Aufstellung der Vorträge

Aufstellung der Vorträge, deren Text uns zur Verfügung gestellt wurde.
Den Zeitpunkt aller anderen Vorträge finden sie unter Archiv der Veranstaltungen.


Vortrag: "Von Pfarrern im Widerstand", 29. Juni 2023

 
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Karl-Hermann Völker (Wiesenfeld) erinnert unter dem Zitat „Von der Not des Gewissens getrieben“ mit einer Bildpräsentation an Pfarrer des ehemaligen Kirchenkreises Frankenberg nach 1933.
 
Aus Gründen des Urheberrechts ist hier von der Bildpräsentation nur der Text widergegeben.
 
 

Vortrag von Leon Weintraub, 28. April 2023

Leon Weintraub sprach in der Synagoge über sein Leben und stand anschließend für Fragen zur Verfügung. Der 97-Jährige ist einer der letzten Zeitzeugen. Er wurde in Lodz geboren und hat die Ghettozeit von Anfang bis Ende erlebt. Anschließend war er in Auschwitz, Groß-Rosen und Flossenbürg. In den letzten 60er Jahren, als der Antisemitismus in Polen eine weitere Blüte erlebte, emigrierte er nach Schweden. 

Leon Weintraub ist einer der letzten jüdischen Zeitzeugen, der über die Verbrechen des NS-Regimes sprechen kann.

Das Eder-Dampfradio hat ein  Video (1:39h) von dem Vortrag erstellt.
Das Radio  www.eder-dampfradio.de., ist eine Website für lokale Nachrichten und Ereignisse.

Vortrag: "Vöhls letzte Juden", 11. September 2022


Vortragstitel

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Am 7.9.1942 wurden die letzten Vöhler Juden über Kassel nach Theresienstadt deportiert.
Karl-Heinz Stadtler hat aus diesem Anlass folgenden Vortrag ausgearbeitet.

Drei Frauen lebten noch in Vöhl: Johanna Frankenthal, geb. Bachrach; Friederike Katzenstein, geb. Jakob und  Selma Rothschild.
Gegenstand des Vortrags sind die Lebensläufe der Frauen, die von ihnen abgeschlossenen "Heimeinkaufsverträge" und die Beschreibung der Todesumstände in Theresienstadt und Treblinka.

Vortrag, "Aufwachsen im Konzentrationslager", 9. September 2022


Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Landkulturbotin in der Synagoge Vöhl hat Mali Klöcker diesen Vortrag erarbeitet.
Er befasst sich mit den Lebensbedingungen von Kindern in den Konzentrationslagern während der NS-Zeit.

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Vortrag: "Das Sonderkommando von Auschwitz", 9. September 2022


Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Landkulturbotin in der Synagoge Vöhl hat Cara Richter  diesen Vortrag erarbeitet.
Er befasst sich mit dem jüdischen Arbeitskommando in Auschwitz.

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Vortrag: "Der Weg zur Diktatur", 9. September 2022


Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Landkulturbotin in der Synagoge Vöhl hat Luisa Wilke diesen Vortrag erarbeitet.
Er befasst sich mit den Jahren 1933 und 1934, in denen die Nationalsozialisten an die Macht kamen.

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Vortrag: "Die Deportation nach Sobibor und Majdanek", 10. Juni 2022


Foto von Gedenkstätte und KZ
Gedenkstätte Majdanek (2003)
Ralf Lotys
(Sicherlich), 2003-11 KZ Majdanek,
CC BY 2.5

Vortrag von Karl-Heinz Stadtler, über die Deportation nach Sobibor vor 80 Jahren

Herr Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises "Synagoge in Vöhl e.V.", hat den Bericht über seinen Vortrag zur Verfügung gestellt.

„Jeder ist verantwortlich für das, was er tut“

 

Vortrag: "Euthanasie", Sommer 2019


Im Rahmen seiner Tätigkeit als Landkulturbote in der Synagoge Vöhl hat Leo Wilden diesen Vortrag erarbeitet.
Er befasst sich mit den verschiedenen Euthanasie Kampagnen während der NS-Herrschaft.

Vortragstitel mit Schriftzug "Euthanasie"
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Gedenkrede von Frau H. Behle am 27. Januar 2019


© Kurt-Willi Julius
Mahnmal des Landkreises Waldeck-Frankenberg für alle Deportierten der NS-Zeit
"Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod" (2007) von E. R. Nele

Gedenkrede von Frau Kreisbeigeordnete Hannelore Behle

 der Feierstunde zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

 

Vortrag: "Jüdische Krankenpflege", 19. Februar 2019


Von 1933 bis 1945 verwendete Flagge der Frauenabteilung des DRK
Fornax
, Deutsches Rotes Kreuz 1933-1945 weiblich, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Am 19. Februar 2019 hielt Frau Piro-Klein einen Bildvortrag in der Synagoge:


Jüdische Krankenpflege in Deutschland

Ruth Piro-Klein, inszwischen in Pension, war 30 Jahre Leiterin des Bildungszentrums für Gesundheits- und Krankenpflege am Korbacher Stadtkrankenhaus. Sie ist stellvertretende Vorsitzende im Frankenberger Geschichtsverein. Sie hat uns freundlicherweise diesen Vortrag zur Verfügung gestellt.

Sie bezieht sich auf ein Buch von Hilde Steppe: „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“ Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt/Main 1997, Dissertationsschrift,
ISBN 978-3-929106-36-1.

Vortrag: "Jüdische Feste und Feiertage", Sommer 2018


Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Landkulturbotin in der Synagoge Vöhl hat Sanja Mohnen diesen Vortrag erarbeitet.
Er befasst sich mit den Jüdischen Feitagen im Jahreslauf.

Titel des Vortrags
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Vortrag: "Eichmann-Männer vor Gericht", 26. April 2018


Dontworry, Saalbau-ffm-haus-gallus-003, CC BY-SA 3.0
In diesem Gebäude in Frankfurt fanden einige der Prozesse statt.

Am  26. April 2018 hielt Herr Werner Renz, Mitarbeiter des Fritz-Bauer-Instituts aus Frankfurt am Main, einen Vortrag mit dem Titel:

Eichmann-Männer vor Gericht

Anmerkungen zur richterlichen Erforschung der Wahrheit
 
 

Vortrag: "Rich Uncle Hermann [Frankenthal] in America", 2007


Carol Baird ist die Enkelin von Ernst Davidsohn, der in Vöhl gelebt hat. Er ist 1940 über England nach USA emegriert. In diesem Vortrag berichtet sie über ihren Verwandten Hermann Frankenthal (1856-1940).

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Vortrag: Jüdische Ritualbäder in Vöhl

Förderkreis "Synagoge in Vöhl" e.V.

Jüdische Ritualbäder in Vöhl

von Karl-Heinz Stadtler 2006

Gemauerter Schacht mit einer hinabführenden Treppe zu stehendem Wasser

    Dietrich Krieger, Synagoge Worms-4125, CC BY-SA 3.0

Inhalt:

  1. Überraschender Fund in Volkmarsen
  2. Wasser reinigt
  3. Biblische Grundlagen für die Mikwe
  4. Anlässe zum Bad in der Mikwe
  5. Bauweise, Art und Weise der Nutzung
  6. Die Mikwaot der Juden in Vöhl, Marienhagen und Basdorf
Fortsetzung

 

  1. Überraschender Fund in Volkmarsen

Das war durchaus eine Sensation, als Ernst Klein, Vorsitzender des Vereins Rückblende in Volkmarsen, berichtete, eine ungefähr 500 Jahre alte Mikwe in einem Haus im Stadtkern Volkmarsens gefunden zu haben. Den Verdacht hatte er schon lange, doch nun war es durch Grabungen und wissenschaftliche Untersuchungen belegt: In einem im 13. Jahrhundert erbauten Haus mit einem ganz besonderen Kellergewölbe wurde im 16. Jahrhundert eine Schachtmikwe eingebaut.

Mikwe 1
Eine der Gewölbesäulen    
Mikwe 2
Treppe zur Mikwe m. Ablagefach
mikwe 3
Schachtmikwe in Volkmarsen

Fotos: Karl-Heinz Stadtler

Natürlich war es keine Überraschung, dass es in Volkmarsen eine Mikwe gab. In der 1827 gebauten Synagoge befand sich ein solches rituelles Tauchbad. Das Besondere war das Alter der nun gefundenen Mikwe, denn der Fund belegte, dass schon im 16. Jahrhundert Juden in der Stadt lebten.

Doch nun sei zunächst dargestellt, was es mit einer Mikwe auf sich hat.

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  1. Wasser reinigt

Wasser reinigt - tatsächlich und symbolisch!

Wer den ganzen Tag gearbeitet hat - beim Straßen- oder Hausbau, in Fabrik oder Werkstatt, in Küche oder Garten, im Stall oder auf dem Feld  -, weiß eine feierabendliche Dusche zu schätzen. Selbst wenn man bei der Arbeit nicht schmutzig geworden ist, vielleicht nicht einmal geschwitzt hat, fühlt man sich nach Dusche oder Bad frisch und gereinigt.

Wunden werden mit Wasser gesäubert, bevor man sie behandeln kann. Operationsbesteck oder andere medizinische Geräte werden vor der Benutzung gereinigt. Die Infektionsgefahr wird durch Wasser mit entsprechenden Zusätzen gebannt.

Die Sauberkeit der Wohnung, der Kleidung, von Räumen, in denen Lebensmittel hergestellt oder verkauft werden, von Krankenhäusern sind für uns Kriterien gesunden Lebens. Und trotz aller chemischen oder biologischen Zusätze ist das wichtigste Reinigungsmittel nach wie vor das Wasser.                                                                                                      

Ralf Dragon, Haridwar, CC BY-SA 3.0

Wir kennen andererseits die Fernseh- oder Illustriertenbilder von Tausenden Hindus, die im braunen und schmutzigen, aber heiligen Wasser des Ganges untertauchen, um sich rituell zu waschen, denn das Bad soll auch von dem Bösen reinigen, das man getan oder erlebt hat. Dieser Ritus wurde sicherlich zu einer Zeit eingeführt, als das Wasser des Flusses noch nicht gesundheitsgefährdend war. 
                                                        Holger.Ellgaard, Skondals kyrka 2005, CC BY-SA 3.0

Eine ausschließlich rituelle Reinigung stellt auch die Taufe dar: die Handvoll Wasser, mit der der Pfarrer über den Kopf des Kindes streicht, reicht auch für mehr nicht aus. Das Wasser reinigt symbolisch von den Sünden oder der Sünde und nimmt gleichzeitig auf in die religiöse Gemeinschaft. Es gibt auch christliche Gemeinschaften, bei denen die Ganzkörpertaufe üblich oder gar vorgeschrieben ist.

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  1. Biblische Grundlagen für die Mikweh

 Auch in der jüdischen Religion ist die rituelle Reinigung mit Wasser von großer Bedeutung. Sie geht auf die Bücher Moses zurück, wo an verschiedenen Stellen der Thora die Notwendigkeit des Reinigens betont wird. Die erste Textstelle (3. Buch Moses, Kap. 14) handelt von der Reinigung Aussätziger, von denen es damals sehr viele gegeben hat. Dort heißt es in der Übersetzung Luthers:

  1. Der aber, der sich reinigt, soll seine Kleider waschen und alle seine Haare abscheren und sich mit Wasser abwaschen, so ist er rein. Danach gehe er ins Lager, doch soll er sieben Tage außerhalb seines Zeltes bleiben.
  2. Und am siebenten Tage soll er alle seine Haare abscheren auf dem Kopf, am Bart, an den Augenbrauen, dass alle Haare abgeschoren seien, und soll seine Kleider waschen und seinen Leib mit Wasser abwaschen, so ist er rein.

Im 15. Kapitel desselben Buches geht es um den Ausfluss eines Mannes an seinem Glied, um das im Schlaf abgehende Sperma und um die Monatsblutung der Frau: die betreffenden Personen sowie alle, mit denen sie in Kontakt kommen, und auch alle Gegenstände, die sie berühren, gelten als unrein und bedürfen der rituellen Reinigung.

Darüber hinaus gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Bestimmungen, in welchen Fällen die Mikwe zu benutzen ist. Erst danach ist der Besuch des Gottesdienstes wieder erlaubt. Im 4. Buch Moses der Lutherbibel befiehlt Gott, denjenigen mit dem Tod zu bestrafen, der sich an diese Reinigungsgebote nicht hält. Wörtlich heißt es in der Übersetzung Luthers (4. Moses, 19, 10-13): „Und dies soll eine ewige Ordnung sein für die Israeliten und die Fremdlinge, die unter euch wohnen: Wer irgendeinen toten Menschen anrührt, der wird sieben Tage unrein sein. Er soll sich mit dem Reinigungswasser entsündigen am dritten Tage und am siebenten Tage, so wird er rein. Und wenn er sich nicht am dritten Tage und am siebenten Tage entsündigt, so wird er nicht rein.  Wenn aber jemand irgendeinen toten Menschen anrührt und sich nicht entsündigen will, so macht er die Wohnung des Herrn unrein, und solch ein Mensch soll ausgerottet werden aus Israel. Weil das Reinigungswasser nicht über ihn gesprengt ist, ist er unrein; seine Unreinheit bleibt an ihm.“ Thea Altaras meint, dass Luther hier die Quelle nicht richtig wieder gegeben habe. In der jüdischen Version des Textes habe der Satz einen anderen Sinn.

Seit Jesaia, ca 500-400 vor der Neuen Zeitrechnung, ist es Vorschrift, sich vor dem Untertauchen gründlich - mit Seife - zu waschen, das "Vor-waschen".

Den unter Heiden abtrünnig gewordenen Juden sagt Gott durch den Propheten Hesekiel (36, 25): „... und ich will reines Wasser über euch sprengen, dass ihr rein werdet; von all eurer Unreinheit und von all euren Götzen will ich euch reinigen.“ Der Prophet Jesaja sagt seinen Glaubensbrüdern (12,3): „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsbrunnen.“

Im Brief an die Hebräer fordert der unbekannte Verfasser die Adressaten auf (10,22): „so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in vollkommenem Glauben, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser.“ Der christliche Autor dieser Zeilen formuliert hier bezüglich der Reinigung mit Wasser noch ganz in jüdischer Tradition; die Christen seiner Generation werden möglicherweise die Mikwe noch benutzt haben.

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  1. Die Anlässe zur Benutzung der Mikweh

In Deutschland wird die Mikwe oft als „Frauenbad“ bezeichnet, weil sie hauptsächlich von Frauen nach der Menstruation aufgesucht wird. Sie dürfen geschlechtliche Beziehungen erst wieder aufnehmen, wenn sie am siebten Tag nach Ende der Regelblutung „getaucht“ haben. Vorher allerdings waschen oder baden sie sich, um mit sauberem Körper in die Mikwe zu gehen. Frauen benutzen die Mikwe außerdem vor der Hochzeit und nach einer Geburt.

Manche orthodoxe Männer halten sich noch an die alte Sitte, vor dem Sabbat und vor den hohen Festtagen ins Tauchbad zu gehen.

Auch Geschirr wird in der Mikwe rituell gereinigt: sowohl das Geschirr, das man soeben neu gekauft hat, als auch das Geschirr, das man für Fleischiges verwenden will, das aber vorher vielleicht von anderen für „Milchiges“ gebraucht wurde, oder umgekehrt, und schließlich Geschirr und andere Behälter oder Kleidungsstücke, die mit als unrein geltenden Tieren bzw. dem Aas von unreinen oder auch reinen Tieren in Berührung gekommen sind oder gekommen sein könnten.

Gegenstände, die von Nicht-Juden erworben wurden, bedürfen eines Tauchbades.

Wäsche oder Kleidung, die mit unreinen Körperausscheidungen in Berührung gekommen sind, werden ebenfalls im Tauchbad rituell gereinigt.

Ursprünglich hat es mehr Anlässe für die Benutzung der Mikwe gegeben.

Früher musste die Mikwe auch von Priestern vor dem Gottesdienst benutzt werden. Und schließlich haben Konvertiten, also Personen, die von einer anderen Religion zum Judentum übertraten, ein Tauchbad zu nehmen; es  erinnert insofern an die christliche Taufe.

Es ist müßig zu fragen, warum in all diesen Fällen eine rituelle Reinigung nötig ist. Manchmal wird mit gesundheitlichen Gründen argumentiert, aber dann wird erstens unterstellt, dass es sich nicht immer ausschließlich um eine rituelle, sondern historisch zuerst auch um eine tatsächliche Säuberung handelte; und zweitens gibt es Reinigungsanlässe, die medizinisch nicht begründbar sind. Vielleicht ist es eben unsere Geisteshaltung, unsere Denkweise, die rationale Gründe verlangt. Für fromme Juden reicht es und muss es reichen, dass es ein entsprechendes Gebot Gottes gibt; die Frage nach dem „Warum“ stellt sich dann nicht.

Nicht jeder Jude, nicht jede Jüdin benutzt das Tauchbad. Wie in anderen Religionen auch, sind Juden verschieden fromm. Außerdem ist die Frage, ob und in welchen Fällen ein Bad in der Mikweh nötig ist, nicht nur abhängig von der persönlichen Glaubensintensität, sondern auch davon, welcher der vielen Richtungen des Judentums man angehört: Ist man eher orthodox oder eher reformiert? Kommt man aus Ost- oder aus Westeuropa, aus den USA oder aus Südamerika, aus Afrika oder einem asiatischen Staat? Wohnt man in Regionen, wo es Wasser in Überfluss gibt oder lebt man in einer Wüste? Verschiedene Herkunft hat durchaus auch Einfluss darauf, ob und in welcher Weise bestimmte Riten eingehalten werden.

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  1. Bauweise, Art und Weise der Nutzung

Das am Ende des vorigen Kapitels Dargestellte gilt auch für die bauliche Gestaltung und die Art und Weise der Nutzung einer Mikwe, vielleicht sogar in noch stärkerem Maße, denn bezüglich der Anlässe für die rituelle Reinigung kann man sich immerhin noch auch die Vorschriften der Thora, auf Gesetze Gottes berufen. Wenn es aber um die Frage geht, wie eine Mikwe auszusehen hat und wie Männer und Frauen in ihr zu baden haben, hilft die Thora nicht. Hier gibt es die Rabbinen, die im Laufe der Jahrhunderte - oft in der Diskussion und Auseinandersetzung mit anderen - Regeln erörtert und aufgestellt haben. Es mag Gemeinsamkeiten geben, die für mehrere religiöse Richtungen, vielleicht sogar für alle Juden gelten, aber es gibt da auch ganz erhebliche Unterschiede. Nicht alle Aussagen der alten Lehrer sind eindeutig; oft sind Interpretationen erforderlich. Auch aufgrund der Veränderung der Lebensweise, durch die Entwicklung neuer Baustoffe werden Regeln modifiziert oder geändert. Man unterstellt - sicherlich zu recht -, dass dieser oder jener Lehrer vor tausend oder gar fünfzehnhundert Jahren in Spanien oder in Mitteleuropa oder in Vorderasien seine Lehre aufgrund der damals und dort gegebenen Bedingungen entwickelt hat, dass sie auf das Heute und Hier nicht einfach übertragbar und deshalb anzupassen sind. Solche Anpassungen und Übertragungen werden auch heute von Rabbinern in der Auseinandersetzung mit den alten Texten und in der Diskussion mit anderen Glaubensforschern und -lehrern vorgenommen. So gibt es also auch in der Gegenwart Unterschiede hinsichtlich der baulichen Gestaltung wie auch der Art und Weise der Nutzung eines Ritualbades.

Wichtigste schriftliche Grundlage jeder Erörterung dieser Frage ist der Abschnitt über die „Mikwaot“ (Plural von Mikwe) in der Mischna, die um das Jahr 200 auf der Grundlage der Arbeit noch älterer Lehrer von Rabbi Jehuda zusammengestellt wurde und die Grundlage des Talmud bildet. In zehn Abschnitten wird dort auf alle Einzelheiten eingegangen und insbesondere behandelt, in welchen Fällen das Tauchbad rituell ungültig ist.

Übrigens nimmt nicht jeder Rabbiner für sich in Anspruch, über die Anlage einer Mikwe entscheiden zu dürfen. Thea Altaras, als Jüdin und Architektin Kennerin der Religion, der Riten und der Kultur im Judentum, schreibt in ihren zwei um 1990 erschienenen Büchern über das rituelle Tauchbad, dass es in ganz Deutschland derzeit niemanden gebe, der sich zutraut, in Zweifelsfragen der Einrichtung einer Mikwe zu entscheiden. In Gießen, wo Frau Altaras wohnte und arbeitete, hat man einen Rabbiner aus dem Ausland geholt, um Fehler zu vermeiden, die im Extremfall das Ritualbad ungültig machen können.[3] Der Name des verantwortlichen Rabbiners ist in Gießen an dem Tauchbad (Bautafel) angebracht. Er bürgt also nun auch nachträglich für eine der „Halachah“, den jüdischen Religionsgesetzen entsprechende Anlage.

Das hebräische Wort mikwa oder Mikwe bedeutet eine Sammlung oder Stauung von Wasser. Genutzt werden kann hierfür ein natürliches Wasser - ein Fluss, ein Teich oder See, ein Meer - oder ein künstliches Bad, dessen Wasser nicht mit einem Gefäß geschöpft oder durch Menschenhand in den Tauchbehälter gelangt ist. Ein fließendes Gewässer kann nur deshalb und dann als rituell geeignet betrachtet werden, wenn man in ihm eine Ansammlung von Quellwasser oder auch - vielleicht von der Jahreszeit abhängig - zumindest teilweise von Regen- oder Schmelzwasser sieht; der Leser dieser Zeilen erkennt: sogar in diesem Fall muss man „interpretieren“, „deuten“ und „umdeuten“, um entsprechend dem Ritus gültig zu handeln. Im Tauchbecken allerdings darf nur Grundwasser „fließen“, ansonsten muss es sich um ein stehendes Wasser handeln.

