menschen, die in einem Umfeld von Kultur, Bildung und Menschlichkeit aufgewachsen waren, „diesen dünnen Firnis der Zivilisation so schnell abstreifen konnten“. Es sei eine Schutzbehauptung, so etwas könne uns heute nicht mehr passieren. „Nichts vermag uns vor dem Rückfall in die Barbarei zu schützen, außer unserem Gewissen!“

VON KARL-HERMANN VÖLKER

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