An eine gebaute Mikwe werden ganz bestimmte Anforderungen gestellt: sie muss so tief sein, dass man vollständig untertauchen kann.; nach Kolatch muss sie mindestens 762 Liter Wasser fassen und einen Zufluss „lebendigen“ Wassers haben, also aus einer Quelle oder einem Fluss gespeist sein. Thea Altaras nennt einen Mindestinhalt von 250 bis 800 ltr. Wasser, die dann ausreichen, wenn der Mensch in dem Becken völlig untertauchen kann.

Sie unterscheidet drei Arten geeigneten Wassers für ein rituelles Tauchbad: 1. Grund- bzw. Quellwasser, 2. „anfallendes“ Wasser, worunter sie Regenwasser oder geschmolzenen Schnee versteht, und 3. fließendes Wasser. Je nach Wasserart ist die Bauweise der Mikwe verschieden. Hierauf genauer einzugehen, ist für den Zweck dieser Schrift nicht nötig. Wer sich dafür interessiert, kann darüber in dem Buch der Thea Altaras nachlesen.

Wo es geht, wird man Mikwaot in Flussnähe bauen, um Flusswasser für das Bad zu nutzen, zumal in Fluss- oder Bachnähe in der Regel auch der Grundwasserspiegel höher ist. Hin und wieder allerdings wird ein tiefer Schacht bis auf Grundwasserniveau gegraben, um ein den Regeln entsprechendes Bad mit den dazugehörigen Wasserreservoirs bauen zu können.


Eine Frau reinigt sich in einer Mikwe,
während ihr Mann im Bett auf sie wartet.
Deutschland 1427/28

Foto gemeinfrei

Geschirrreinigung in der Mikwe.

Foto gemeinfrei

Das rituelle Tauchbad bedarf einer gründlichen Vorbereitung. Speisevorschriften sind einzuhalten, der Körper muss gründlich gereinigt sein, und alle körperfremden Dinge (Ringe, sogar Prothesen und Haarnadeln) müssen entfernt werden. Der Körper wird dann bis auf die letzte Haarspitze untergetaucht, wobei durch Körperhaltung, Fingerspreizung usw. darauf zu achten ist, dass jeder Teil des Körpers mit dem Wasser in Berührung kommt. Augen und Lippen sind nur leicht zu schließen.

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  1. Die Mikwaot der Juden in Vöhl, Marienhagen und Basdorf

Besucher der ehemaligen Vöhler Synagoge fragen oft nach der Mikweh, weil sie von anderen Orten wissen, dass sich diese Einrichtung fast immer oder zumindest sehr oft im Synagogengebäude befindet. Dies gilt - wie oben erwähnt - für Gießen; aber auch in Weimar-Roth, wo man die ehemalige Synagoge vor einigen Jahren restauriert hat, war die Mikweh direkt neben dem Gebäude.

In Vöhl war das anders. In der Synagoge befand sich nie eine Mikweh. Anhand historischer Dokumente sei nun dargestellt, wie es die Juden unserer Heimat und die staatliche Obrigkeit mit den jüdischen Ritualbädern hielten.

Ein Schreiben der großherzoglich darmstädtischen Regierung vom 17. Juli 1813 ist das älteste Schriftstück, das uns zu diesem Thema vorliegt. Dort wird zwar zunächst das jüdische Gesetz gelobt, das den Frauen befiehlt, sich nach Menstruation oder Niederkunft zu reinigen (auch die Regierung hat ganz offensichtlich den nur rituellen Charakter dieser Reinigung nicht erkannt), aber das Gesetz werde „von den Juden zur Störung und Untergrabung der Gesundheit des weiblichen Geschlechts mißbraucht“; das Frauenbad sei in aller Regel ein tiefes Loch im Keller des Hauses mit eiskaltem Quellwasser, wodurch „die unheilbarsten Blutflüsse, Auszehrungen und Nervenzufälle (!)“ entstünden. Die Regierung forderte also den Bau warmer Bäder, was jedoch nicht geschah.

Fünf Jahre später, am 17. Juni 1818, berichtete der Physikus (= Arzt) Goldmann aus Vöhl der Regierung in Gießen von elf  Bädern im Kreis Vöhl, darunter drei in Vöhl selbst und je eins in Basdorf und Marienhagen. Alle - auch die in Höringhausen, Altenlotheim und Eimelrod befindlichen - seien „ohne Ausnahme, sehr schädlich und verwerflich“. Dann beschreibt er sie näher:

„Sie sind alle in theils gewölbten, theils niedrigen, kaum 5 Schuhe hohen, feuchten, dumpfen, Balkenkellern, einige hervon haben helles, andere schmutziges, sehr übelriechendes, und kaltes garstiges Quellwasser, das in einem solchen Kellerloche beständig offen steht, und durch allerley verunreinigt wird. Die sich badende Weiber müssen sich in genannten Kellern aus- und anziehen, oder aus einer Stube nackt in einen solchen Keller, und von da wieder bis in die Stube gehen, wo sie sich anziehen, so daß man sich wundern muß, daß nicht noch weit mehr dießer Weiber erkranken.“

Er gesteht zu, dass man nicht überall „ein unschädliches Bad“ errichten kann, meint aber in Bezug auf Vöhl:

„Die Juden, deren hier 8 Familien wohnen, sind alle vermögend einige sogar sehr reich, doch ist bisher, obgleich sie selbß ein ordentliches Bad sehr wünschten, aus eigenem Antriebe, eins zu errichten, der Disharmonie wegen unterblieben, es müßen diese Leute daher gezwungen werden, und gerne folgen sie dann, meiner Überzeugung nach , dem Befehle.“

Er schlägt solche Bäder auch für Höringhausen und Eimelrod vor. Die Judenfrauenbäder in Marienhagen, Basdorf und Altenlotheim, wo die Familien zu arm seien, um seinen Vorstellungen entsprechende Mikwes zu bauen, sollten zugeworfen und die jüdischen Frauen angehalten werden, das Bad in Vöhl aufzusuchen. „Nicht nur als Physicus, sondern auch schon als Menschenfreund“ bittet er die Regierung, das „als zweckmäßig betrachtete, in der That aber mörderisch wirkende Gesetz“ so zu ändern, wie er es vorgeschlagen hat.

Wiederum zwei Jahre später scheint die Regierung in Gießen energisch werden zu wollen: Am 15. Januar 1820 fordert sie den Vöhler Justizamtmann auf, endlich etwas zu unternehmen. Die jüdische Gemeinde gibt nach, bestätigt durch Selig Salomo Rothschild die hygienischen Probleme hinsichtlich der Bäder und beantragt einen Neubau, den die Regierung genehmigt, doch dann geschieht wieder vier Jahre lang nichts. Im Januar 1824 fordert die Regierung erneut einen Zustandsbericht über die Bäder an, den Vöhl im Februar auch liefert. Der Brief schildert die Verhältnisse ähnlich schlimm wie der Bericht des Physikus von 1818, kommt aber auch zu dem Ergebnis, dass zumindest die „Juden zu Altenlotheim, Marienhagen und Basdorf neue unschädliche Bäder, wenn ... nur einigermaßen beträchtliche Kosten verbunden seyn sollten, bey ihren dürftigen Vermögens-Umstände nicht werden anlegen können.“ Doch jetzt will die Regierung endlich Taten sehen. Im Januar 1825 fordert sie den Vöhler Landrat Krebs auf, innerhalb von 14 Tagen mit der „Verschüttung“ der Bäder zu beginnen. Der Landrat beeilt sich nicht: Erst nach Ablauf der Frist richtet er diese Aufforderung an die Vöhler Bürgermeister, diesmal mit Fristsetzung von vier Tagen. Der Bürgermeister berichtet, „daß die Juden in der Gemeinde Basdorf keine Erdbäder vor die Juden Frauen mehr haben Feidel Keiser[2] hat einen Brunnen im Keller welcher früher zu diesem Gebrauch gewest ist, er ihn aber anjezo zum Brunnen benutzte vor seinen Haushalt“. Und der Marienhagener Bürgermeister antwortet entschieden: „... in Marienhagen gibt es kein Erdbad.“

 

Wegen der ungewohnten Sprache schwer zu lesen, aber doch recht interessant ist das Schreiben, das der Vöhler Landrat Krebs am 25. Februar 1825 nach Gießen schickte:

„In Folge der obigen hohen Verfügung wurden die beref. Bürgermeister sogleich beauftragt, sämmtliche jüdische Erdbäder verschütten zu lassen, hierauf liefen aber aus allen Orten Reclamationen ein, welche mich bestimmten, den gegebenen Befehl zurückzunehmen. Die meister dieser Bäder werden nämlich nicht allein als solche benutzt, sondern dienen zugleich entweder als Brunnen für’s Vieh, oder in den Kellern, worin sich kein Abzug anbringen läßt, dazu, das Wasser auf einen Punkt zu sammeln, und sich dann auch besonders hier in Vöhl, wo an Wasserbehältern Mangel ist, bey Feuers brunsten sehr nützlich. Um indessen den von dieser hohen Bulle [=Gesetz] beabsichtigten Zweck auch zu erreichen, um zugleich auch den gerechten Wunsche der BadEigenthümer zu befriedigen, habe ich der Judenschaft dahier, zu Höringhausen und Eimelrod aufgegeben, ihre Bäder, wenn sie solche nicht verschüttet haben, mit, den Gebrauch derselben, als solche, unmöglich machenden Brunnengehäusen zu versehen und in jedem dieser Orte (die übrigen Marienhagen, Altlotheim und Basdorf haben gar keine Bäder) binnen 4 Wochen auf gemeinschaftliche Kosten ein Bad anzulegen, welches der Gr. Gerichtsarzt als der Gesundheit nicht nachtheilig erkennt. Dies will ich einstweilen mit dem Anfügen unterthänig berichten, daß ich nach Verlauf des gesetzten Termins den Ertrag dieser Anordnung, wenn sie anders von hoher Regierung nicht mißbilligt wird, anzuzeigen nicht ermangeln werde.“

Gießen kritisierte nun am 8. März, dass der Landrat sich nicht damit begnügt hatte, Mikwaot zu verschütten, sondern den jüdischen Gemeinden auch aufgegeben habe, ein gemeindliches Bad anzulegen. Er solle diesen Teil seiner Weisung wieder zurücknehmen, es sei seine Aufgabe, „blos diejenigen Vorrichtungen zu entfernen, welche der Gesundheit nachtheilig sind.“

Erstaunlicherweise folgt der Landrat diesem Befehl nicht. Er fordert Bürgermeister Küthe fünf Tage später auf, nicht verschüttete Erdbäder mit Brunnengehäusen zu versehen, die die Benutzung als Mikwe unmöglich machen, und in jedem Ort wenigstens ein neues Bad entsprechend den Vorschriften des Bezirksphysikus zu errichten. Private Bäder erlaubte er ausdrücklich und stellte deren Eigentümer von der Kostenbeteiligung am Gemeinschaftsbad frei.

Bezirksphysicus Braun bestätigte bereits am 21. April 1825 in einem Testat, “daß Bär Katzenstein seinem Bade eine solche Genehmigung gegeben habe, daß dasselbe jetzt wohl ziemlich tauglich ist.” (Gemeint ist wohl, dass Bär Katzenstein die Mikwe in seinem Haus so eingerichtet hat, dass sie genehmigungsfähig war.)

Allerdings ist unklar, ob tatsächlich Bär Katzenstein gemeint ist, weil Landrat Krebs der Gießener Regierung gegenüber Simon Katzenstein als den Eigentümer einer ordnungsgemäßen Mikwe bezeichnet. Ansonsten meldet der Landrat Vollzug: alle jüdischen Erdbäder seien nun für ihren ursprünglichen Zweck unbrauchbar.

 Mikwe 9

Foto: Walter Schauderna
Eines der ehemals Katzensteinschen Häuser in der Mittelgasse 15. Informationen zu den Personen und deren Angehörigen erhalten Sie über den Stammbaum: Familie Katzenstein, Bär und Simon.

Am 30. Juli ergeht eine Order aus Gießen an den Kreis Vöhl, der die Bedingungen zum Bau einer ordnungsgemäßen Mikwe aufzählt:

-         die Baukosten und der Unterhalt sind eine Angelegenheit der israelitischen Gemeinde;

-         der Bezirksarzt muss die Tauglichkeit attestieren;

-         das Wasser darf nicht länger als einen Tag stehen und muss ablassbar sein;

-         die attestierenden Ärzte haben zu berücksichtigen, dass „eine jüdische Badeeinrichtung nur dann 
          zulässig ist, wenn dazu ein fließendes Quell-, Fluss- oder Regenwasser genommen wird, welches
          durch Rinnen geleitet wird“;

-         Erdbäder müssen ausgemauert oder in ähnlicher Weise befestigt sein;

-         kalte Bäder sind verboten; das Badezimmer muss erwärmbar sein;

-         die Treppe ins Bad muss aus Eichenholz sein;

-         einmal im Jahr hat eine Inspektion durch den Physicus zu erfolgen;

-         für das Bad ist eine „verheurathete jüdische Aufseherin“ vorzusehen.

Im März des folgenden Jahres empfiehlt die Regierung den Landräten, die jüdischen Gemeinden auf eine Schrift des Battenberger Judenlehrers Birkenstein hinzuweisen, in der dieser sich mit dem „Baden der Judenweiber“ beschäftigt und das sehr nützlich sei.

1835/36 werden die Mikwes wieder zum Gegenstand der Diskussion.

 Mikwe 10

Foto: Walter Schauderna
Hier, Arolser Str. 19, stand früher das Haus von Selig Stern, in dem sich eine Mikwe befand. Informationen zu den Personen und deren Angehörigen erhalten Sie über den Stammbaum: Familie Stern, David.

mikwe 11 

Foto: Walter Schauderna
Das Bild zeigt ein Grundstücke in der Arolser Str. 13, auf denen früher 3 Häuser jüdischer Familien standen; auch das Haus der Schönhofs, in dessen Keller eine Mikwe war. Informationen zu den Personen und deren Angehörigen erhalten Sie über den Stammbaum Familie Schönhof.

Bürgermeister Knoche aus Marienhagen visitierte die Keller aller jüdischen Familien, hat „aber bey keinem keine Brunnen und Badlöcher angetroffen.“ Anders der neue Physikus Dr. Nuß in den anderen Orten des Kreises. In Altenlotheim und Höringhausen hat er je ein Bad, in Eimelrod deren zwei vorgefunden; außerdem „eins in Basdorf in der Wohnung von Feist Kaiser ...und drey in Vöhl in den Wohnungen von Selig Stern, Joseph Kugelmann und Ascher Rothschild.“ Mit Ausnahme des Bades im Rothschildschen Hause seien alle ungeeignet, kleine Löcher in dumpfen Kellern, mit schlechtem, übel riechendem Wasser, manchmal auch nur sehr umständlich erreichbar. Auch das Rothschildsche Frauenbad laboriere an diesen Mängeln, habe aber ein elegantes Aussehen, sogar die ganz „zweckdienliche Ferrichtung ..., daß man einem über dem Bad angebrachten Kessel erwärmtes Wasser unmittelbar in dasselbe leiten kann.“ Dr. Nuß untersagte allen außer Rothschild die Nutzung ihrer Bäder und informierte die betreffenden Bürgermeister entsprechend. Selig Stern und Joseph Kugelmann erklärten, „daß sie dieselben schon lange nicht mehr zum Bade benutzt hatten - sie aber dieselben aus dem Grunde nicht zuwerfen lassen könnten - weil die Keller ansonsten voller Wasser wäre“, eine Angabe, die der Physikus nicht bezweifeln wollte. Die Inspektion der Bäder wollte Dr. Nuß sich bezahlen lassen, und zwar von den jüdischen Gemeinden; die Basdorfer Juden scheinen dies nicht eingesehen zu haben, denn sie mussten noch im Oktober 1836 vom Kreisrat mit Auspfändung wegen der 1 ½ Gulden Gebühr bedroht werden.

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Fotos: Walter Schauderna
Haus des Ascher Rothschild mit der Tür zur vermuteten Mikwe in der Arolser Str. 8. Informationen zu den Personen und deren Angehörigen erhalten Sie über die Stammbäume: Familie Rothschild, Ascher + Sprinz  und Familie Rothschild, Ascher + Blümchen.

Im Juni 1840 wurde der Schriftverkehr wegen der Frauenbäder fortgesetzt. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinde gab es Stimmen, die neue Bäder forderten. So schrieb der Frucht- und Viehhändler Moses Schaumburg, Mitglied des israelitischen Gemeindevorstands, am 26. Juni an den Vöhler „Gerichtsrath“: „nach allerhöchster bestimmung von 1831 des RGb No 77 sollen die frauenbäder für die isralitten so Eingerichtet werden, daß sie der Gesamtheit nicht Schaden! Was aber hir leider der fall nicht ist ich habe deisen Gegenstand schon vor mehre Jahre angezeigt.“ Er fährt fort: „ich ersuche Daher Gr. Hess. Greisamt, der gehorsamste bitte! Zu verfüge das Endlich Einmahl das ziel erreicht wird, und ein neues Frauenbaht für die isralittesche Gemeinde, nach der allerhöchste Verordnung zu Stande komt was doch gewiß ein bedeudendes Bedürfnis iß, und muß deshalb um baldige Verfügung bitten.“ Mit Verweis auf das Schaumburgsche Schreiben fordert der Kreisrat die jüdische Gemeinde auf, „die Sache in reichliche Erwägung und Berathung zu ziehen und ... das Protokoll berichtlich einzusenden.“

Für den jüdischen Gemeindevorstand antworten am 6. Juli der Handelsmann und Färber Salomon Kugelmann, wohnhaft im Haus Nr. 26, heute Arolser Straße 23, und der besagte Moses Schaumburg: „1.Ein Neues Bathaus zu erbauen sind wir Bereit aber mit dem Bedenken, das wir nich im Stand sein aus unseren Mitteln zur erbauung dasselbe weill die Gemeinde kaum erst 10 Jahren ein Neues Gottes Haus gebaut hatt welches über 3000 fl gekostet hatt unt solches bereit bezahlt bis auf 700 fl also wenn wir solches Baun schuldig sind so bitten wir nun Groß-hess. Hochlöblichen ... Kreisrath um Genehmigung solches Capital zu Lehnen zu dürfen, weil wir nicht im Stand sind solches aus Eigenen Mittel anzuschaffen. Ich als Vorster Kugelmann Bitte um Baldige ... (gemeint ist wohl Antwort oder Genehmigung; das Wort ist im Original nicht lesbar), weil wir müßen einen Bauris vom ... Kreisbaumeister darüber haben und einen geeigneten Blatz dazu kaufen.“

Anscheinend hat sich in der Folge nichts getan. 1853 wird in einem Bericht über das Gesundheits- und Sozialwesen in Vöhl über die schlechte Beschaffenheit der Judenfrauenbäder geklagt. Zumindest in Vöhl könne eins gebaut werden, und „die Basdörfer Juden möchten hieran partizipieren.“ Doch der Vorstand der jüdischen Gemeinde bleibt uneinsichtig: ein Bedürfnis zur Erbauung aus Gemeindemitteln liege nicht vor. 1860 drängt das Kreisamt erneut, ordnet 1861 sogar den Bau an, doch in Schreiben aus den Jahren 1861 und 1862 lehnt die selbstbewusster werdende jüdische Gemeinde dies ab. Es gebe Frauenbäder in Privatbesitz, und den Bau eines Bades durch die Gemeinde könne man sich wegen der zu hohen Kosten nicht leisten.

Aus der Zeit danach liegen keine Dokumente zu diesem Thema vor; vielleicht deshalb, weil Vöhler Akten aus der Zeit nach 1866 nicht mehr im Marburger Staatsarchiv gesammelt wurden, vielleicht aber auch, weil die nach dem Krieg von 1866 neu zuständige preußische Regierung sich nicht mehr um dieses Thema kümmerte. Wir wissen heute von zwei, vielleicht drei Mikwaot in Privatbesitz, die in den folgenden Jahrzehnten zur Verfügung standen. Ursula Behrend, geb. Mildenberg, die in der Mittelgasse in dem Haus unterhalb der Synagoge wohnte, meint, dass es vor ihrer Zeit, d.h. wohl vor 1924, eine Mikwe im Haus ihrer Eltern gegeben habe: „... in der alten Wurstküche gegenüber von der Waschküche“.

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Foto: Walter Schauderna
Das ehemals Sally Mildenberg gehörende Haus in der Mittelgasse 11, in dessen Keller sich eine Mikwe befand. Informationen zu den Personen und deren Angehörigen erhalten Sie über den Stammbaum: Familie Mildenberg, Levi.

Frau  Anneliese Bender, geb. Braun, geb. 1913 im Haus Heinze (später Ruhwedel und Urmoneit, heute Seniorenheim) in der Arolser Straße, bis 1918 und dann wieder während des 2. Weltkrieges wohnhaft in Vöhl, kann sich erinnern, dass im Haus des Ascher Rothschild, im Bereich der späteren Backstube, ein „Brunnen“ im Haus war, den wir uns sicherlich als eine Mikwe vorstellen dürfen. Wenn wir weiter annehmen, dass es zu diesem Raum einen separaten Zugang von der Arolser Straße her gab, wie wir ihn heute noch kennen, dann war diese Mikwe sicherlich auch den anderen Juden des Dorfes leicht zugänglich.

Frau Krauß-Backhausen weiß vom Hörensagen, dass im Keller des heutigen Hauses Demmer in der unteren Mittelgasse eine Mikwe „über den Bach gebaut“ gewesen sei. Hier wird es sich um die schon weiter oben erwähnte Mikwe im Haus entweder des Bär oder des Simon Katzenstein gehandelt haben. Wie die Formulierung „im Keller ... über dem Bach gebaut“ konkret zu verstehen ist, ist noch nicht ganz klar.

 

Eine Bewertung der hier vorgestellten Dokumente zu den Mikwaot in Vöhl muss in aller Vorsicht vorgenommen werden. Es wäre sicherlich voreilig, den Behörden, die die Zuschüttung oder Unbrauchbarmachung der Frauenbäder anordneten, eine Gegnerschaft gegenüber Juden zu unterstellen. Immerhin belegen auch Aussagen von Juden selbst, dass sich die Mikwaot in schlechtem Zustand befanden. Einige Formulierungen des Physikus Goldmann oder auch der Regierungsbehörde in Gießen wirken übertrieben, vielleicht auch heuchlerisch in Bezug auf ihre Sorge um die Gesundheit der Badbenutzer. Hin und wieder scheint das Ziel der Maßnahmen nur zu sein, ärgern und behindern zu wollen.

Unterscheiden muss man wohl zwischen der Haltung der Regierung in Gießen und der des Kreisamtes in Vöhl, zumindest in der Amtszeit des Kreisrates Krebs. Krebs scheint „näher dran“ gewesen zu sein als seine vorgesetzte Behörde; er versucht Weisungen zu mildern und hat anscheinend auch den Mut, anders zu entscheiden, als es ihm vorgegeben wurde. Und auch die Bürgermeister von Vöhl, Basdorf und Marienhagen wollten ihren jüdischen Gemeindemitgliedern wohl helfen; ihre Meldung, es gebe keine oder keine in Benutzung befindlichen Frauenbäder in ihren Dörfern, überzeugen nicht und wurden wohl in der Absicht gegeben, den jüdischen Mitbürgern Ärger zu ersparen.

Andererseits gewinnt man allerdings auch den Eindruck, dass die Vöhler Juden zumindest bezüglich der Benutzung von Mikwaot nicht allzu bibeltreu oder „orthodox“ gewesen sind. Die religiöse Vorschrift ist die eine, ihre Befolgung eine ganz andere Sache. Insbesondere die Männer befreiten sich im Laufe der Jahrhunderte nach und nach von den Zwängen und Vorschriften zum Tauchbad, die einen offen, andere zunächst heimlich. Durch äußere Gegebenheiten - den Beruf, die gesellschaftliche oder auch landschaftliche Umgebung - ließ man sich zu Nachlässigkeiten verführen und verzichtete schließlich ganz auf Beachtung der alten Riten.

Vielleicht waren Anpassung und Assimilation in die Bevölkerungsmehrheit im Vöhl des 19. Jahrhunderts schwächer als in den jüdischen Zentren in Frankfurt oder Berlin, aber tendenziell gab es sicher auch hier ein Nachlassen der Frömmigkeit.

Für die jüdischen Frauen wird es schwerer gewesen sein, sich von den traditionellen Verpflichtungen zum Tauchbad zu lösen, weil sie das Bad in Situationen nutzten, die mit Sexualität und dem Intimbereich zu tun hatten, worüber man in der Öffentlichkeit gar nicht und auch in der Familie nicht so offen sprach. Doch auch die Frauen wurden offener und freier. Von mehreren jüdischen Frauen wissen wir, dass sie die Geschäfte ihrer Männer nach deren Tod weiterführten. Johanna Blum scheint sogar eine sehr erfolgreiche Geschäftsfrau schon Ende des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein.

Die Vöhler Mikwaot in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts waren wohl tatsächlich in dem schlimmen Zustand, der geschildert wurde. Doch gewinnt man außerdem den Eindruck, dass sie nicht unbedingt regelmäßig benutzt wurden. Sie waren da, und das genügte vielleicht, um das religiöse Gewissen zu beruhigen oder den Schein der Frömmigkeit zu wahren. Sicher gab es dann auch mal jemanden wie Loeb Moses Schaumburg, der auf die Einhaltung der Religionsgesetze pochte, doch das verlor sich dann mit der Zeit.

 

(Alle zitierten Akten befinden sich im Staatsarchiv Marburg, Bestand 111 k Vöhl 295.)

 

Literaturverzeichnis:

Thea Altaras: Das jüdische Rituelle Tauchbad und: Synagogen in Hessen - Was geschah seit 1945? Teil II, Königstein im Taunus 1994

Ruth Gay: Geschichte der Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zum Zweiten Weltkrieg, München 1993

Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Köln 1997

Jüdisches Museum, Frankfurt am Main, Texte von Georg Heuberger, München/New York 1997

Jüdisches Museum, Museum Judengasse: Katalog zur Dauerausstellung, Frankfurt am Main 1992

Alfred J. Kolatch: Jüdische Welt verstehen. Sechshundert Fragen und Antworten, Wiesbaden 1999

 

[3] Dem Verfasser dieser Zeilen ist ein solcher Gedanke absolut fremd: Menschen, die in festem Glauben an die Bedeutung und Wirkung des Bades dort tauchen, sind doch auch von Gott nicht deshalb zu bestrafen, weil andere bei der Errichtung der Badanlage Fehler begangen haben.

 

Vortrag "Goethe und die Juden", 28. August 2004

Karl Joseph Stieler creator QS:P170,Q467658 , Goethe (Stieler 1828), als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons


Anläßlich des 175. Geburtstages der Synagogenweihe hielt Frau Ursula Homann (1930-2021) aus Arnsberg den Festvortrag.

 
Dieser Vortrag ist hier nicht veröffentlicht, sondern ihre Publikation zum selben Thema:

 
U. Homann; Goethe und die Juden

Abrufbar auf der Website des 

Vortrag: "Spaziergang auf den Spuren Vöhler Juden, 2002


Titelbild der Präsentation
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Den Vortragstext können sie auch abrufen!

Karl-Heinz Stadtler hat die Präsentation im Jahre 2002 erstellt
.
Sie ist weiterhin Grundlage für die mehrmals im Jahr stattfinden Spaziergänge auf den Spuren Vöhler Juden.

Vortrag: Der jüdische Friedhof in Vöhl

Der jüdische Friedhof in Vöhl

von Karl-Heinz Stadtler 2002

Aufnahme auf dem Friedhof vor seiner Zerstörung 19
Foto aus dem Besitz von Margie Jacobs Kenedy, Stiefenkelin von Joseph Lasers
Tochter Johanna Jacobs, siehe: Stammbaum Familie Laser

INHALT

Die Ausweisung des jüdischen Friedhofs in der Herzingsgrube
Warum ein jüdischer Friedhof?

Warum ein jüdischer Friedhof in dieser Zeit und an diesem Ort?
Wie verlief eine jüdische Beerdigung Mitte des 19. Jahrhunderts in Vöhl und anderswo?
Was berichten Vöhler über jüdische Beerdigungen?
Jüdische Trauergewohnheiten
Schändung des Friedhofs
Der jüdische Friedhof nach Kriegsende

Fortsetzung

Die Ausweisung des jüdischen Friedhofs in der Herzingsgrube
- Antrag des Judenvorstands

- Joseph Blum
- Simon Katzenstein
- Ein „Cohen zadegh“
- Frankenau ist zu weit weg
- Der "Juden-Kirchhof" von 1773
- Ein „sturer Bock“
- Der Friedhof wird genehmigt

Warum ein jüdischer Friedhof?

- Heute: Priorität der politischen Gemeinde
- Juden wollen jüdischen Friedhof
- Nach Jerusalem blicken
- Sonderrolle der Kohanim
- Nutzungsverbot
- Bis zum Jüngsten Gericht
- Die Grablege der Erzväter
- Erde des Gelobten Landes

Warum ein jüdischer Friedhof in dieser Zeit und an diesem Ort?
- Deutschland als „Neues Jerusalem“
- Selbstbewusste Judenführer in Vöhl
- Günstige Lage
- Die Umzäunung

Wie verlief eine jüdische Beerdigung Mitte des 19. Jahrhunderts in Vöhl und anderswo?
- Die Begräbnisordnung

- Der Weg zum Friedhof
- Die Beerdigung

Was berichten Vöhler über jüdische Beerdigungen?
- Die Beerdigung des Joseph Laser

- „Grüß mir den Vater Abraham“
- Märchen oder Wahrheit?
- Weitere Vöhler Bräuche
- Keine Frauen, keine Kohanim
- Jüdische Beerdigungsriten
- Das Kaddisch
- Strafe für Lehrer Flörsheim
- Selbstmord als Sünde
- Die letzten Beerdigungen

Jüdische Trauergewohnheiten
- Erster Trost

- Die Trauerwoche
- Trauermonat und Trauerjahr

Schändung des Friedhofs
- „Das war keiner von uns“

- Arisierung der jüdischen Friedhöfe
- Die Grabsteine werden abgeräumt

Der jüdische Friedhof nach Kriegsende
- 46 Grabsteine blieben erhalten

- Die Anordnung der Grabmale
- Die Inschriften
- Jüdische Jahreszahlen
- Ornamentaler Schmuck
- Die Besuchssteine

Fußnoten

Literatur
verzeichnis

Die Ausweisung des jüdischen Friedhofs in der Herzingsgrube

Antrag des Judenvorstands

Am 11. Januar 1830, einem Montag, erschienen Joseph Blum und Simon Katzenstein beim Vöhler Kreisrat[1] und beantragten die Anlegung eines Friedhofs für die Judengemeinde in Vöhl. Sie waren zwei der in der Regel drei ordentlich berufenen Vorsteher der jüdischen Gemeinde, die sich aus den Juden Vöhls, Basdorfs, Marienhagens und Oberwerbas zusammen setzte.
 
Joseph Blum

Joseph Blum war ein inzwischen 59jähriger Mann, verheiratet mit seiner Frau Hedwig, wahrscheinlich stolzer Vater des damals zehnjährigen Levi, Besitzer eines Hauses und des dazugehörigen Grundstücks und von Beruf, soweit man damals von Berufen sprechen konnte (weil es eine Berufsausbildung im heutigen Sinne nicht gab und so ziemlich jeder männliche Ortsbürger mehreren oder gar vielen Beschäftigungen nachging), Metzger und Viehhändler[2]. Seit mindestens zehn Jahren gehörte er dem Vorstand der Vöhler Juden an und war damit mitverantwortlich für den Bau von jüdischer Schule und Synagoge in den vorausgegangenen Jahren. Joseph Blum scheint ein recht selbstbewusster Mann gewesen zu sein, sicherlich stolz auf das von ihm Geleistete.


Wieso unterstellen wir diesem Mann, den wir nicht kennen, solche Eigenschaften? – Natürlich ist ein wenig Spekulation dabei, aber bei dem hier beschriebenen Besuch beim Kreisrat erscheinen er und sein Kollege Katzenstein als Männer, die wissen, was sie wollen. Es gibt ein weiteres Protokoll eines Besuchs Blums bei der Behörde aus einem der folgenden Jahre, nach dem er Unterlagen der jüdischen Gemeinde zurückgefordert hat. Und als er 1838 gefragt wurde, ob er nicht noch einmal Gemeindevorsteher werden wolle, antwortete er, er sei 68 Jahre alt, könne weder lesen noch schreiben und sei deshalb  für dieses Amt (das er viele Jahre lang ausgeübt hatte) nicht geeignet. Der Verfasser dieser Zeilen hat sich beim Lesen der genannten Dokumente ein Bild von Joseph Blum gemacht und dies hier dargestellt. Die Möglichkeit eines Irrtums bei der Beschreibung der Charakterzüge sei zugestanden
 
Simon Katzenstein

Blums Kollege Simon Katzenstein war zehn Jahre jünger, wohnte zusammen mit seiner Frau Esther in der unteren Mittelgasse[3] die damals noch nicht so hieß, weil Straßennamen in Vöhl offiziell erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführt wurden, und hatte eine einjährige Tochter namens Amalie. Drei Söhne – Samuel, Abraham und Emanuel – sollten dem Ehepaar in den folgenden Jahren noch geboren werden. Vorstandsmitglied der Vöhler Juden war Simon Katzenstein nur um 1830 herum; weder früher noch später findet man seinen Namen unter denen der Vorsteher.
 
Ein „Cohen zadegh“

Auf Grabsteinen seiner Familienangehörigen wird Simon Katzenstein als Rabbi und Priester bezeichnet, doch leitet sich dies wohl ausschließlich daraus ab, dass er einer der „Kohanim“ ist, ein Nachfahre des Aaron, Bruder des Moses, der am Sinai mit seinen Söhnen und allen weiteren Nachfahren von Gott zu Priestern berufen wurde. Dieses Amt ist seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem (fast) ohne Funktion, wird aber immer noch an die Nachfahren weitergegeben. Ein Rabbiner im Sinne eines Mannes, der Gottesdienste hielt, die Funktion eines Lehrers ausübte, Trauungen oder Begräbnisse zelebrierte, war Simon Katzenstein mit Sicherheit nicht. In einem Schriftstück des jüdischen Gemeindevorstands wird er als zweiter Vorsänger bezeichnet, hatte dort also nur eine nachgeordnete Funktion.
 
Frankenau ist zu weit weg

Joseph Blum und Simon Katzenstein also wollten einen jüdischen Friedhof in Vöhl anlegen. Sie berichteten dem Kreisrat, dass die Vöhler Juden bisher den Totenhof in Frankenau im kurhessischen Ausland mitgenutzt hätten. Der erste Jude, der nach Vöhl gezogen sei, stamme aus Frankenau und habe bei der dortigen Gemeinde für sich und seine Nachkommen ausbedungen, dort beerdigt zu werden. Doch der Weg dorthin sei sehr weit, nehme immerhin drei Stunden in Anspruch, und überdies sei die Eder oft gefährlich breit und kaum überquerbar[4]. Deshalb sei man schon vor einigen Jahren dazu übergegangen, die verstorbenen Mitglieder der jüdischen Gemeinde mit Genehmigung des Eigentümers im Garten des inzwischen von Vöhl nach Nieder-Ense verzogenen Christian Heinze zu bestatten. Nun wolle die Gemeinde diesen Garten kaufen, um ihn auch weiterhin als Friedhof nutzen zu können. Er liege außerhalb des Dorfes und etwas erhöht, meinten sie, und so baten sie den Kreisrat, ihnen diesen Platz als Friedhof zuzuweisen und die entsprechenden Formalitäten einzuleiten.

Der Kreisrat ließ den Garten von dem Physicatsarzt – heute würde man ihn als Amtsarzt bezeichnen – auf seine Eignung hin überprüfen, und als der zu einem positiven Ergebnis kam, setzte der Kreisrat Katzenstein und Blum schon einen Monat später in Kenntnis.  

 

Der "Juden-Kirchhof" von 1773

Reproduktion: Staatsarchiv Marburg MR 111k Vöhl 

Tatsächlich wurden schon im 18. Jahrhundert Juden in Vöhl bestattet, wie der folgende „GrundRiß des Voehlischen PfarrGartens“ aus dem Jahre 1773 beweist. In der mit „C“ bezeichneten Fläche sind 5 größere und am Rand ein kleineres Rechteck zu erkennen, die Grabstellen bezeichnen.

Da vielleicht nicht jede/r Leser/in die sehr schöne Handschrift entziffern kann, sei der Text hier wiedergegeben, zunächst die Sätze auf der rechten Seite:

GrundRiß des Voehlischen PfarrGartens und des daran neuerlich angelegten JudenKirch=Hofs. auf Verlangen der Voehlischen Judenschafft aufgenommen und ausgetragen von Joh. Fried. Rohde Bergmstr aD

Voehl, den 7ten Januarii 1773.

Explicatio der Buchstaben

  1. Der PfarrGarten
  2. das Graßstück darinnen
  3. AckerLand zum Genüß
  4. Der Eingang des Gartens.
  5. Jacob Hegels Garten, deßen Einfarth bey „d“ befind.
  6. Der darinnen angelegte 14 Sthl 4 Sch 3 gl: große Juden Kirchhof, worauf sich die 6 bemerkten Gräber befinden und dessen Grenze die Punkte anzeigen.
  7. Die Distanz von dem Kirchhof bis ans Dorf gut 21 Sthl und bis an den Schlag z8 Sthl.
  8. Die vom Kirchhof nächst gelegenen Häuser des Dorfs
  9. Der Fahrsteg nach Marienhagen
  10. Ein Herrschaftlicher Garten
  11. Fußpfad nach Marienhagen
  12. Bauren Gärten

Maas=Stab von Zwanzig Ruthen

In der Karte selbst sind folgende Bezeichnungen zu erkennen:

Voehlisch Feld
Fausten Hude
Weg nach Korbach
Der Voehlische Markt
Weg nach Lauterbach
Weg nach Basdorf

Das damals übliche Längenmaß war die „Ruthe“, das Flächenmaß entsprechend die Quadratruthe, die kleinere Einheit der „Schuh“ bzw. „Quadratschuh“, die noch kleinere Einheit „gl“ kennt der Verfasser nicht. Die auf der rechten Seite benutzten Abkürzung „Sthl“ – zumal doppelt durchgestrichen - ist dem Verfasser nicht verständlich.

Zur räumlichen Orientierung mögen folgende Hinweise dienen: unten in der Mitte geht rechts der Weg zum Brunkel ab, der dann über den Hüttenberg nach Basdorf führt. links geht der heutige Günter-Sternberg-Weg ab. Wenn man nach rechts oben auf dem Hauptweg bleibt, mag der „Weg nach Lauterbach“ die heutige Nordstraße, der „Weg nach Korbach“ die Straße „Am Köppel“ sein und nach links führt dann der „Altes Feld“ genannte Weg nach Marienhagen.

Ein „sturer Bock“

Nun aber machte der Eigentümer Schwierigkeiten. Dies war nicht mehr der erwähnte Christian Heinze, sondern Georg Bock[5], der über ein Jahr lang seinem Namen insofern alle Ehre machte, als er sich als „sturer Bock“ erwies und die von Heinze übernommene Wiese, auf der schon das eine oder andere Grab eingerichtet war, nicht verkaufen wollte. Als die Gießener Bezirksregierung – inzwischen von der Angelegenheit unterrichtet – den Landratsvicar Stumpf im Januar 1831 nach dem Stand der Dinge fragte, musste jener eingestehen, nicht weitergekommen zu sein. Die jüdische Gemeinde habe einen bedeutenden Kaufpreis geboten, der zusammen mit seinen eigenen Überredungsbemühungen bei jedem anderen zum Erfolg geführt hätte, berichtete der Beamte. An Bock allerdings seien alle Argumente abgeprallt. Um die Angelegenheit zu verzögern, habe er sich durchaus auch mal verständnisvoll gezeigt und Bedenkzeit erbeten; doch die sei ergebnislos verstrichen.  
 
Der Friedhof wird genehmigt

Gießen wies Stumpf nun an, eine Enteignung zugunsten öffentlicher Zwecke in die Wege zu leiten, wenn es nicht innerhalb von vier Wochen zu einer gütlichen Einigung komme.

Ein weiterer Schriftwechsel zu dieser Angelegenheit liegt nicht vor, doch das Ergebnis war die Ausweisung des jüdischen Friedhofs in der Herzingsgrube, etwas erhöht hinter dem Ort gelegen, leicht erreichbar von der Synagoge und den meisten von Juden bewohnten Häusern in Vöhl. Günstig gelegen auch für die Juden Marienhagens, die ihre Verstorbenen auf dem dafür vorgesehenen Wagen nur das „Alte Feld“ hinunter zu ziehen hatten, um den Bestattungsort zu erreichen. Der Friedhof wurde wohl noch 1831 ausgewiesen; die ersten Beerdigungen hatten jedoch bereits in dem vorausgegangenen Jahrzehnt dort stattgefunden.[6]

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Warum ein jüdischer Friedhof?

Heute: Priorität der politischen Gemeinde

Die Einrichtung und Unterhaltung eines Friedhofs ist für uns heute eine Angelegenheit der politischen Gemeinde. Sie stellt den Friedhof zur Verfügung, ebenso die Grabstätten; sie erlässt Friedhofsordnung und Gebührensatzung; sie ist die erste Institution, mit der die Angehörigen einer verstorbenen Person den Beerdigungstermin zu verabreden haben, weil gemeindliche Angestellte auch das Grab ausheben und anschließend wieder auffüllen. Die politische Gemeinde legt auch fest, wie lang die maximale Ruhefrist für eine Grabstätte ist und ab wann sie für eine weitere Bestattung genutzt werden kann.

Dieser kommunalpolitischen Priorität haben sich alle zu fügen: die Angehörigen von Verstorbenen wie auch die Kirchen, deren Pfarrer die Beerdigungsfeierlichkeiten meist gestalten. Warum – so mag man da fragen – sollte dies für Juden nicht ebenso gelten wie für Christen, Gläubige anderer Religionen oder Personen ohne Religionszugehörigkeit?  
 
Juden wollen jüdischen Friedhof

Im Altertum hat es sicherlich nicht immer ausschließlich jüdische Friedhöfe gegeben, nicht in Israel und noch weniger in anderen Ländern. Aber wie in anderen Religionen auch gab es im Judentum das dringende Bedürfnis nach einem Friedhof, der nach den religiösen und kulturellen jüdischen Bedürfnissen und mindestens vermeintlichen Notwendigkeiten eingerichtet ist.
 
Nach Jerusalem blicken

Da gibt es zum Beispiel die Tradition, die Füße der Toten nach Südosten – in Richtung auf Jerusalem – auszurichten. Bei vielen jüdischen Friedhöfen ist das anders, aber immerhin ist dies eine Tradition.  
 
Sonderrolle der Kohanim

Oder es ist aus rituellen Gründen notwendig, separate Eingänge für die bereits erwähnten „Kohanim“ vorzusehen, die bei Beerdigung ihrer Angehörigen nicht an anderen Gräbern vorbei gehen dürfen, weil sie dies unrein machen würde. Es gibt jüdische Friedhöfe, bei denen es keine solchen separaten Eingänge gibt oder auf denen in der Nähe solcher Eingänge keine Grabstätten für die Angehörigen dieser Kohanim mehr eingerichtet werden können.  
 
Nutzungsverbot

Drittens dürfen jüdische Friedhöfe nicht kommerziell genutzt werden, und zumindest bis ins vorige Jahrhundert hinein war es auch auf deutschen Friedhöfen üblich, die Grasflächen an ortsansässige Bauern zu verpachten. Allerdings haben auch die Vöhler Juden diese Regel nur dann eingehalten, wenn sie ihnen gerade eingefallen war. Aus den Gemeindeakten geht hervor, dass über viele Jahre hin der Pachterlös für das Friedhofsgras auf der Einnahmenseite der Jahresrechnungen verbucht wurde. 1855 war dies immerhin ein Betrag von 1 ½ Gulden, den man von dem Pächter Karl Bangert bekam. 1861 amtierte ein jüdischer Gemeindevorstand, dem Baer Stern und L. Schönhof angehörten und der das jüdische Nutzungsverbot nun realisieren wollte. [7]  
 
Bis zum Jüngsten Gericht

Viertens schließlich passt eine zeitlich begrenzte Ruhefrist nicht zu der jüdischen Vorstellung, dass der Verstorbene auf ewige Zeiten – eben bis zum Tag des „Jüngsten Gerichts“ – ein Anrecht auf seinen Bestattungsplatz hat. Doch auch auf den deutschen Friedhöfen gab es sicherlich nicht immer eine auf 30, 40 oder 50 Jahre begrenzte Ruhezeit, und über Sonderregelungen für Angehörige der jüdischen Religion könnte man sicherlich auch heute mit den Kommunen reden. Ein einziger dieser erwähnten vier Gründe wird es also nicht sein, wenn Juden danach strebten, eigene Friedhöfe einzurichten. Aber alle genannten und weitere Aspekte zusammen begründen dieses Bedürfnis.  
 
Die Grablege der Erzväter

In Thora und Bibel wird die Bedeutung deutlich, die dem Begräbnisplatz beigemessen wird. Abraham zum Beispiel erwarb eine Höhle auf einem Acker bei Hebron als Familiengrab, wo er seine Frau Sara beerdigte[8], und auch er selbst wurde dort bestattet[9]. Jakob bestand darauf, dass seine Leiche von Ägypten dorthin überführt wurde, wo inzwischen auch sein Vater Isaak und seine Mutter Rebekka sowie seine erste Frau Lea beerdigt worden waren[10], und beim Auszug aus Ägypten „belasteten“ sich die Juden mit den Gebeinen Josefs, die sie in ein anderes Familiengrab brachten[11].  
 
Erde des Gelobten Landes

Für Juden ist es von besonderer Bedeutung, im Land Israel bestattet zu werden. Die Vorstellung von der Auferstehung war einmal auf dieses Land begrenzt oder sie sollte auf jeden Fall dort beginnen. Heute sieht man dies wohl nicht mehr so eng, doch zumindest symbolisch lassen sich Juden immer noch gern in der Erde des „Gelobten Landes“ bestatten, indem sie sich ein Säckchen mit Erde aus Israel in den Sarg legen lassen.


Diese Tradition ist für Vöhl zwar nicht verbürgt, doch ist zu vermuten, dass auch Vöhler Juden eine solche Grabbeigabe in die Särge ihrer Angehörigen gelegt haben.    

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Warum ein jüdischer Friedhof in dieser Zeit und an diesem Ort?

Deutschland als „Neues Jerusalem“

Der Friedhof der jüdischen Gemeinde Vöhls, Basdorfs, Marienhagens und Oberwerbas – ob Juden aus dem letztgenannten Ort dort bestattet wurden, ist unbekannt – wurde ungefähr zur selben Zeit wie jüdische Schule (1827) und Synagoge (1829) eingerichtet. Die Lebensverhältnisse der Juden in Deutschland, besonders im Großherzogtum Hessen-Darmstadt und damit in Vöhl, hatten sich in dieser von Aufklärung und bürgerlicher Emanzipation geprägten Zeit sehr verbessert. Sie bekannten sich offen zu ihrer anderen Religion, und die Mitbürger ließen dies ganz offensichtlich zu. Von Deutschland sprach man unter den Juden der damaligen Zeit sogar von einem „neuen Jerusalem“.  
 
Selbstbewusste Judenführer in Vöhl

Ein Weiteres mag eine Rolle gespielt haben: Offensichtlich wurde die Vöhler jüdische Gemeinde in jenen Jahren von Personen geführt, die das Selbstbewusstsein, den Mut und die Kraft hatten, all dies anzupacken und in die Tat umzusetzen. Ob dies nun die Gemeindevorsteher waren, bei deren Auswahl die staatliche Obrigkeit beteiligt war, oder ob andere aus dem Hintergrund heraus erfolgreich agierten, ist unbekannt. Wie wir aus den Streitigkeiten um die Finanzierung von Schule und Synagoge wissen, gehörten die Basdorfer jüdischen Familien – die Kaisers, Löwensterns und Külsheimers – wohl nicht zu den Förderern dieser Einrichtungen. Neben dem schon erwähnten Joseph Blum scheinen Ascher und Selig Rothschild, Selig und Baer Stern, vielleicht auch einzelne Männer aus den Familien Kugelmann und Katzenstein zu diesen treibenden Kräften gehört zu haben. Mehrmals ist in den vorliegenden Akten von Zuwendungen Ascher Rothschilds die Rede, wenn er auch sicherlich nicht im Übermaß gespendet hat. Anderenfalls hätte es die Auseinandersetzungen mit den Basdorfer Glaubensbrüdern sicherlich nicht gegeben. (Sie hatten moniert, dass Rothschild weniger gegeben hätte als vorher zugesagt.)  
 

Günstige Lage

Den Platz für den Friedhof hatten sich die Juden in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts offensichtlich selbst ausgesucht. Er lag etwas erhöht und außerhalb des Dorfes (was den Vorgaben des Talmud entspricht), nicht weit entfernt von jenen Teilen des Ortes, in denen die Juden hauptsächlich wohnten; nach den heutigen Straßenbezeichnungen sind dies: Arolser Straße, Mittelgasse und Schulberg. Auch für die Juden Marienhagens lag er recht günstig: Der kürzeste Verbindungsweg durch das Alte Feld ist nicht einmal drei Kilometer lang.


Die etwas erhöhte Lage ist für jüdische Friedhöfe erwünscht.  Der Tempelberg bei Jerusalem zum Beispiel war eine über Jahrhunderte bei Juden sehr beliebte Begräbnisstätte. Sowohl dieser Bestattungsort als auch das erwähnte Abrahamsche Erbbegräbnis bei Hebron lagen auch außerhalb der genannten Städte. Dies mag als ein Unterschied zu christlichen Friedhöfen betrachtet werden, die doch sehr häufig mitten im Ort rund um die Kirche angelegt wurden.

Die Umzäunung

Eiserner Zaun
Jägerzaun

Neuer Zaun 2009

Der Vöhler Friedhof war wohl immer, wie noch heute, von einem Zaun umgeben; möglicherweise handelte es sich früher einmal um ein Eisengitter, wie der Schmied Wilhelm Schmal berichtete, heute ist es ein „Jägerzaun“. 1864 plante der Gemeindevorstand den Zaun an dem Weg zum Alten Feld hin durch eine Mauer zu ersetzen, doch ist dies wohl nicht realisiert worden.

1911 scheint der Zaun etwas marode geworden zu sein, denn die Vorstandsmitglieder Ferdinand Kaiser, Abraham Blum und Emanuel Katzenstein, formulieren in ein Sitzungsprotokoll: „...Man soll, wenn wieder eine Reparatur notwendig ist, diese machen, indem es für uns ein Heiligtum ist.” Unklar ist, ob diese Aufgabe von der jüdischen oder der politischen Gemeinde ausgeführt werden sollte.

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Wie verlief eine jüdische Beerdigung Mitte des 19. Jahrhunderts in Vöhl und anderswo?

Die Begräbnisordnung

Im März 1844 legte die Regierung in Gießen den Vorständen der jüdischen Gemeinden in ihrem Bereich – und damit auch dem Vorstand der Vöhler Gemeinde – eine mit dem Großhessischen Rabbiner der Provinz Oberhessen abgestimmte Begräbnisordnung vor und bat um Stellungnahme. Dreißig Artikel umfasste das Regelwerk.

Da diese Begräbnisordnung einen interessanten Einblick in jüdische Begräbnisse gibt und uns recht anschaulich darüber informiert, wie auch in Vöhl, Basdorf und Marienhagen Jüdinnen und Juden beerdigt wurden, sei sie hier vorgestellt.

Die Gemeindevorstände oder die in jüdischen Gemeinden über Jahrhunderte hin üblichen Begräbnisgesellschaften sollten die Bestattungen zusammen mit dem Gemeindediener vorbereiten und durchführen. Die medizinisch-polizeilichen Vorschriften sollten eingehalten werden; sie sind nicht näher erläutert, doch ging es wohl um die Zeitspanne zwischen Tod und Beerdigung sowie um die Behandlung des Leichnams. Das Aussehen von Leichenwagen und Leichenbahre wurde beschrieben. Für Vöhl wissen wir, dass es eine Bahre gab, die an Haken an der Südostseite der Synagoge im „Gässchen“ zum Kirle hin angebracht war.
 
Der Weg zum Friedhof

Für Leichenträger und –begleiter waren schwarze Kleidung und Hut vorgeschrieben. Im Trauerzug sollten dem Sarg mit der Leiche zunächst die Verwandten, dann der eventuell anwesende Rabbiner, Vorsänger oder Lehrer und die Vorsteher der jüdischen Gemeinde folgen.

Da es in Vöhl keinen Rabbiner gab und rituelle Handlungen in der Regel vom Lehrer durchgeführt wurden, wird er also den Verwandten gefolgt sein. Wenn die Leichen, wie in Vöhl, auf einer Bahre getragen wurden, sollten doppelt so viele Leichenträger, wie zum Tragen erforderlich, eingesetzt werden, um einen Wechsel der Träger, der gleichzeitig und geordnet zu geschehen hatte, zu ermöglichen. Innerhalb des Ortes sollte ein solches Abwechseln der Träger nur im Notfall stattfinden. Wenn ein Leichenwagen zum Einsatz kam, sollte diesem ein feierliches „Conduct“, bestehend aus acht erwachsenen Gemeindegliedern, „paarweise und langsamen, geordneten Schrittes“ folgen. Alle Gemeindemitglieder vom 18. bis 60. Lebensjahr hatten einer Aufforderung des Gemeindevorstandes zum Tragen oder Begleiten einer Leiche Folge zu leisten. Der Gemeindevorstand hatte die Reihenfolge der Personen festzulegen und streng einzuhalten.
 
Die Beerdigung

Das Begräbnis auf dem Friedhof selbst sollte in möglichster Stille erfolgen. Laut sprechen durfte nur der Rabbiner oder eine andere vom Gemeindevorstand beauftragte Person. Ausdrücklich betont wurde, dass die anderen Teilnehmer am Begräbnis die Gebete nur leise mitsprechen durften.

Der Vöhler Vorstand, der 1844 aus Bär Stern[12], Simon Kugelmann[13] und Isaak Rothschild[14] bestand, stimmte dem Konzept zu, merkte aber an, dass die Gemeinde keinen Leichenwagen kaufen könne und es deshalb wie bisher Sache der Angehörigen sein solle, bei Bedarf Verträge über die Benutzung eines solchen Wagens abzuschließen.

Da es in Vöhl keinen Rabbiner gab, wurde die Beerdigung auf dem Friedhof wahrscheinlich in der Regel vom Lehrer, manchmal vielleicht auch von einer anderen vom Religionsvorstand beauftragten männlichen Person vorgenommen. Dies galt sicherlich vor allem für die Zeit nach 1922, da dann der Lehrer, wie es sich der damals amtierende Louis Meyer von der vorgesetzten Behörde bestätigen ließ, das Kultusamt nicht mehr ausführen musste. Hermann Mildenberg und vielleicht auch Bernhard Frankenthal kamen dafür nach unserem derzeitigen Informationsstand am ehesten in Frage. Möglicherweise holte man auch den jüdischen Lehrer Stern aus Frankenberg, der in Vöhl auch den jüdischen Religionsunterricht erteilte.
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Was berichten Vöhler über jüdische Beerdigungen?

Die Beerdigung des Joseph Laser

Aus einem Bericht der Corbacher Zeitung haben wir von einer einzigen Beerdigung etwas ausführlichere Informationen. Anlässlich der Beisetzung des seit 1882 amtierenden Lehrers Joseph Laser, der im November 1906 während der Verlobung einer Tochter des Kaufmanns Abraham Blum abends um neun Uhr einen Toast ausbringen wollte und in eben dem Moment einem Herzschlag erlegen war, hielt der jüdische Lehrer Plaut aus Frankenberg – auch dort gab es also wohl keinen Rabbiner – die Traueransprache. Außerdem sprachen der Vöhler evangelische Pfarrer Kahler und ein Vertreter der Lehrerschaft auf Kreisebene.
 
„Grüß mir den Vater Abraham“

Obwohl an jüdischen Beerdigungen bis in die Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein auch Christen teilgenommen haben, liegen uns bisher nur Berichte von Personen vor, die damals als Kinder die eine oder andere Beobachtung machten, vielleicht auch dem doch etwas fremd anmutenden Ritus heimlich zuschauten.


Allen Berichten gemeinsam ist, dass ein Mann, wohl der Vorbeter, dem Verstorbenen auf dem Friedhof oder auch auf dem Weg dorthin zugerufen habe: „Grüß mir den Vater Abraham!“, und dass alle anderen im Dialekt ergänzt hätten: „Von mir auch!“ Durch jüdische Literatur werden solche Sätze nicht bestätigt, doch wird dort erwähnt, dass sich manchmal regionale Gebräuche entwickelt hätten. Wenn der Leichenwagen einen Toten von Marienhagen nach Vöhl brachte, sollen die Teilnehmer am Trauerzug immer wieder den erwähnten Satz gerufen und andere die entsprechende Antwort gegeben haben. 
 
Märchen oder Wahrheit?

Eine sehr seltsam anmutende Sitte wird von mehreren Personen erzählt: Der Leichnam einer vor dem Sabbat gestorbenen Person, deren Leiche über den Feiertag hinweg im Haus aufgabahrt bleiben musste, sei an der Tür aufgehängt und geschlagen worden. Die Begründung: Die Toten hätten durch ihren Tod den Sabbat geschändet und würden dafür bestraft.


Von den drei Männern, die von dieser Sitte berichteten, war allerdings einer noch nicht geboren, als die Person starb, von deren Tod er erzählte; er hatte es also von anderen gehört. Der zweite war gerade mal drei Jahre alt, als der erzählte Todesfall eintrat. Der Dritte berichtete nur allgemein von diesem Brauch, ohne einen bestimmten Fall zu nennen.

Eine Überprüfung der von den Zeugen genannten Fälle (Regine Schönthal, Marienhagen; Samuel Katzenstein I, Vöhl) ergab, dass die betreffenden Personen tatsächlich an einem Freitag, also direkt vor Beginn des Sabbat, gestorben sind. Kenner der jüdischen Riten, die hierzu befragt wurden, kannten einen solchen Brauch nicht. Einige schlossen ihn mit Verweis auf religiöse Grundsätze des Judentums aus, andere meinten, dass es auch im Judentum sehr seltsame Richtungen gegeben habe und noch gebe. Möglich erscheint allerdings auch, dass man sich mit einem rituellen, vielleicht nur angedeuteten Schlagen begnügt hat. Nicht im Einklang steht diese Sitte allerdings mit der großen Achtung, die Juden dem Körper eines Toten entgegenbringen.

Ein Fazit im Hinblick darauf, ob es diesen Brauch wirklich gab, gibt es nicht. Skepsis ist jedenfalls angebracht. Antisemitisches oder allgemein fremdenfeindliches Denken im Umfeld derer, die darüber berichteten, mag zum Erfinden solcher Geschichten beigetragen haben. In der Erinnerung wird Gehörtes manchmal zu etwas vermeintlich Erlebtem. Die oft anzutreffende menschliche Eigenschaft, Gehörtes oder Gesehenes zu dramatisieren und zu verzerren, mag ein Übriges dazutun.
 
Weitere Vöhler Bräuche

Ebenfalls nicht durch Literatur über das Judentum belegt ist der von einer Vöhlerin erzählte Brauch, dass der Vorbeter oder Lehrer während der Beerdigungszeremonie auf einem Aschesack stand. Asche als Vergänglichkeit Symbolisierendes, den Rest von Gewesenem darstellend, das leuchtet ein, begründet aber doch vielleicht auch nur einen regionalen Brauch.


Einer der Zeitzeugen berichtet von zwei Grabbeigaben für Juden; man habe ihnen einen Beutel mit Silbergeld (allerdings nur bis zum 1. Weltkrieg) und einen weiteren mit Kieselsteinen ins Grab gelegt. Das Geld – so der Zeuge - sollte als Wegzehrung dienen, und mit den Kieselsteinen sollte sich der Verstorbene am Himmelsfenster bemerkbar machen. Bei dem Beutel mit Kieselsteinen könnte es sich auch um die bereits erwähnte Erde aus Israel gehandelt haben. 
 
Keine Frauen, keine Kohanim

Einigkeit bestand bei den hiesigen Zeitzeugen darüber, dass nicht alle Juden an Beerdigungen teilnahmen. Weibliche Angehörige seien zu Hause geblieben. Dies mag so gewesen sein. Jüdischen Frauen ist das Betreten des Friedhofs zwar nicht verboten, doch wird in der Literatur zu jüdischen Begräbnissen häufig darauf hingewiesen, dass Frauen der Beerdigung fern bleiben, um allzu rührende Trauerszenen zu vermeiden. Tränen seien den Angehörigen zwar gestattet, aber auch die Angehörigen sollten sich möglichst ruhig und würdevoll verhalten.


In der Regel nahmen die Nachfahren des Aaron, die Gott als Priester eingesetzt, nachdem er Moses die Gesetzestafeln gegeben hatte, nicht an Beerdigungen teil. Sie sollen mit Toten nicht in Berührung kommen (Ausnahmen gelten nur bezüglich der Eltern, Kinder und des Ehegatten) und auch nicht den Friedhof betreten. Von den Vöhler jüdischen Familien zählten sich die Katzensteins zu diesem Stamm des Aaron. Allerdings sei wiederholend angeführt, dass diese Priesterschaft seit der Zerstörung des Tempels nicht mehr ausgeübt wird. Die Männer aus dieser Familie nehmen nur noch sehr wenige kultische Aufgaben wahr, sprechen zum Beispiel den Segen über die Gemeinde und haben über das Übliche Hinausgehende Reinheitsgebote zu berücksichtigen; dies betrifft eben vor allem auch den Umgang mit Toten. Angehörige dieser Familie standen bei Beerdigungen auf dem Friedhof abseits von den anderen und oft auch nicht in der Nähe von Gräbern. Hin und wieder hatten sie einen separaten Eingang zum Friedhof, der es ihnen ermöglichte, an der Bestattung eines nahen Angehörigen wenigstens aus der Entfernung teilzunehmen, ohne an einem Grab vorbeigehen zu müssen. 
 
Jüdische Beerdigungsriten

Der jüdische Ritus schrieb die Bestattung ursprünglich für den Todestag vor. Diese Regel wurde im Laufe der Zeit gelockert, doch zumindest in Israel finden Beerdigungen üblicherweise am Tag nach dem Tode statt.


Als Sarg diente auch in Vöhl eine einfache Holzkiste; Särge aus Edel- oder Eichenholz sind Juden fremd. Der Leichnam wird einfach bekleidet, manchmal mit einem seit Jahrzehnten für diesen Zweck aufgehobenen Totenhemd. Der männliche Leichnam wird zusätzlich in den Tallit, den Gebetsmantel, gehüllt. Während der Beerdigung reißen sich die Angehörigen ein Kleidungsstück ein. Heute handelt es sich dabei häufig nur um ein Stoffstück, das man vorher zum Zerreißen an der Kleidung befestigt hat.

Die wichtigste Handlung bei der Bestattung ist das Beten des „Kaddisch“ durch den ältesten Sohn oder ein anderes männliches Familienmitglied. Der Tod spielt in diesem Gebet keine besonders wichtige Rolle; im Mittelpunkt steht die Verherrlichung Gottes. Weil dieses Gebet einen kleinen Einblick in die jüdische Religion gibt, auch die Nähe zu christlichem Denken illustriert, sei es hier in einer der vielen Übersetzungen angeführt. Gebetet wird es allerdings normalerweise in aramäischer Sprache. 
 

Das Kaddisch

Erhoben und geheiligt,
sein großer Name,
in der Welt die er erneuern wird.
Er belebt die Toten,
und führt sie empor zu ewigem Leben,
Er erbaut die Stadt Jiruschalajim
und errichtet seinen Tempel auf ihren Hoehen,
Er tilgt die Goetzendienerei von der Erde
und bringt den Dienst des Himmels wieder an seine Stelle,
und regieren wird der Heilige,
gelobt sei er,
in seinem Reiche und in seiner Herrlichkeit,
in eurem Leben und in euren Tagen
und im Leben des ganzen Hauses Israel
schnell und in naher Zeit,

Und sprechet: Amejn.

Sein großer Name sei gelobt,
in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten!
Es sei gelobt und verherrlicht
und erhoben und gefeiert
und hocherhoben und erhoeht
und gepriesen der Name des Heiligen,
gelobt sei er,
hoch hinaus über jede Lobpreisung und jedes Lied,
jede Verherrlichung und jedes Trostwort,
welche jemals in der Welt gesprochen,
Und sprechet: Amejn.
Es sei der Name des EWIGEN gelobt,
von nun an bis in Ewigkeit!

Es sei Fülle des Friedens vom Himmel herab,
und Leben,
über uns und über ganz Israel,
Und sprechet: Amejn.

Meine Hilfe kommt vom EWIGEN,
dem Schoepfer des Himmels und der Erde.
Der Frieden schafft in seinen Hoehen,
er schaffe Frieden unter uns und ueber ganz Israel,
Und sprechet: Amejn.

 
Strafe für Lehrer Flörsheim

Ein weiterer Todesfall in der jüdischen Gemeinde fand Eingang in die Berichterstattung der Corbacher Zeitung vom 17. Dezember 1913. Sarah Kugelmann wurde in jenem Jahr von dem Lehrer Julius Flörsheim beerdigt. Gegen diesen wurde Strafbefehl erlassen, weil er den Leichnam bestattete, ohne sich vergewissert zu haben, dass die Ortspolizeibehörde den Leichenschein ausgestellt hatte. Flörsheim erhob Einspruch, weil dies Sache der Angehörigen oder der Hausgenossen, nicht aber die des Lehrers sei. Obwohl das Gericht ihm zugestehen musste, dass das Gesetz lückenhaft sei, verurteilte es ihn zu einer Mark Strafe, weil er als Religionsdiener  für die Erfüllung der gesetzlichen Verpflichtungen zu sorgen habe.
 
Selbstmord als Sünde

Selbstmörder werden nach jüdischem Ritus möglichst unauffällig am Rand des Friedhofs, entfernt von den anderen Grabstellen, bestattet, da ihr Handeln als Sünde gesehen wird. Von einem Juden – Louis Friedrich Blum - ist bekannt, dass er sich selbst getötet hat. Sein Grabstein steht heute mitten unter den anderen; ob dies auch ursprünglich so war, ist unbekannt. Möglicherweise war das Grab ursprünglich an ganz anderer Stelle, am Rand des Friedhofs.
 
Die letzten Beerdigungen

Einer der letzten auch für den jüdischen Friedhof zuständigen Totengräber war Heinrich Schmidt aus dem Friedhofsweg.

In den 30er Jahren wurden Frida Blum, Levi Mildenberg, Salomon Mildenberg und Bernhard Frankenthal auf dem Vöhler jüdischen Friedhof bestattet.

Die letzte Beerdigung wurde Anfang März 1940 durchgeführt, und zwar handelte es sich um die der am 2. März an einem Schlaganfall verstorbenen Emma Frankenthal, deren Name von den Behörden zu Esther Sara umgeändert worden war. Kurz nach dem Tod der alten Frau wurde deren Tochter Bertha von Vöhl nach Osten deportiert; ihre Spur verlor sich in Minsk.

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Jüdische Trauergewohnheiten

Bezüglich dieser Thematik können wir uns nicht auf Berichte aus Vöhl beziehen. Deshalb kann nur allgemein darüber berichtet werden, welche Gebräuche es unter Juden gibt. Fromme Vöhler Juden werden zumindest in einigen Punkten entsprechend diesen Regeln gehandelt haben.

Eine dieser Regeln ist, dass der Sohn eines Verstorbenen ein Jahr lang täglich das Kaddisch sagt, und zwar nie allein, sondern stets im Rahmen eines Gottesdienstes, bei dem nach jüdischem Gesetz mindestens zehn Männer teilnehmen müssen. (Es kann unterstellt werden, dass dies in Vöhl nicht so gewesen ist; soweit wir dies wissen, gab es zumindest in den 20er und 30er Jahren keine täglichen Gottesdienste.)

Die nächsten Angehörigen sind in der Zeit vor dem Begräbnis von religiösen Verpflichtungen befreit, um sich dem Verstorbenen ganz widmen zu können. Fleisch und Wein sollen nicht verzehrt, lederne Kleidung nicht getragen werden. Haare schneiden und Rasieren sind in dieser Zeit ganz verboten.
 
Erster Trost

Direkt nach der Beerdigung sind erstmals Trostworte gegenüber den Angehörigen erlaubt. In streng orthodoxen Gemeinden bilden die Trauergäste ein Spalier, durch das die nächsten Verwandten hindurch gehen. „Gott tröste euch inmitten aller übrigen Trauernden Zions und Jerusalems“, ist der traditionelle Trostspruch, der bei dieser Gelegenheit gesagt wird.


Nach der Beerdigung gibt es keinen „Beerdigungskuchen“, keine Einladung zu einem Zusammensein. Allerdings versorgen die Nachbarn und Freunde die Trauernden an diesem Tag mit Nahrungsmitteln.
 
Die Trauerwoche

Dem Tag der Beerdigung folgt die „Schiwa“ (= die sieben Tage), die Trauerwoche, in der die Angehörigen zusammen bleiben und das Trauerhaus nicht verlassen. Gemeindemitglieder besuchen sie, beten mit ihnen, und es sind auch Gottesdienste möglich. Nur zum Sabbat-Gottesdienst – und auch dann nur eingeschränkt – verlassen sie in dieser ersten Woche das Haus und gehen in die Synagoge. Dem Beruf nachgehen darf der fromme Jude nur, wo dies unvermeidlich ist.
 
Trauermonat und Trauerjahr

Die Trauerzeit ist damit noch nicht vorbei. Die Schlochim (= dreißig) dauert dreißig Tage, vom Tag der Beerdigung an berechnet. Die Angehörigen nehmen in dieser Zeit nicht an Hochzeiten oder Tanzveranstaltungen teil; auch Kino- oder Theaterbesuche sollen unterbleiben. Wenn Vater oder Mutter sterben, dauert diese Trauerzeit ein Jahr. Während dieses Trauerjahres brennt ein Ewiges Licht im Haus des Verstorbenen.

Am Jahrestag des Todes ist „Jahrzeit“. Im Rahmen eines Gottesdienstes sprich der Sohn das Kaddisch. Und nach jüdischem Ritus soll dies alljährlich so sein, so lange der Sohn lebt.

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Schändung des Friedhofs

„Das war keiner von uns“

Ein erstes Mal wurde der jüdische Friedhof 1935 oder 1936 geschändet, indem Grabsteine umgeworfen wurden. Im Zuge einer Untersuchung nach dem Kriege verlangten die Besatzer vom damaligen Pfarrer eine Stellungnahme, der schriftlich erklärte, dass es in Vöhl nie Übergriffe gegen Juden gegeben habe und auch die Friedhofsschändung nicht von Ortsbürgern, sondern von Jugendlichen aus Nachbarorten verübt worden sei. Nun wissen wir nicht, wer die Grabsteine umgeworfen hat; Gewalthandlungen gegen Juden hat es allerdings auch in Vöhl gegeben, von denen auch der Pfarrer gewusst haben wird. Deshalb ist zumindest als wahrscheinlich zu unterstellen, dass auch die Grabsteine von ortsansässigen Männern oder Jungen umgestoßen wurden.
 
Arisierung der jüdischen Friedhöfe

Ab Juni 1940 kümmerte sich der Regierungspräsident um die jüdischen Friedhöfe. Sie hätten „räumlich eine unverhältnismäßig große Ausdehnung“ genommen und sollten der deutschen Wirtschaft zugeführt werden, wie es in einer Akte vom 15. Juni jenes Jahres hieß. Man sprach von einer „Arisierung der Friedhöfe“; in Notfällen seien Umbettungen vorzunehmen; die Kosten solle der jüdische Kultusverein tragen. Noch Ende 1940 bestand der jüdische Totenhof in Vöhl; Eigentümer sei „die israelitische Gemeinde in Vöhl“, heißt es in einem Dokument vom Dezember.


Im Februar 1941 schloss der Regierungspräsident neben den Friedhöfen in Frankenau, Gemünden, Altenlotheim, Grüsen, Battenfeld, Frohnhausen und Oberasphe auch den in Vöhl. Als einziger jüdischer Friedhof im Kreisgebiet sollte der in Frankenberg bestehen bleiben.

Im April desselben Jahres erkundigte sich der Frankenberger Landrat angelegentlich beim Vöhler Bürgermeister über den jüdischen Friedhof: Wie groß er sei, eine wie große Fläche noch nicht belegt sei, wie groß die Fläche sei, auf der die Gräber länger als 30 Jahre bestehen. Der Bürgermeister antwortete so gut er konnte und das Gesundheitsamt erklärte noch im selben Monat, keine Bedenken gegen eine neue Nutzung zu haben.  
 
Die Grabsteine werden abgeräumt

Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt wurden alle Grabsteine abgeräumt und in die Basdorfer Straße transportiert. Dort sollten sie bei Baumaßnahmen verwendet werden. Eine große Zahl von Grabsteinen ist auf diese Weise verschwunden. Ob sie in einem der Häuser oder beim Straßenbau genutzt wurden, ist unbekannt. Auch hierzu wurde der Gemeindepfarrer nach dem Kriege gefragt und gab an, dass man sich dabei nichts Besonderes gedacht habe. Auch die Grabsteine von christlichen Verstorbenen würden seit alten Zeiten bei Baumaßnahmen verwendet. Eine antijüdische Haltung sei der Bevölkerung deshalb nicht zu unterstellen.

Ganz ähnlich wurde übrigens in Naumburg verfahren. Dort hatte man die Grabsteine ebenfalls abgeräumt, sie zerschlagen und teilweise zu Pflastersteinen im Straßenbau in der Ortslage benutzt. Die aus den Steinen herausgelösten Marmorplatten sollen mit der Inschrift nach oben im Straßenraum verlegt worden sein. Und auch dort hat man wohl einen Teil der Steine beim Hausbau benutzt.[15]   

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Der jüdische Friedhof nach Kriegsende

46 Grabsteine blieben erhalten

46 Grabsteine sind heute noch auf dem jüdischen Friedhof. Nach dem Kriegsende – in der Zeit der Besatzung durch die Amerikaner - wurden die übrig gebliebenen zurück gebracht und wieder aufgestellt. Natürlich fehlen viele Steine. Die Zahl der Jüdinnen und Juden, die in der Zeit zwischen der Einrichtung des Friedhofs im Jahre 1830 und der letzten Beerdigung im Jahre 1940 in Vöhl starben und bestattet wurden, kann nicht genau ermittelt werden; es werden aber weit über hundert, vielleich an die zweihundert gewesen sein. Paul Arnsberg schreibt in seinem Buch über die jüdischen Gemeinden in Hessen, im Februar 1967 seien es noch 60 bis 70 Grabsteine gewesen. Dass zwischen 1967 und heute noch einmal ca 15 bis 25 Grabsteine verschwunden sind, ist zu bezweifeln. Arnsberg hat – wenn er überhaupt in Vöhl war – die Zahl wohl nur geschätzt, die Steine aber nicht gezählt.


1964, so zeigen es Bilder, die von der Polizei aufgenommen wurden, waren wieder zahlreiche Grabsteine umgefallen. Wahrscheinlich hatte man sie nicht fest genug in der Erde verankert. Als die Polizei drei Jahre später wieder fotografierte, standen alle Steine sehr ordentlich dort, wo sie auch heute noch stehen. Die Polizei erkundigte sich beim damaligen Vöhler Bürgermeister Hermann Huffert, der erklärte, dass Max Mildenberg, der sich häufig in Vöhl aufhalte, die Grabsteine wohl wieder aufgerichtet oder dies doch zumindest veranlasst habe.
 

Die Anordnung der Grabmale

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Die heute noch vorhandenen Steine stehen mit Sicherheit nicht am richtigen Platz. Einige wurden bei der Wieder-Aufstellung zu tief eingegraben, so dass Teile der Inschrift nicht mehr zu erkennnen sind. Ein Stein ist verkehrt herum eingegraben.


Die Steine sind heute in 11 Reihen angeordnet; in einigen Reihen stehen nur zwei, in den anderen bis zu 9 Grabsteine. Dass die älteren Steine nahe beim Dorf, die neueren zum Feld hin stehen, scheint Absicht gewesen zu sein. Möglicherweise hat man zumindest versucht, die Steine ungefähr dorthin zu stellen, wo sie sich vorher befanden. Diesen Eindruck gewinnt man auch, wenn man sieht, dass zumindest in zwei Fällen die Grabsteine von Ehegatten nebeneinander stehen: die von Emanuel und Fanny Katzenstein sowie die von Samuel Katzenstein und seiner ersten Frau Fanny. Die Steine von Rosa Külsheimer und ihrer Tochter Selma wurden ebenfalls nebeneinander platziert.  Den Stein von Rosas Mann Bendix hat man allerdings nicht dazu gestellt. Weit auseinander stehen auch die Steine von Moritz Rothschild und seiner Frau Karoline. Bei den Ehepaaren Katzenstein wie auch bei den Rothschilds fällt auf, dass man die selben Steine benutzt hat.

Ansonsten sind die Grabmale sehr verschieden gestaltet. Dies mag mit dem Geschmack der Angehörigen und mit deren Geldbeutel zu tun gehabt haben, sicherlich aber auch damit, welcher Steinmetz den Stein jeweils geschaffen hat.

Einige Steine hatten eine Marmor- oder Steinplatte, die in den meisten Fällen verschwunden ist. Christiane Kupski, geb. Hilmes, die über den Vöhler Friedhof gearbeitet hat, stellt fest, dass in Marienhagen in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts dieselben Steine verwendet wurden. Dies könnte ein Anhaltspunkt für Vermutungen darüber sein, welchen Verstorbenen die Steine gewidmet sind.

Ganz alte Steine haben nur eine hebräische Inschrift. Auf einigen Steinen ist entweder auf der anderen Seite oder unter dem hebräischen Text eine deutsche Inschrift zu lesen. Einige der neuesten Steine weisen nur noch den deutschen Text auf.  

 
Die Inschriften

Fast alle Grabinschriften beginnen sowohl in der deutschen als auch in der hebräischen Version mit „Hier ruht“ oder „Hier liegt begraben“. In der hebräischen Inschrift wird dies stets durch zwei Schriftzeichen abgekürzt. Es folgt meist der Name, wobei hier oft nicht der Name genannt ist, mit dem man die Person im täglichen Leben angesprochen hat, sondern ein zweiter Name. Während der erste Name, der in der deutschsprachigen Inschrift genannt ist, oft ein bei uns üblicher Name ist (z.B. Bernhard, Hermann, Moritz), erscheint uns der zweite Name in der Regel fremd, da er jüdische, meist biblische Wurzeln hat.


Nach dem Namen des oder der Verstorbenen wird der Vatersname angefügt.

Die Schlussformel ist auf allen Grabsteinen identisch: „Seine Seele möge eingebunden sein in das Bündel des Lebens.“ Dieser Vers geht nach Meinung von Paulgerhard Lohmann und Jeschied Ogdan[16] zurück auf 1. Samuel 25, 29, wo es heißt: „Und wenn sich ein Mensch erheben wird, dich zu verfolgen und dir nach dem Leben zu trachten, so soll das Leben meines Herrn eingebunden sein im Bündlein der Lebendigen bei dem Herrn, deinem Gott, aber das Leben deiner Feinde soll er fortschleudern mit der Schleuder.“ Dieser die Erhaltung des natürlichen Lebens meinende Vers sei, so die beiden Autoren, später auf das Leben nach dem Tode bezogen worden und sie fahren fort: „Der Redewendung liegt ... das Bild zugrunde, dass der einzelne Mensch wie ein Zweig ist, der im Tod abgeschnitten und mit anderen Zweigen zu einem Bündel zusammengebunden und bei Gott zur Wiedereinpflanzung verwahrt wird. Entsprechend geht in dieser Inschrift [sie beziehen sich auf einen Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Fritzlar] so weiter: ‚Möge seine Seele verwahrt sein im Bündel des Lebendigen mit den anderen Gerechten im Garten Eden.’“

 Auf dem jüdischen Friedhof in Vöhl ist der Schlussvers übrigens nicht ausgeschrieben, sondern in allen Fällen durch fünf Schriftzeichen abgekürzt.

Hin und wieder – so z.B. bei Abraham, Emanuel  und Samuel Katzenstein oder bei Bernhard Frankenthal – enthalten die jüdischen Inschriften auch Charakterisierungen. Lohmann und Ogdan erkennen darin den Wunsch der Angehörigen, ihren lieben Verstorbenen Gott zu empfehlen.[17]
 
Jüdische Jahreszahlen

Im hebräischen Text findet sich das Todesdatum in jüdischer Zeitrechnung. Das von Schriftgelehrten mit Hilfe der Bibel errechnete Datum der Entstehung der Welt ist nach christlicher Zeitzählung der 1. Tischri des Jahres 3761 v.Chr.  Jetzt (Anfang des Jahres 2002) schreiben wir das jüdische Jahr 5762. Der Einfachheit halber wird auf den Grabsteinen die Tausenderzahl weggelassen und das Jahr in sogenannter „kleiner Zählung“ angegeben.


Darüber hinaus richten sich Juden nicht – wie wir – nach einem Sonnenkalender, sondern sie orientieren sich an den Mondphasen. Es gibt je nach Jahr 5-7 Monate mit 30 und 5-7 Monate mit 29 Tagen. In normalen Jahren kommen sie so auf 353 bis 355 Tage. Innerhalb von 19 Jahren wird sieben Mal ein Schaltjahr mit zusätzlichem Monat eingefügt; dann hat das Jahr 383-385 Tage. Nach einem solchen 19jährigen Zyklus entspricht der Mond- unserem Sonnenkalender.  
 

Ornamentaler Schmuck

Viele Steine weisen ornamentalen Schmuck auf. Selten nur findet sich der sogenannte Davidstern [Frida Blum (gest. 1933), Regine Schönthal (1933, Salomon Mildenberg (1934)]; einige Ornamente erinnern an Blumen und spielen wohl auf die Vergänglichkeit des Menschen an. Zwei sehr alte Steine, die nur die hebräische Inschrift aufweisen, haben an den Seiten eine steinerne Fackel. Am Grabstein von Bendix Külsheimer sind rechts oder links steinerne „Vasen“ erkennbar, die aber sicher nicht für den auf jüdischen Friedhöfen unüblichen Blumenschmuck gedacht waren. Mehrere Grabsteine für Männer und überraschenderweise auch Frauen aus der Familie Katzenstein tragen als Schmuck „segnende Hände“ mit gespreizten Fingern; dies ist das Symbol der Kohanim, der Priester aus dem Stamme des Aaron. Es fehlt die Kanne als Symbol der Leviten, die den Priestern die Hände wuschen. Zu diesem Stamm soll die Vöhler Familie der Sterns gehören. Lediglich der Stein des Selig Stern ist auf dem Vöhler jüdischen Friedhof vorhanden; eine Kanne ist nicht erkennbar.

Davidstern auf dem Grabstein 11.4 von Frida Blum

Blumenornament auf dem Grabstein 8.3 von Bendix Külsheimer 

Blumenornament auf dem Grabstein 5.2 von Levi Blum 

Blumenornament auf dem Grabstein 9.1. von Jehannette Katzenstein

Fackel am Grabstein Nr. 2.1 

„Vasen“ am Grabstein 8.3 von Bendix Külsheimer

„Segnende Hände“ auf dem Grabstein 8.9 von Abraham Katzenstein

Am prachtvollsten sind die Steine des Selig Stern und der Rachel Reichhard. Während Selig Stern sicherlich zu den prominenteren Vöhler Juden zählte, wissen wir von Rachel Reichhardt sehr wenig. Sie war die Tante – wohl Schwester der Mutter – von Cäcilie Katzenstein, geb. Reichhardt, die aus Wolfhagen stammte, in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts den jüngeren Samuel Katzenstein heiratete und 1898 zusammen mit anderen Vöhler Frauen den Vaterländischen Frauenverein gründete, der hilfsbedürftige und kranke Arme mit Nahrungsmitteln und Kleidung unterstützen wollte. Es ist zu vermuten, dass ihre Tante in Vöhl bei ihr wohnte und deshalb auch auf dem Vöhler Friedhof beerdigt wurde. 

 
Die Besuchssteine

Wenn die Angehörigen von Verstorbenen den Friedhof besuchen, so legen sie zum Zeichen dafür, dass sie da waren, einen kleinen Stein auf den Grabstein oder auf die Grabplatte. Der Ursprung dieser Sitte ist nicht bekannt. Möglicherweise steht er im Zusammenhang mit Beerdigungsgewohnheiten früherer nomadisierender Stämme. Wenn jemand starb, wurde er dort, wo man sich gerade befand, beerdigt, und zum Schutz vor Tieren oder vielleicht auch um das Wiederfinden zu erleichtern, wurde die Grabstelle mit Steinen bedeckt. Dies könnte dann bei späteren Besuchen jeweils wiederholt worden sein.


Eine andere Erklärung ist, dass Steine anstelle von im Mittelmeerraum schnell vertrocknenden Blumen und Pflanzen zeigen sollten, dass jemand da war. Besonders viele Steine liegen auf den Gräbern berühmter Rabbiner, deren Anhänger und Schüler sie dort platzieren um zu zeigen, dass ihr Lehrer oder Meister Anerkennung genießt.

Auf heutigen jüdischen Friedhöfen, selbst in Israel, aber auch in Frankfurt, findet man allerdings oft auch Blumen auf den Gräbern.

Juden besuchen die Gräber ihrer Angehörigen nicht sehr oft. Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass ein jüdischer Friedhof als unreiner Ort angesehen wird, was ja auch der Grund dafür ist, dass die Kohanim, die Nachfahren des Priesters Aaron, ihn nicht betreten und mit Leichen nach Möglichkeit nicht in Berührung kommen sollen. Wenn es allerdings geht, wird der Sohn das Grab der Eltern zur „Jahrzeit“, also am Jahrestag des Todes, besuchen.

Übrigens werden auf einem jüdischen Friedhof auch die Thorarollen und andere sakrale Gegenstände begraben, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.

Für den jüdischen Friedhof in Vöhl ist heute der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Hessen zuständig. Aufgrund einer Vereinbarung dieses Verbandes mit der Gemeinde pflegt diese die Anlage.

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Fußnoten

[1] Zum damaligen Kreis Vöhl gehörten – außer den Ortsteilen der heutigen Großgemeinde Vöhl – auch Altenlotheim und die Exklaven Höringhausen, Eimelrod, Hemmighausen und Deisfeld.. Das Amtshaus des Kreisrats stand in der Schlossstraße, wo sich heute der gemeindliche Bauhof befindet.

[2] Es ist noch unbekannt, wo Joseph Blum wohnte. Ein Vorfahr gleichen Namens hatte um 1705 sein Haus mit einiger Wahrscheinlichkeit auf dem Schulberg; sein Sohn Levi baute später sein Haus zwischen Arolser Straße und Schulhof. Es handelt sich um das kleine Haus gegenüber dem Hof Stracke.
[3] Heute ungefähr Mittelgasse 15; das Haus steht nicht mehr.
[4] Vermutlich hat man bei Alt-Asel die Eder überquert und ist über den Hardweg, der auf einer älteren Karte als „Heerstraße“ bezeichnet wird, bis zum Fahrentriesch bei Altenlotheim und dann durch den Pfaffengrund nach Frankenau gegangen. Übrigens hat es wohl einen weiteren Grund für das Bemühen um einen eigenen Friedhof gegeben. Wie Heinz Brandt in „Die Judengemeinde Frankenau“ berichtet, war der dortige Friedhof 1834 – also nur 4 Jahre später – für zu klein befunden worden und man musste Land dazukaufen. In Frankenau wurden übrigens auch die Juden aus Altenlotheim und – bis 1868 – auch die aus Frankenberg beerdigt.
[5] Die Identität dieses Georg Bock ist noch unbekannt. 1705 wohnte ein Georg Bock in direkter Nachbarschaft der Kirche. 1864 wohnte ein Johannes Bock im heutigen Haus Henkelstraße 4. Für die Zeit dazwischen liegt kein vollständiges Einwohnerverzeichnis vor.
[6] Die Dokumente zur Entstehung des Friedhofs sind im Staatsarchiv Marburg einzusehen unter Aktenzeichen MR 111k Vöhl 296
[7] Ähnlich war es möglicherweise in Frankenau. Dort benutzten die Einwohner den jüdischen Friedhof auch als Bleiche für die Wäsche und als Weide für Tiere.
[8] Vgl. 1. Moses 23, 19-20
[9] vgl. 1. Moses 25, 9-10
[10] vgl. 1. Moses 49, 29-32 u. 1. Moses 50, 12-13
[11] vgl. 1. Moses 50, 25 u. 2. Moses 13, 19 u. Josua 24, 32
[12] Bär Stern wohnte damals im Haus 22; dies entspricht dem heutigen Haus Arolser Straße 17
[13] Kugelmann wohnte in Haus 78, was dem heutigen Haus Kirchweg 4 entspricht
[14] Rothschild wohnte in Haus 57, dem heutigen Haus Arolser Straße 12
[15] vgl. Volker Knöppel, S. 35 f (vgl. Lit.-verz.)
[16] vgl. Lohmann/Ogdan S. 17 (s. Lit.-verz.)
[17] ebenda

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Literaturverzeichnis

Dokumente im Staatsarchiv Marburg MR 111k Vöhl
Dokumente im Archiv der Gemeinde Vöhl
Christiane Hilmes: Dokumentation des Jüdischen Friedhofs zu Vöhl/Edersee, Sommer 1991
Arnulf H. Baumann (Hrsg.): Was jeder vom Judentum wissen muß; Im Auftrag des Ausschusses "Kirche und Judentum" der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und des Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes, Gütersloh 1983
Heinz Brandt: Die Judengemeinde Frankenau, Frankenberger Hefte Nr. 1 - 1992
S. Ph. de Vries: Jüdische Riten und Symbole, Reinbek 1999
Volker Knöppel: "... da war ich zu Hause". Synagogengemeinde Naumburg 1503-1938, Hofgeismar/Naumburg 1998
Alfred J. Kolatch: Jüdische Welt verstehen. Sechshundert Fragen und Antworten, Wiesbaden 1999
Elena Loewenthal: Judentum, Bern, München, Wien 1998
Paulgerhard Lohmann, Jechiel Ogdan: Jüdische Kultur in Fritzlar, Beiträge zur Stadtgeschichte Nr. 13, April 1999
Reinhold Mayer: Der Talmud, München 1980
Marc-Alain Ouaknin, Laziz Hamani: Symbole des Judentums, Wien 1995
Alfred Paffenholz: Was macht der Rabbi...? Das Judentum, München 1998
Norman Solomon: Judentum. Eine kurze Einführung, Stuttgart 1999
Günter Sternberger: Jüdische Religion, 2. Aufl., München 1996
Karl Wilke: Die Geschichte der jüdischen Gemeinde Korbach, Korbach 1993

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Dokumentation des Jüdischer Friedhofs zu Vöhl

Aufgeschrieben und aus dem Hebräischen übersetzt von Christiane Hilmes; Sommer 1991

Das Folgende stellt - auch in den Fußnoten - zu großen Teilen eine Abschrift der Arbeit von Christiane Hilmes dar. In einigen wenigen Fällen erfolgte nach Rücksprache mit ihr eine Korrektur durch Karl-Heinz Stadtler.
Ergänzende Anmerkungen zu den einzelnen Gräbern erfolgten durch Karl-Heinz Stadtler und sind im Einzelnen kenntlich gemacht.
Die Textteile wurden digitalisiert und durch neue Fotos ergänzt von Kurt-Willi Julius im Dezember.

Geamtansicht des Jüdischen Friedhofs

©Kurt-Willi Julius

Fortsetzung

1 Einleitung

Der jüdische Friedhof in Vöhl existiert seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Vorher benutzten die Vöhler Juden den jüdischen Friedhof in Frankenau/Eder [1] .

46 Grabsteine sind noch vorhanden - im Februar 1967 sollen es noch 60 bis 70 gewesen sein [2]. Teilweise sind sie nicht mehr zu entziffern. Bei einer Art Grabstein wurde eine Marmor- oder Metallplatte in hiesigen Stein eingelegt. Diese Platten sind alle verschwunden. Da es diese Grabsteine auch auf dem Marienhagener Friedhof gibt, sind sie auf die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts zu datieren.

Die Steine stecken manchmal zum Teil im Boden, so daß nicht der ganze Text zu lesen ist. Ein Stein (1.1) steht auf dem Kopf.

Die Steine sind folgendermaßen nummeriert: Die erste Zahl gibt die Reihe an, die zweite die Nummer in der Reihe.

2 Überblick über den Friedhof (nicht maßstabsgetreu)
Für Details zu den Gräbern: Bitte klicken sie auf die Pins!
 

Alexander, Amalie geb. Katzenstein (1829-1918)
Blum, Frida geb. Stiefel (1855-1933)
Blum, Levi (1820-1885)
Blum, Louis Friedrich (1888-1915)
Frankenthal, Bernhard (1863-1934)
Frankenthal, Hermann Hirsch (1858-1920)
Kaiser, Belchen geb. Rothschild (1798-1882)
Kaiser, Salomon (1834-1908)
Katzenstein, Abraham 1833 (1833-1903)
Katzenstein, Emanuel (1839-1927)
Katzenstein, Esther geb. Löw (1800-1870)
Katzenstein, Fanny 1838 geb. Goldwein (1838-1906)
Katzenstein, Fanny 1846 geb. Wertheim (1846-1910)
Katzenstein, Jehannette geb. Wertheim (1850-1918)
Katzenstein Samuel 1 (1830-1909)
Külsheimer, Bendix (1843-1910)
Külsheimer, Rosa geb. Maiberg (1816-1889)
Külsheimer, Selma (1876-1900)
Laser, Joseph (1848-1906)
Mildenberg, Amalie 1858 (1858-1921)
Mildenberg, Levi (1853-1935)
Mildenberg, Michael (1805-1861)
Mildenberg, Regina (1825-1902)
Mildenberg, Regine geb. Speyer (1855-1923)
Mildenberg, Salomon (1857-1934)
Reichhardt, Rachel (1817-1874)
Rothschild, Karoline (1840-1919)
Rothschild, Moritz Moses (1833-1902)
Rothschild, Spring (1797-1833)
Schönhof, Rose, geb. Simon (1794-1866)
Schönthal, Regine, geb. Kratzenstein (1861-1933)
Stern, Selig (1800-1899)

Der deutsche Text auf den Grabsteinen ist von denen der Christen kaum zu unterscheiden. Im hebräischen Text findet sich das Todesdatum in jüdischer Zeitrechnung.

Die Juden zählen die Jahre seit der Schöpfung [3]. Danach befinden wir uns [jetzt, 1990] im Jahr 5751. Auf den Grabsteinen wird immer das Jahr in "kleiner Zählung" angegeben. Das bedeutet, daß die Tausenderzahl 5 weggelassen wird. Danach befinden wir uns jetzt [1990] im Jahr 751.

Während wir unsere Monate nach der Sonne richten, haben die Juden einen Mondkalender. Alle paar Jahre werden Schaltmonate eingefügt, um das Jahr wieder der Sonne anzugleichen. Deshalb stimmen die Monate immer nur so ungefähr mit den uns geläufigen überein.

Folgendes fällt auf dem Jüdischen Friedhof in Vöhl auf, gilt aber auch für andere Friedhöfe:
1. Das Symbol des Judensternes taucht ca. ab 1900 auf.
2. Je später die Menschen geboren wurden, desto deutschere Namen erhielten sie. Während die jüdischen Kinder um 1800 noch Selig und Rahel genannt wurden, waren ab ca. 1850 eher Namen wie Hermann und Ludwig modern. Allerdings erhielten sie daneben auch einen hebräischen Namen.
3. Auf den früheren Steinen ist eine Seite deutsch, die andere hebräisch beschriftet. Später wurde beides auf eine Seite geschrieben, die zweite Seite blieb leer.
4. Auf den älteren Steinen stehen im hebräischen Text manchmal ganz interessante Dinge. Je neuer die Steine sind, desto stereotyper wird der hebräische Text.

[1] Vgl. Arnsberg, Paul; Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Band 2, Frankfurt 1971, S. 329.
[2] Ebd.
[3] Als diese Zeitzählung eingeführt wurde, dachte man zumindest, daß dies das Alter der Erde ist.

Jüdischer Friedhof in Vöhl auf der Website „findagrave“


Camille Calman, deren Vorfahren aus der Familie Rothschild Vöhl bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts in die USA verließen, hat die Grabsteine 2019 fotografiert und auf der Website findagrave veröffentlicht. 
„Vohl, Landkreis Waldeck Frankenberg, Hessen, Germany“
Dies ist die größte Sammlung von Gräberangaben weltweit und hat in den Utah, USA, ihren Sitz.

Vortrag: Die Jüdische Schule in Vöhl

Fotos: Kurt-Willi Julius
Schulstandorte in der Arolser Str, 8 und Mittelgasse 9

von Karl-Heinz Stadtler 2021
Gliederung

Schule und Lernen im Judentum
Warum eine jüdische Schule in Vöhl?
Unterricht für jüdische Kinder vor 1827
Der Bau und die Finanzierung der Schule in der Mittelgasse 9
Lehrer David Schönhof
Lehrer Salomon Baer
Die Schule in der Ackerrijje (Arolser Str. 8)
In Korbacher Schulen
Im ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik
Unterricht für jüdische Kinder im Dritten Reich


Die Links zu den Gliederungspunkten erreichen sie nach Drücken des Buttons:

Fortsetzung

Schule und Lernen im Judentum

"Wenn du Kinder erzeugt hast, so unterweise sie jederzeit,
jedoch mit Milde. Wende alles auf, ihnen Bücher zu kaufen,
und halte ihnen von Jugend auf einen Lehrer.
Besolde den Lehrer reichlich; was du ihm gibst, gibst du deinem Sohn.
Und wisse, dass dein Glück durch deine Kinder erhöht wird,
ihr Wohlergehen auch das deinige ausmacht.
Lasse deine Söhne ein Handwerk lernen;
für künftige Zeiten wird es ihnen gut tun.
Solange du nicht selbst Weisheit und Einsicht erlangt hast,
halte dich an den Umgang erfahrener Männer,
und schäme dich nicht, zu lernen und zu fragen.
Sei der Schweif der Weisen, dann wirst du einst ein Führer werden.
Weisheit aber heißt in den Wegen des Glaubens wandeln,
Gott fürchten und das Böse meiden, das ist Einsicht.
Lerne Weisheit, und wenn sie dir unbegreiflich,
lerne wenigstens die Rechenkunst und lies medizinische Bücher.

(aus: "Musar Haskel" von Gaon Hai ben Scherina (939-1038);
zit. nach Alfred Pfaffenholz: Was macht der Rabbi...? Das Judentum, München 1995, S. 148)

Dieses ungefähr eintausend Jahre alte Zitat aus der Feder eines prominenten Rabbiners ist ein Hinweis auf die im Vergleich zu anderen Religionen herausragende Bedeutung, die das Lernen, die Erziehung und Bildung im Judentum genießen. Lernen war nie wenigen - z.B. den Priestern - vorbehalten, sondern war allgemeines Ideal. Selbst die in kaum vorstellbarer Armut lebenden Juden Osteuropas: Sie konnten sich oft nicht satt essen, gingen bis in den Herbst hinein barfuß, hatten für den Winter nur ein Paar Stiefel für die ganze Familie, aber sie bezahlten einen Lehrer für ihre Söhne, der diesen oft ab dem dritten Lebensjahr bereits das Lesen, Schreiben und Beten in hebräischer Sprache beibrachte. Diese heilige Pflicht jüdischer Familien resultiert aus einem recht unscheinbaren Vers der Thora: "Diese meine Worte sollt ihr auf euer Herz und auf eure Seele schreiben ... Ihr sollt sie eure Söhne lehren, indem ihr von ihnen redet, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst" (5. Moses 11, 19).

In der jüdischen Religion gibt es neben der Thora die Mischna und die Gemara als rabbinische Interpretationen und Deutungen der Thora, die den Talmud ausmachen. Dort heißt es in einem sehr alten Kommentar eines Rabbiners zu dieser Stelle: ". Eure Söhne und nicht eure Töchter,... So sagen sie: Sobald der Knabe zu sprechen beginnt, spricht sein Vater mit ihm in der heiligen Sprache und lehrt ihn Thora. Spricht er nicht mit ihm in der heiligen Sprache und lehrt er ihn nicht Thora, so ist es, als ob er ihn begraben würde."

Die Verpflichtung zum Lehren lag also ursprünglich beim Vater; wenn dieser aber nicht in der Lage war, den Sohn zu unterweisen, so hatte er dafür Sorge zu tragen, dass ihm ein Lehrer die Aufgabe abnahm.

Noch etwas wird deutlich: ein "Recht auf Bildung" hatten nur die Jungen. Für Mädchen galt dies nicht. Doch sehr viele Familien, die es sich leisten konnten, ermöglichten auch ihren Töchtern Bildung und Ausbildung. Die Anfänge übernahm die Mutter zu Hause, und vor allem ab der sogenannten Zeit der "Emanzipation", die mit der Epoche der Aufklärung begann und dann in die "napoleonische Ära" mit der Einführung vieler Freiheitsgrundsätze mündete, schickte man die Töchter auch auf öffentliche Schulen.
Unterricht für jüdische Kinder vor 1827

Es ist noch unbekannt, seit wann in Vöhl die jüdischen Kinder von einem jüdischen Lehrer unterrichtet wurden. In Vöhler Akten taucht "der Juden Schulmeister" erstmals im Jahr 1799 auf. Seinen Namen kennen wir nicht, und ebenso wenig wissen wir, wie viele Kinder er unterrichtetet. Es kann sein, dass er nur Religionsunterricht erteilte und die Kinder ansonsten in die evangelische Schule gingen, doch ist es durchaus denkbar, dass man Ende des 18. Jahrhunderts jüdische Kinder in der christlichen Schule noch nicht zuließ oder aber von ihnen besondere Gebühren erhob, was dann auch wieder dazu geführt haben könnte, dass nur wenige von ihnen die Schule besuchten. Doch all dies ist derzeit noch nicht bekannt.


Auch für den Kreis Vöhl im Großherzogtum Hessen-Darmstadt galt, dass als Folge der Eroberung durch die französischen Truppen Napoleons und der Einführung der Freiheitsrechte im Jahr 1825 auch bei uns jüdische Kinder kostenlos die Schule besuchen durften. Gemeint war allerdings der Besuch der staatlichen Schule. Lediglich beim Religionsunterricht wurde ihnen ein eigener Lehrer zugestanden. Wahrscheinlich war dies auch in der jüdischen Religionsgemeinde Vöhl, Basdorf, Marienhagen und Oberwerba der Fall.

Im Juni 1824 wurde in Vöhl durch Bürgermeister Küthe ein Schreiben des Großherzoglich Hessischen Kirchen- und Schulraths öffentlich bekannt ge-macht, nach dem die Verbindung des Schächteramtes mit dem eines Schullehrers verboten wurde. (Der Schächter hatte Tiere in der rituell vorgeschriebenen Weise zu töten, damit es nachher verzehrt werden konnte.) Der Lehrer durfte zwar gleichzeitig Vorsänger in der Synagoge sein, und der Vorsänger durfte das Schächteramt ausüben, aber der Lehrer durfte nicht mehr schächten. Dass man dieses Schreiben in Vöhl bekannt gab, lässt darauf schließen, dass es in dieser Zeit einen jüdischen Lehrer gegeben hat. Wahrscheinlich gab es sogar in Marienhagen jemanden, der jüdischen Religionsunterricht erteilte, denn am 1. Februar 1826 schrieb Vöhls Landrat Krebs an den Marienhagener Beigeordneten Klein, dass er ihn mit einer Strafe von 10 Gulden belegen müsse, weil die erwähnte Verfügung in Marienhagen nicht befolgt werde.

Noch am 19. Oktober 1827 berichtete Landrat Krebs dem Kirchen- und Schulrath in Gießen, dass sämtliche jüdische Gemeinden im Kreis, also "Vöhl, Basdorf, Höringhausen, Altlotheim (!), Marienhagen, Eimelrod", ihre Kinder in die christlichen Volksschulen schicken. Aus diesen verschiedenen Dokumenten wird der Schluss zu ziehen sein, dass die Kinder tatsächlich gemeinsam unterrichtet wurden, lediglich im Fach Religion getrennt waren.

Aus all dem entnehmen wir, dass es vorher durchaus üblich war, dass der Lehrer auch die Funktion des Vorsängers oder Vorbeters im Gottesdienst innehatte, die Bar Mizwa der Jungen, die Trauungen und Beerdigungen zelebrierte, aber auch das Amt des Schächters wahrnahm, der bei den zahlreichen jüdischen Metzgern die Schafe, Ziegen oder Rinder nach strengen rituellen Regeln schlachtete. 1825 erschien eine Verordnung des Hessischen Kirchen- und Schulrats in Gießen, die ärmere jüdische Kinder in Bezug auf Schulgeldfreiheit armen christlichen Kindern gleichstellte.

Noch am 19. Oktober 1827 berichtete Landrat Krebs dem Kirchen- und Schulrath in Gießen, dass sämtliche jüdische Gemeinden im Kreis, also "Vöhl, Basdorf, Höringhausen, Altlotheim (!), Marienhagen, Eimelrod", ihre Kinder in die christlichen Volksschulen schicken. Aus diesen verschiedenen Dokumenten wird der Schluss zu ziehen sein, dass die Kinder tatsächlich gemeinsam unterrichtet wurden, lediglich im Fach Religion getrennt waren.
Warum eine jüdische Schule in Vöhl?

Einige allgemeine Gründe für die Einrichtung einer jüdischen Schule sind schon genannt:

- das religiöse Gebot zur Unterweisung insbesondere der Söhne in Thora und Talmud;
- damit in Zusammenhang stehend: das hohe Ansehen, das Bildung und Erziehung vor allem unter Juden genossen;
- die Einführung der Freiheits- und Gleichheitsrechte zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Hinzu kam für den Kreis Vöhl ein hoher jüdischer Bevölkerungszuwachs in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Auf ungefähr 140 Personen wuchs die israelitische Gemeinde bis 1840 an, was einem Bevölkerungsanteil von ungefähr 20 % allein in Vöhl entsprach. Die wachsende Zahl in Verbindung mit den gewährten Freiheiten schuf unter den Juden Selbstbewusstsein: wir sind wer! Wir brauchen uns nicht mehr verstecken! Wir können dieselben Rechte in Anspruch nehmen wie unsere christlichen Nachbarn.In diesen Jahren wurden verschiedene Einrichtungen geschaffen; neben der Schule war dies die Synagoge und dann kurz danach der jüdische Friedhof.

Man könnte nun allerdings die Frage stellen, warum denn unbedingt eine religiös orientierte Schule sein musste. Konnten die jüdischen Kinder nicht in die normale Volksschule gehen wie die anderen Kinder auch?

Wie bereits erwähnt, war dies bis zum Bau der Schule in Vöhl und wohl noch einige Jahre darüber hinaus auch durchaus der Fall. Die jüdischen Kinder besuchten die Schule zusammen mit den evangelischen Kindern; lediglich das Fach Religion wurde getrennt unterrichtet. Dies lag auch in der Absicht des Staates. Das Großherzogtum Hessen-Darmstadt wollte kontrollieren, was in den Schulen unterrichtet wurde. Die Regierung musste die Qualität des Unterrichts sicherstellen und für die Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse sorgen. Und dies war nur möglich, wenn der Staat die Lehrer einstellte und über die Schulräte die Unterrichtsinhalte und die Leistung der Lehrer kontrollierte.

Im übrigen gab es großes Misstrauen gegenüber den jüdischen Lehrern, denen man unterstellte, "strenge Talmudisten", sogar Rabbinen zu sein, zu deren Lehre es geradezu gehöre, die "Goi", also die Ungläubigen, zu belügen und zu betrügen.

Allerdings stieß der gemeinsame Unterricht auch auf Schwierigkeiten. Die christlichen Kinder wurden von Montag bis Sonnabend unterrichtet. Den jüdischen Schülern war Unterricht an ihrem Schabbes aber nicht zuzumuten. Auch die verschieden übers Jahr verteilten Feiertage standen einer kontinuierlichen gemeinsamen Arbeit im Wege. Entscheidend war aber sicherlich, dass gerade der Volksschulunterricht in allen Fächern sehr stark religiös geprägt war. Lesen und Schreiben lernte man mit Hilfe der Bibel und anderer religiöser Schriften. Gesungen wurden Lieder von Martin Luther oder Paul Gerhardt, die zu lernenden Gedichte entsprangen ebenfalls der christlich dominierten abendländischen Kultur und Tradition. Die Schulaufsicht wurde neben dem Schulrat auch vom evangelischen Pfarrer ausgeübt. Angesichts all dessen leuchtet es ein, wenn die jüdischen Eltern danach strebten, ihre Sprösslinge nicht in die allgemeine Schule zu schicken.

Für weiterführende Schulen, in denen der Fachunterricht stärker im Vordergrund steht, stellte sich diese Frage in unserer Region offensichtlich nicht. Vöhler Juden schickten ihre Söhne ins Gymnasium nach Korbach, worauf später noch einzugehen sein wird.
Der Bau und die Finanzierung der Schule in der Mittelgasse 09, ehemalige Synagoge

Ausweislich der Balkeninschrift an der Vöhler Synagoge wurde das Gebäude im Juni 1827 gebaut. Geplant war wohl von Anfang an eine Synagoge, doch diente das Haus zunächst als Schule, wie wir aus verschiedenen Dokumenten wissen. Angesichts dieser Aktenlage ist jedoch sehr unklar, wie intensiv der Unterricht in diesem Haus anfangs betrieben wurde. Noch im Oktober 1827 meldete der Kreis Vöhl an den Schulrat in Gießen, dass die jüdischen Kinder in allen Orten Vöhls in der allgemeinen Volksschule unterrichtet würden. Aus dem November desselben Jahres stammt ein Schreiben, aus dem zu entnehmen ist, dass die Schule bereits bestand. Aber auch aus den folgenden Jahren - bis 1835 - liegen verschiedene Schriftstücke vor, die die Vermutung nahe legen, dass die jüdischen Kinder immer noch hauptsächlich in die allgemeine Schule gingen und lediglich phasenweise von einem jüdischen Lehrer in dem Haus in der heutigen Mittelgasse unterrichtet wurden.


Das erwähnte Schriftstück vom November 1827 behandelt einen Streit zwischen den Juden Vöhls und Marienhagens auf der einen und denen aus Basdorf auf der anderen Seite. Jetzt, wo es um das Bezahlen des Gebäudes ging, erinnerten sich die Familienoberhäupter aus Basdorf nicht mehr so genau an die vorher getroffenen Vereinbarungen. Der eine konnte sich nicht mehr erinnern, je eine Zusage gemacht zu haben; ein anderer meinte, die Basdorfer Gemeinde sei inzwischen so sehr angewachsen, dass man an eine eigene Schule denken müsse; ein dritter ergänzt, er sei zu alt, um die Schule noch zu nutzen, und er habe früher ganz bestimmt keine Zusage gemacht. Und dann bezogen sich mehrere auf den reichen Ascher ? Rothschild, der weniger gezahlt habe als vorher zugesagt.
Lehrer David Schönhof

Der erste uns namentlich bekannte jüdische Lehrer hieß David Schönhof und stammte aus Altenlotheim. Eventuelle verwandtschaftliche Beziehungen zu anderen Familien Schönhof aus Vöhl und Marienhagen sind derzeit nicht bekannt. Mindestens seit 1827 hat er sporadisch in Vöhl unterrichtet. 1835 wollte die jüdische Religionsgemeinde Schönhof fest anstellen, und zwar sowohl als Lehrer als auch als Vorsänger für die Gottesdienste. Es wurde ein Vertrag zwischen der Gemeinde und Schönhof ausgearbeitet, der seine lebenslängliche Einstellung und die Frage seiner Besoldung beinhaltete. Der Vertragstext liegt uns vor. Als Lehrer sollte er ein Grundgehalt von 200 Gulden und darüber hinaus sogenannte "Neumondsgelder" von jedem Schüler und ein Schulgeld von der jüdischen Gemeinde erhalten. Alle Familienoberhäupter aus Vöhl, Basdorf und Marienhagen unterschrieben zusammen mit Schönhof den Vertrag. Anschließend wandte sich die Gemeinde an den Schulrat in Gießen und verlangte von ihm die Anstellung Schönhofs als Lehrer. Der Schulrat tat sich schwer. Aufgrund der gesetzlichen Lage konnte er sich nicht weigern, eine jüdische Schule zuzulassen. Aber dass man ihm sogar die Auswahl und Einstellung des Lehrers abnahm und ausdrücklich formulierte, dass die finanziellen Zusagen der jüdischen Gemeinde nur für die Person Schönhofs gelten würden, ging ihm etwas weit. Das wahrscheinlich von Schönhof selbst aufgesetzte Schreiben des Vorstands der jüdischen Gemeinde Vöhls legt den Eindruck nahe, dass es den Gemeindevorstehern in erster Linie um den Gottesdienst und die Gestaltung ritueller Handlungen bei Beschneidung, Bar Mizwa, Hochzeit oder Tod ging, während Schönhof eine Sicherung seiner Existenz anstrebte.

Im Antwortschreiben des Schulrats hieß es, dass man es auch aus dem Interesse der jüdischen Gemeinde heraus nicht einfach hinnehmen könne, eine beliebige Person zum Lehrer zu machen. Ziel müsse ein guter Unterricht sein, der die Schüler in die Lage versetze, eine gute Ausbildung zu machen, und deshalb müsse es sich die Regierung vorbehalten, die Lehrer auszuwählen. Darüber hinaus störte den Schulrat, dass die Schaffung der Lehrerstelle an die Person Schönhofs gebunden war. Wenn schon eine Schule eingerichtet werden sollte, dann sollte dies unabhängig von bestimmten Personen geschehen. Im Falle des David Schönhof akzeptierte der Schulrat die Person vorbehaltlich einer noch abzulegenden Prüfung. Die endgültige Einstellung erfolgte dann durch Dekret des Großherzogs Ludwig Ende 1836. Schulvorsteher wurde Selig Stern. In der Folge waren außerdem der Bürgermeister, der evangelische Pfarrer und zwei von Bürgermeister und Pfarrer mit ausgesuchte Juden Mitglieder dieses Gremiums.

David Schönhof wohnte mit seiner Familie im Schul- und Synagogengebäude. Im Jahre 1940 bestand seine Familie aus 3 Personen über und zwei Personen unter 8 Jahren; er besaß außerdem 1 Schaf oder eine Ziege, wahrscheinlich in dem kleinen Stall im Keller. Wo er unterrichtete, wissen wir nicht ganz genau, doch wahrscheinlich nicht im Sakralraum, sondern in einem der von ihm bewohnten Zimmer. Am ehesten geeignet erscheint der Raum links von der Eingangstür. Die Zahl der Kinder allerdings war so groß, dass mit Sicherheit nicht alle Kinder gleichzeitig in diesem Raum unterrichtet werden konnten. Entweder hat Schönhof zwei Unterrichtsräume zur Verfügung gehabt, oder er hat die Kinder - vielleicht nach Mädchen und Jungen getrennt - zu verschiedenen Zeiten unterrichtet.
Schönhof blieb durchaus nicht lebenslänglich als Lehrer in Vöhl, wie es der Vertrag vorsah. Anfang 1841 kündigte er dem Vöhler Kreisrat an, dass die ihm von der jüdischen Gemeinde zugestandenen Mittel nicht mehr ausreichen würden, das Schulzimmer zu heizen. Zum Zeitpunkt der Vertragsausfertigung habe man eine bestimmte Menge Brennholz zu einem Bestandteil seines Lohnes gemacht. Diese Menge habe nie ausgereicht. Doch aufgrund der geringen Kosten für das Holz habe die jüdische Gemeinde ihm eine größere Menge zur Verfügung gestellt. Nun sei die Gemeinde zu dieser Zusatzleistung nicht mehr bereit, weil die Holzkosten stark gestiegen sind. Der Kreisrat solle dafür sorgen, dass die jüdische Gemeinde das nötige Holz liefere; anderenfalls könne er das Schulzimmer nicht mehr im erforderlichen Umfang heizen. Was aus dieser Beschwerde wurde, wissen wir nicht. Noch im Laufe des Jahres 1841 allerdings beendete Schönhof seine Tätigkeit als Lehrer. Wie sein Amtsnachfolger Salomon Baer in der 1878 begonnenen Schulchronik mitteilte, hatte Schönhof eine Lehrerstelle in Oppenheim am Rhein erhalten. Vom 4. Dezember 1839 bis zum 1. April 1841 hatte diese Stelle jener Salomon Baer versehen, dem dann anschließend die Leitung der Vöhler Schule – zunächst provisorisch – übertragen wurde.

Lehrer Salomon Baer

Ab 1841 - die Ernennungsurkunde des Landesherrn erhielt er im November - war er 40 Jahre lang alleine Lehrer der jüdischen Kinder in Vöhl. Ganze Generationen von Schülern hat er in dieser langen Zeit erlebt. Darüber hinaus hat Baer als Vorsänger und zeitweise als Rechner der jüdischen Gemeinde gewirkt. Als Mitbegründer der Kegelkasinogesellschaft und als Lehrer der Vöhler Beamtenkinder, wenn diese besondere Förderung brauchten, wurde er schnell zu einer der Honoratioren des Ortes. Gebürtig stammte er aus Wimpfen, besuchte die Hochschule und dann das Lehrerseminar in Friedberg. Das evangelische Kirchenbuch berichtet, er habe "die Seminar- und Definitorialprüfung unter glänzenden Zeugnissen" bestanden und nennt ihn einen ausgezeichneten Lehrer; und da der Pfarrer an den regelmäßigen Inspektionen der Schule teil hatte, kann man ihm die nötige Sachkunde für eine solche Wertung durchaus zutrauen.


Baers Frau Minna war eine geborene Liebmann, wahrscheinlich die Schwester des Salomon Liebmann aus Vöhl. Jedenfalls hat zwischen Salomon Liebmann und den Baers eine nachweislich besondere Beziehung geherrscht. Salomon Baer übernahm die Vormundschaft für Liebmanns Sohn Emil, wahrscheinlich weil Emil ein Sohn aus erster Ehe seines Vaters war; und außerdem war es im Jahre 1881 Salomon Liebmann, der Baers frühen Tod dem Standesamt meldete. Möglicherweise war Minna der Grund für Salomon Baer, nach Vöhl zu kommen. Denkbar ist allerdings auch, dass Baer seine künftige Frau erst in Vöhl kennen lernte.

Baer übernahm übrigens weitere Vormundschaften. Als Abraham Kaiser starb und vier Kinder aus zweiter Ehe hinterließ, war er zur Fürsorge bereit. Wie arbeitsaufwändig eine solche Vormundschaft war, mag man daraus ersehen, dass Salomon Baer im Falle des Emil Liebmann - für die anderen Vormundschaften liegen die entsprechenden Dokumente nicht vor - alljährlich einen Bericht abzufassen hatte, in dem er die Entwicklung des Zöglings schilderte. Erst als Emil seine Ausbildung zum Kaufmann in Südhessen beendet hatte, endete Baers Verpflichtung.

Salomon und Minna Baer hatten vier Kinder, von denen eins noch im Kindesalter, der älteste Sohn als ungefähr 20 Jahre alter Mann starb; er war wohl etwas schwächlich gewesen. Baer nahm auch noch seinen sehr viel jüngeren Bruder in seinem Haus auf, als der - eine Ausbildung unterbrechend - krankheitsbedingt nach Vöhl kam, um sich dort zu erholen, dann aber doch einige Jahre blieb, wahrscheinlich seines Bruders Güte ausnutzend.

In Salomon Baers Vöhler erste Vöhler Jahre fiel die große Renovierung des Synagogen- und Schulgebäudes. Wir haben Aufzeichnungen über die verschiedenen Handwerker und Gewerke, die daran beteiligt waren, und wir kennen die entstandenen Kosten. Aber leider wissen wir nicht genau, welche Arbeiten ausgeführt wurden. Aus einem Bericht der Regierung in Gießen geht hervor, dass der Zustand des Gebäudes so schlecht sei, dass es billiger wäre, es abzureißen und neu wieder aufzubauen. Erwähnt wird, dass sich der Boden und die Mauern wegen der Nähe zum Bach gesetzt hätten. Möglicherweise hat man auch damals die Decke des Sakralraumes herausgenommen und die Frauenempore eingerichtet. Zumindest erweckt der ehemalige Synagogenraum den Eindruck, als sei der Raum nicht von Anfang an zweigeschossig gewesen: Balken wirken abgeschnit-ten; das Metallkreuz für den Kronleuchter in der Mitte des Raumes ist offensichtlich auch als Ersatz für vorher dort befindliche Balken eingesetzt worden.

Aus Baers Zeit als Lehrer und Vorsänger stammt eine Auflistung des Eigentums der israelitischen Gemeinde, aus der man auf die Einrichtung auch des Schulzimmers schließen kann. Es gab fünf Bänke, fünf Tische, zwei Wandtafeln und zehn sogenannte Lautier- und Lesetafeln.

Im Juli 1847 erließ die großherzoglich-darmstädtische Regierung ein Gesetz über jüdische Schulen. Die Unterrichtssprache sollte Deutsch sein. Ob eine solche Schule eingerichtet würde, sei allein Sache der jüdischen Gemeinde, da die Kinder ja die Möglichkeit hatten, in die allgemeine Schule zu gehen. Allerdings müsse sich die politische Gemeinde an den Kosten beteiligen, wenn sie dies auch bei der anderen Schule getan habe. Verboten war allerdings, dass nichtjüdische Kinder zur jüdischen Schule gingen.

In den 60er Jahren gab es Streit wegen des Hebräisch-Unterrichts. Aufgrund staatlicher Verfügungen war dieser höheren Lehranstalten vorbehalten. Die Vöhler Gemeinde wollte diesen Unterricht für ihre Kinder. Baer wollte dies nicht zum normalen Lohn leisten, sondern für den Unterricht in hebräischer Sprache eine besondere Vergütung.

Ende 1867 kommt es zu einem umfangreicheren Briefwechsel. Selig Frankenthal beschwert sich, dass seine drei die Schule besuchenden Kinder von Baers Sohn Adolph und Baers Mündel Emil Liebmann "mit dem Liniälchen" geschlagen, wenn Baer nicht anwesend sei, was häufig vorkomme. Baer rechtfertigt sich mit Überlastung. Er müsse seit dem Sommer auch in der christlichen Schule unterrichten. Und weil seine Vorsängerdienste bei den hohen Feiertagen im Herbst sehr stark in Anspruch genommen wurden, konnte er nicht alle unterrichtlichen Verpflichtungen erfüllen. Außerdem gab er zu, den Vorstand der jüdischen Gemeinde ein wenig erpressen zu wollen. Der kaputte Ofen sei trotz winterlicher Temperaturen nicht repariert worden, weil der Vorstand das Geld sparen wolle. Und weil nun die Kinder der Vorstandsmitglieder die Schule besuchten, habe er diese wegen der Kälte im Klassenraum nach Hause geschickt - in der Hoffnung, dass dies die Eltern erweichen werde.

Aus 1871/72 liegt ein „Visitationsbericht über die Schule und den Unterricht vor. Oberschulinspektor Meyer aus Höringhausen besuchte zusammen mit Pfarrvikar Saugmeister (?), Schulvorstand Schönthal, Lehrer Sandlos und Amtmann Vorwinkel den Unterricht. Zunächst ging es um Das Gehalt des Lehrers. Bär bekam inklusive einer Alterszulage etwas mehr als 232 Thaler im Jahr; da er auch Privatunterricht erteilte, meinte der Schulinspektor, Bär habe trotz der teuren Lebensverhältnisse ein „genügendes Auskommen“. Nachdem Salomon Baer am 1. Juni 1881 gestorben war, besuchten die jüdischen Schüler Vöhls zunächst die von Lehrer Sandlos geleitete evangelische Schule, und zwar bis zum 1. Februar 1882. Sandlos erhielt hierfür eine Sondergratifikation von 300 Mark.
Die Schule in der Ackerrijje (Haus Arolser Str. 08)

1836 baute Ascher Rothschild das große Haus in der heutigen Arolser Straße, früher "Ackerrijje" genannt. Noch im selben Jahrhundert, aber in einem noch nicht bekannten Jahr zog die jüdische Schule dort ein. Vielleicht geschah dies nach dem Tod Salomon Baers, weil ab diesem Zeitpunkt die Wohnung im Synagogengebäude nicht mehr von den jüdischen Lehrern, sondern bis 1938 von Mitgliedern der Familien Mildenberg bewohnt waren.


Nach Baers Tod reiste Emanuel Katzenstein, der vom Vorstand der jüdischen Gemeinde in Vöhl damit beauftragt war, nach Münster in Westfalen, um sich beim dortigen Seminar nach einem geeigneten Lehrerkandidaten zu erkundigen. Seminardirektor Dr. Steinberg schlug Joseph Laser vor. Katzenstein besuchte Laser am Donnerstag, dem 1. Dezember in dessen Wohnung in Neheim an der Ruhr und lud ihn ein, sofort mit ihm nach Vöhl zu reisen und am folgenden Sabbath Gottesdienst und Vortrag zu halten.  Joseph Laser folgte der Einladung, stellte sich dem Vorstand der jüdischen Gemeinde vor und wurde daraufhin von diesem dem Königlich Preußischen Verwaltungsamt zur Besetzung der Schulstelle vorgeschlagen.[1]

Am 25. Januar 1882 erhielt Laser von der königlichen Regierung in Kassel das Ernennungsdekret als Lehrer und Kantor[2]. Am 1. Februar wurde er durch den Pfarrer und Lokalschulinspektor Sessler (?[3]) ins Amt eingeführt und am 2. Februar durch Bezirksamtmann Engelhard in Vöhl vereidigt.

Am 24. Januar besuchte der Lokalschulinspektor den Unterricht in Religion und Rechnen.

Am 15. Juni kam der Lokalschulinspektor zum zweiten Mal in den Unterricht und teilte bei dieser Gelegenheit mit, dass der Lehrer nicht berechtigt sei, über den planmäßigen Unterricht hinaus Unterrichtsstunden anzubieten.

Am 5. Juli von 8 bis 11 Uhr erfolgte die erste richtige Schulprüfung durch den Lokalschulinspektor, der seine volle Zufriedenheit zum Ausdruck brachte; eine Nachprüfung durch den Oberschulinspektor Meyer aus Höringhausen fand am 10. Juli statt.

Am 18. Juli „schlag sieben Uhr“ überprüfte der Lokalschulinspektor den pünktlichen Unterrichtsbeginn. Exakt eine Woche später kontrollierte er die Führung der Schulchronik und informierte über den Beginn der 14tägigen Sommerferien am 7. August und am 15. November prüfte der die Schülerleistungen im Lesen und stellte deutliche Verbesserungen bei schwächeren Schülern fest. Außerdem warnte er davor, die Hessische Schulzeitung zu lesen. Er begründete dies mit einem Artikel in der Ausgabe 39/1882, in dem auch die geistliche Schulinspektion angegriffen worden sei.[4]

Die Chronik berichtet von sehr vielen Inspektionen, die jedoch in aller Regel zufriedenstellend ausfielen. Fast jedes Jahr berichtete Laser, wer zu Ostern in die Schule neu aufgenommen wurde, und wer sie verließ. Die Leser erfahren auch einiges über das örtliche Leben. Laser berichtete z.B. über Epidemien, denen Kinder – auch eigene – zum Opfer fielen.

1882

Am 25. Januar 1882 erhielt Laser von der königlichen Regierung in Kassel das Ernennungsdekret als Lehrer und Kantor. Am 1. Februar wurde er durch den Pfarrer und Lokalschulinspektor Sessler? ins Amt eingeführt und am 2. Februar durch Bezirksamtmann Engelhard in Vöhl vereidigt.

Am 24. Januar besuchte der Lokalschulinspektor den Unterricht in Religion und Rechnen.

Am 15. Juni besuchte der Lokalschulinspektor zum zweiten Mal den Unterricht und teilte bei dieser Gelegenheit mit, dass der Lehrer nicht berechtigt sei, über den planmäßigen Unterricht hinaus Unterrichtsstunden anzubieten.

Am 5. Juli von 8 bis 11 uhr erfolgte die erste richtige Schulprüfung durch den Lokalschulinspektor, der seine volle Zufriedenheit zum Ausdruck brachte.

Am 10. Juli erfolgte eine Nachprüfung durhc den Oberschulinspektor Meyer aus Höringhausen.

Am 18. Juli „schlag sieben Uhr“ überprüfte der Lokalschulinspektor den pünktlichen Unterrichtsbeginn.

Am 25. Juli kontrollierte der Lokalschulinspektor die Führung der Schulchronik und informierte über den Beginn der 14tägigen Sommerferien am 7. August.

Am 15. November prüfte der Lokalschulinspektor die Schülerleistungen im Lesen und stellte deutliche Verbesserungen bei schwächeren Schülern fest. Außerdem warnte er davor, die Hessische Schulzeitung zu lesen. Er begründet dies mit einem Artikel in der Ausgabe 39/1882, in dem auch die geistliche Schulinspektion angegriffen worden sei.[5]

1883

Am 26.1. meldet er beim Standesamt die am 19.1. erfolgte Geburt seiner Tochter Mathilde Emilie an.

Am 17. April führte Pfarrer Pflug als neuer Lokalschulinspektor seine erste Schulprüfung durch.[6]

1884

Am 8. Juli gab es wieder eine Inspektion durch Pfarrer Pflug in der Schule, am 15. Juli kam Oberschulinspektor und Dekan Meyer aus Höringhausen und äußerte sich zufrieden über die Leistungen der Schüler.[7]

1885

Am Sonntag, dem 8. März, brach unter den Kindern des Lehrers die Diphterie aus. Auf Grund einer entsprechenden Verordnung des Königlichen Verwaltungsamtes fiel der Unterricht bis zum 13. April aus.[8]

Am 1. Oktober – während der Herbstferien – gab es in Vöhl eine Keuchhusten-Epidemie, an der auch alle Schulkinder erkrankten. Erst am Montag, dem 23. November, konnte der Unterricht wieder aufgenommen werden. Laser schreibt in der Chronik, dass während des ganzen Schuljahres bis zum Frühjahr 1886 die Kinder immer wieder an Keuchhusten erkrankten und der Unterricht darunter sehr litt.[9]

1886

Am Donnerstag, dem 15. Juli, erfolgte eine Vorprüfung durch Pfarrer Pflug, am 19. Juli kam wieder Oberschulinspektor Meyer, der sich anschließend zufrieden äußerte.

Im Sommer des Jahres wurde die Südseite des Schulgebäudes völlig renoviert. In dieser Zeit fand der Unterricht in der Synagoge statt.[10]

1888

Am Dienstag, dem 18. September, fand die Schulinspektion durch Dekan Meyer statt. Dieser äußerte sich wieder zufrieden.[11]

1889

Um Weihnachten gab es in ganz Europa eine Influenza-Epidemie, an der auch in Vöhl zahlreiche Kinder erkrankten. Darüber hinaus gab es Fälle von weiteren Kinderkrankheiten, insbesondere von Masern. Sieben Wochen lang blieb die Schule daher geschlossen.[12]

1890

Im September 1890 erkrankten Familienmitglieder an Diphterie. Die Herbstferien wurden deshalb um einige Tage verlängert.[13]

Joseph Laser war der erste, von dem wir wissen, dass er in dem neuen Gebäude wohnte. Viele Jahre wirkte er an der Schule. Laser stammte aus Hattenbach bei Trier und kam mit seiner Frau und einem Sohn nach Vöhl. Seine Frau hatte mehrere Fehlgeburten und starb 1885 nach einer Geburt. Laser heiratete ein zweites Mal, und jedes zweite Jahr gebar seine Frau ihm ein Kind. Er starb als 58-Jähriger im Jahr 1906, gerade als er einen Toast anlässlich der Verlobung einer der Töchter Abraham Blums aussprechen wollte, an Herzversagen. Über seine Beerdigung wird in der Corbacher Zeitung ausführlich berichtet. Die jüdische Gemeinde formulierte einen Nachruf für den Lehrer, der sein Amt fast 25 Jahre lang versehen hatte. Seine Leistungen als Lehrer und Vorsänger wurden gewürdigt, der Frankenberger jüdische Lehrer Plaut hielt die Trauerrede, auch der evangelische Pfarrer Kahler sprach als Schulinspektor Worte des Gedenkens; Lehrer Hecker als Vorsitzender des Bezirksvereins (wahrscheinlich ein Verein der Lehrer) legte einen Kranz nieder. Auch Vöhler Würdenträger nahmen an der Trauerfeier teil. In die Zeit des Lehrers Laser fiel ein Streit mit der politischen Gemeinde um die Finanzierung. Gesetzlich war geregelt, dass die Gemeinde die jüdische Schule bezuschussen musste, wenn sie auch die christliche unterstützte. Gleichzeitig galt aber eine Mindestzahl von 12 Schülern, während es im Jahr 1909 nur 8 jüdische Kinder gab, die die Elementarschule besuchten. Die Gemeinde wollte den Zuschuss von 200 RM nicht mehr bezahlen. Die vorgesetzte Behörde allerdings verlangte die Weiterzahlung der Gebühren. Joseph Laser begann eine Schulchronik zu schreiben, die seine Nachfolger bis ins Jahr 1920 fortsetzten. Diese Chronik befindet sich heute in den Central Archives of Jewish History. Wahrscheinlich ist sie zusammen mit mehreren anderen Büchern der jüdischen Gemeinde Vöhl in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft dorthin gelangt. Diese Chronik – von Lehrer Louis Meyer später fortgeführt – gibt einen guten Einblick nicht nur in den Schulalltag, sondern sie informiert auch über andere Aspekte des öffentlichen Lebens in Vöhl. Im Jahr 2006 nahm ein Urenkel Joseph Lasers Kontakt mit dem Verfasser dieser Zeilen auf. Durch die Website des Förderkreises war er aufmerksam geworden. Er informierte über das Schicksal seiner Familie, nachdem sie von Vöhl weggezogen war. Sein Großvater Leopold, der in Vöhl als jüngstes Kind der ersten Frau Joseph Lasers geboren worden war, hatte eine Kaufmannsausbildung im Westfälischen gemacht. Er heiratete, seine Frau bekam drei Kinder; Anfang März 1943 wurde das Ehepaar mit dem jüngsten Sohn nach Auschwitz deportiert und umgebracht. Kurt, der älteste Sohn, war nach der Reichspogromnacht im KZ Dachau interniert. Nach seiner Freilassung emigrierte er nach Schweden, wo er bis zu seinem Tod lebte. Leopolds Tochter Karla floh 1936 als 16-Jährige mit Unterstützung einer jüdischen Jugendorganisation nach Palästina. Sie heiratete, bekam eine Tochter und einen Sohn, und 1958 zog das Ehepaar mit dem Sohn nach Deutschland, wo die Familie zunächst in Frankfurt, nach dem Tod des Vaters in Hamburg lebte. Eine weitere Urenkelin Lasers, und zwar eine Stiefenkelin seiner Tochter Johanna, wendete sich im Mai 2010 an den Verfasser und informierte ihn über ihre Großeltern. Vor allem sandte sie ein Bild des Grabsteins ihres Urgroßvaters, des Lehrers Joseph Laser, das uns bisher den einzigen fotografischen Nachweis für den zwischen 1904 und 1911 durch Spendengelder finanzierten neuen Zaun um den jüdischen Friedhof zeigt.

[1] Quelle: The Jewish Historical Archives, Jerusalem , 8273/3 (Schulchronik, in diesen Passagen von Laser selbst geschrieben)
[2] Lehrer Bär war noch von der Regierung in Gießen eingestellt worden; für Laser war nun Kassel zuständig. Diese Änderung hing mit dem politischen Wandel zusammen, den es in der Zwischenzeit für Vöhl gegeben hatte. Bis 1866 gehörte der Kreis Vöhl mit seinen ungefähr 20 Dörfern zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Im Krieg zwischen Preußen und Österreich in jenem Jahr hatte Hessen-Darmstadt Österreich unterstützt. Nach dem Sieg Preußens musste Hessen-Darmstadt den Kreis Vöhl an den Sieger abtreten. Vöhl wurde nun dem preußischen Landkreis Frankenberg zugeschlagen wurde, wahrte für 20 Jahre allerdings als „Amt Vöhl“ noch eine gewisse Selbstständigkeit in einigen Angelegenheiten.
[3] Der Name kann nicht eindeutig identifiziert werden. Auch eine an sich vollständige Liste der Vöhler Pfarrer seit der Reformation nennt für das Jahr 1882 keinen Namen. Möglicherweise war die Stelle vakant und wurde von einem Pfarrer aus einer Nachbargemeinde mit betreut.
[4] Paul Arnsberg schreibt in „Die jüd. Gemeinden in Hessen“, Laser sei seit 1885 Lehrer an der jüdischen Schule gewesen, davon bis 1895 provisorisch, dann endgültig. Die Schulchronik belegt, dass dies nicht richtig ist. Laser war damit Nachfolger des im Juni 1881 verstorbenen Salomon Bär. Zwischen dem Tod Salomon Bärs und dem Dienstantritt Joseph Lasers am 1. Februar 1882 wurden die jüdischen Kinder in der evangelischen Schule durch Lehrer Sandlos unterrichtet, der dafür laut „Verfügung Kngl. Regierung für Schul- und Kirchenwesen zu Kassel eine Gratifikation von drei Hundert Mark erhielt“. (Quelle. Schulchronik, The Jewish Historical Archives, Jerusalem , 8273/3)
[5] Paul Arnsberg schreibt in „Die jüd. Gemeinden in Hessen“, Laser sei seit 1885 Lehrer an der jüdischen Schule gewesen, davon bis 1895 provisorisch, dann endgültig. Die Schulchronik belegt, dass dies nicht richtig ist. Laser war damit Nachfolger des im Juni 1881 verstorbenen Salomon Bär. Zwischen dem Tod Salomon Bärs und dem Dienstantritt Joseph Lasers am 1. Februar 1882 wurden die jüdischen Kinder in der evangelischen Schule durch Lehrer Sandlos unterrichtet, der dafür laut „Verfügung Kngl. Regierung für Schul- und Kirchenwesen zu Kassel eine Gratifikation von drei Hundert Mark erhielt“. (Quelle. Schulchronik, The Jewish Historical Archives, Jerusalem , 8273/3)
[6] Quelle. Schulchronik, The Jewish Historical Archives, Jerusalem , 8273/3
[7] Quelle. Schulchronik, The Jewish Historical Archives, Jerusalem , 8273/3
[8] Quelle. Schulchronik, The Jewish Historical Archives, Jerusalem , 8273/3
[9] Quelle. Schulchronik, The Jewish Historical Archives, Jerusalem , 8273/3
[10] Quelle. Schulchronik, The Jewish Historical Archives, Jerusalem , 8273/3
[11] Quelle. Schulchronik, The Jewish Historical Archives, Jerusalem , 8273/3
[12] Quelle. Schulchronik, The Jewish Historical Archives, Jerusalem , 8273/3
[13] Quelle. Schulchronik, The Jewish Historical Archives, Jerusalem , 8273/3
In Korbacher Schulen

Wie bereits erwähnt, gingen mehrere Söhne jüdischer Vöhler Eltern ins Korba-cher Gymnasium. Aus dem vorigen Jahrhundert bereits sind uns eine ganze Rei-he von Juden aus der Religionsgemeinde bekannt, die dort einige Jahre beschult wurden und nach dem "Einjährigen" oder nach dem Abitur abgegangen sind. Dazu gehörte zum Beispiel der Basdorfer Leopold Külsheimer, Sohn von Ben-dix Külsheimer. Ebenso wie Hermann Schönthal, Sohn des aus Basdorf stam-menden Vöhler Horndrehers Emanuel Schönthal, gehörte sogar zu den Spröss-lingen ärmerer Familien, die sich für ihren Sohn eine höhere Schulbildung leis-teten. Bernhard Frankenthal, Albert Katzenstein, fast alle männlichen Roth-schilds, Ferdinand Kaiser oder Louis Blum besuchten die Korbacher Eliteanstalt. Mehrere von Ihnen blieben nur einige Jahre dort, um dann andernorts den Bildungsgang fortzusetzen; andere gingen vorzeitig, um eine kaufmännische Ausbildung zu beginnen. Das Abitur scheint nicht immer unbedingt das Ziel gewesen zu sein. Erna Katzenstein (Mainz) oder die Kinder Ferdinand Kaisers (Marburg) besuchten höhere Schulen außerhalb der Region.
Im ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik

Ab 1910 wirkte Louis Meyer als Lehrer in der jüdischen Schule, und zwar bis zu deren Ende im Jahr 1925. In den ersten Jahren (1912, 1915) erscheint er mehrmals auf Spendenlisten der jüdischen Gemeinde zugunsten der Verschönerung der Synagoge.[1]

1914

April: Meyer wird endgültig als Volksschullehrer eingestellt. Die Synagogengemeinde bezahlt sein Diensteinkommen.

Auf Anfrage der Kreisschulbehörde antwortet Frankenberg, dass Meyer auch schächten[2] kann, es aber nicht tut, weil die Vöhler Metzger das selber können.

Bei Kriegsausbruch Anfang August 1914 wird die jüdische Schule aufgelöst bzw. mit der evangelischen Schule vereinigt, der zweite Lehrer (Jonas) eingezogen und Meyer als 2. Lehrer in der evangelischen Schule eingestellt. Er und sein Kollege müssen an 2 Wochentagen in Obernburg unterrichten.

1915

Meyer wird im November 1915 eingezogen (Landsturm mit Waffen).

1919

Als er  im Februar 1919 wieder zurückkommt, wird er im Februar wieder als 2. Lehrer der evang. Schule beschäftigt und bezahlt; ab März werden evangelische und jüdische Schule wieder getrennt.

  1. Juni: Meyer vollzieht die kirchliche Trauung von Hugo Davidsohn und Ida, geb. Frankenthal.

Am 10. November wird er beurlaubt, die 5 jüdischen Schülerinnen und Schüler kommen in die evangelische Schule.

1920

Lehrer Meyer hat wegen der geringen Kinderzahl Schwierigkeiten, den Elternbeirat satzungsgemäß wählen zu lassen. Die Schulbehörde in Frankenberg signalisiert im Februar, dass kein Einspruch erhoben wird, wenn auch Mütter gewählt werden, zumal dies nach der Wahlordnung ohnehin möglich sei.

Einer seiner Söhne braucht eine 8tägige Solbadkur. Meyer beantragt bei Schulinspektor Brohmer in Frankenberg für den Sohn und für 2-3 Tage auch für sich selbst Urlaub, damit er den Sohn nach Sassendorf begleiten kann. Dem Antrag wird entsprochen.[3]

1921

Das „Diensteinkommen des Inhabers der mit Kultusdienst verbundenen Lehrerstelle in Vöhl” beträgt 1000 Mark.

Lehrer Meyer hat 5 Schüler, einen Knaben und vier Mädchen.

Das Einkommen des Lehrers:

das Anfangsgrundgehalt                                                       21700 M

der Ortszuschlag                                                                     2400 M

der Ausgleichszuschlag einschließlich Notzuschlag               4820 M

Wert der Dienstwohnung                                                         175 M

Wert des Hausgartens                                                                5 M[4]

1922

  1. Juni: Der Landkreis Frankenberg teilt dem Vorstand der jüdischen Gemeinde mit, der Lehrer sei nicht mehr verpflichtet, das Kultamt zu versehen. Die Schulbehörde des Kreises fragt an, wie viel Schulkinder in den nächsten 5 Jahren zu erwarten seien.

Die Aufstellung von Lehrer Meyer:

1922 – 6 Kinder, 3 davon sind seine Kinder; 1923 und 1924 dasselbe; 1925 5 Kinder, 1926 4 Kinder; drei davon sind Kinder des Lehrers; eine erste Neu-Einschulung sei erst wieder für 1927 zu erwarten[5].

Die Zahl der Vöhler Juden wurde immer geringer, und damit sank natürlich auch die Zahl der schulpflichtigen Kinder. Im ersten Weltkrieg legte man die jüdische mit der christlichen Schule vorübergehend zusammen, da sowohl einer der Lehrer der christlichen Schule wie auch der jüdische Lehrer Julius Flörsheim eingezogen wurden. Nach dem Krieg trennte man sie wieder. Flörsheim bekam ein Angebot von einer Frankfurter Schule und verließ Vöhl. Meyer blieb, doch hatte er fast überwiegend seine eigenen Kinder zu unterrichten Die vorliegenden Quellen stellen Louis Meyer als einen schwer zu charakterisierenden Menschen dar. Einerseits scheint er ein Mensch gewesen zu sein, der mit Anderen nicht immer gut klar kam. Andererseits war er ein sehr politischer Mensch, der sich besonders in der Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten hervor tat. Während seiner Vöhler Jahre ist allerdings von einer politischen Betätigung nichts bekannt. Die Auswirkungen eines Konflikts mit der alten Karoline Rothschild, die nach dem Tod ihres Mannes Moritz wohl in das Geburtshaus ihres Mannes zurückgezogen ist, wurden sogar Gegenstand der Berichterstattung in der Corbacher Zeitung. Dort wird berichtet, dass die Witwe Rothschild über Nacht ein Fass mit frisch gewaschener Wäsche draußen stehen gelassen hatte. Und als sie die Sachen am nächsten Morgen wieder hereinholen wollte, musste sie entsetzt feststellen, dass jemand die Wäsche mit Anilintinte verdorben hatte. Die gute Kochwäsche war blau geworden. Die Zeitung beklagte die rüden Sitten und fragte, wer denn einer alten Frau so etwas antun konnte. Für Richard Rothschild, den Enkel der alten Dame, war der Verursacher absolut klar, als ihm 1999 von diesem Vorfall berichtet wurde. "Das war Lehrer Meyer", sagte er; Meyer sei mit niemandem klar gekommen, auch nicht mit seiner Familie.

Und tatsächlich wissen wir heute, dass Meyer wohl ein Eigenbrötler war, dem es sehr schwer fiel, engere Beziehungen zu anderen aufzunehmen. 1925 wechselte er als Lehrer nach Korbach, trat dort aus der jüdischen Gemeinde aus, überlebte den Holocaust wahrscheinlich in Ostdeutschland, wechselte dann wieder in den jüdischen Glauben zurück. Frau und Kinder hatten ihn verlassen; sie ging nach Israel, die Kinder waren in Amerika. Und so starb Louis Meyer sehr einsam als alter Mann in den 70er Jahren in Köln.

Hier sei allerdings angemerkt, dass Meyer wie schon seine Vorgänger auch rituelle Aufgaben in der Religionsgemeinde wahrnahm. So traute er z.B. auch Ida und Hugo Davidsohn. In den 20er Jahren allerdings war es nicht mehr möglich, die jüdischen Lehrer zur Mitwirkung an den Gottesdiensten zu veranlassen. 1921 erhielt der Lehrer, der auch Kultusdienste in der Synagoge versah, 1000 Reichsmark.

[1] Quelle: Bestand 1,75 A Vöhl im Archiv der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“
[2] Schlachten nach jüdischem Ritus.
[3] Quelle: The Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem
[4] Diese Angaben macht Meyer selbst auf einem Formular der preußischen Regierung. Quelle: The Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem
[5] Mit dem 1927 einzuschulenden Kind müsste der 1921 geborene Walter Mildenberg gemeint sein.
Unterricht für jüdische Kinder im Dritten Reich

Welche Vöhler jüdische Kinder waren ab 1933 noch schulpflichtig? Da war zunächst die jüngste der Töchter von Hermann Mildenberg, Charlotte. Dann waren da die 1920 bzw. 1924 geborenen Walter und Ursula Mildenberg. Sowohl Charlotte als auch Walter Mildenberg beendeten die Schule bereits im zweiten Jahr nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Ursula Mildenberg erzählte, dass Walter als von den Lehrern als auch von den Alterskameraden anerkannter Sportler in der Schule keine Schwierigkeiten hatte. Seine Kusine Charlotte folgte nach Schulabschluss dem Beispiel ihrer Schwestern und ging ins Ausland, um dort im Haushalt zu arbeiten. Walter absolvierte außerhalb Vöhls - traditionsgemäß - seine Ausbildung als Metzger.


Mitte der 30er Jahre war Ursula Mildenberg die einzige jüdische Schülerin in der Schule auf dem Schulberg. Sie berichtet, dass sie an diese Zeit fast nur schlimme Erinnerungen hat. Sie sei sehr gehänselt, mal des Diebstahls beschuldigt, durchaus auch mal geschlagen worden. Besonders schlimm sei es gewesen, wenn die nichtjüdischen Altersgenossen in der ersten Stunde Rassenkunde hatten und sie dann in der zweiten Stunde dazukam. In den Pausen sei sie dann nicht in Schule oder auf Pausenhof geblieben, sondern habe sich in den Frankenthalschen Häusern aufgehalten. Die Lehrer hätten sich kaum um sie gekümmert; sie habe nur wenig gelernt. Ende 1937 emigrierte sie mit ihren Eltern über Frankfurt, wo sie die Großmutter bei Verwandten zurückließen, in die USA.

Für den nun erst sechsjährigen Günther Sternberg, das jüngste jüdische Kind in Vöhl, bedeutete dies, dass er nun in die Schule nach Frankfurt musste. Israel Strauß, ein wenig älter als Günther und aus Altenlotheim stammend, berichtete in einem Brief vor einigen Wochen, dass er zusammen mit Günther Sternberg die jüdische Philanthropie-Schule in Frankfurt besuchte. Gewohnt hätten sie zunächst in einem jüdischen Kinderheim der Flörsheim-Sickel-Stiftung. Er und Günther seien zwar nicht in dieselbe Klasse gegangen und hätten auch nicht im selben Zimmer geschlafen, aber sie hätten oft zusammen gespielt und seien in den Ferien immer zusammen nach Hause gefahren, er bis Schmittlotheim und Günther weiter bis nach Herzhausen. Nach den Sommerferien im Jahre 1940 hätten sie in das jüdische Waisenhaus umziehen müssen, da das Kinderheim beschlagnahmt worden war. Seiner Erinnerung nach im Oktober 1941 wurden einige Kinder, darunter auch er und Günther Sternberg, zu den Eltern geschickt, um nach Osten abtransportiert zu werden. Israel Strauß wurde mit seiner Familie im Dezember 1941 ins Ghetto von Riga verbracht. Zu diesem Transport hätten auch einige weitere Kinder der Philanthropie-Schule gehört, doch Günther sei nicht dabei gewesen.

Wie wir wissen, wurden - allerdings einige Monate später - auch Günther Sternberg und nach Zeugenberichten einen Tag später auch seine Eltern zunächst nach Wrexen und von dort nach Osten deportiert. Günther Sternberg und seine Mutter wurden wahrscheinlich Anfang Juni 1942 in Sobibor vergast, während der Vater im KZ Majdanek Zwangsarbeit leisten musste und im September desselben Jahres starb.

Im Mai 2005 fanden wir in einem Archiv in Jerusalem eine Schulchronik und Unterrichtsaufzeichnungen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Diese Dokumente sind noch nicht fertig ausgewertet. Nachdem dies geschehen ist, können wir diesen Aufsatz sicherlich um einige interessante Kapitel erweitern.

Vortrag: Die ehemalige Synagoge

 

Foto: Kurt-Willi Julius

Die Synagoge in Vöhl
von Karl-Heinz Stadtler 2002

INHALT
(durch Anklicken der Überschriften gelangen Sie direkt zu den entsprechenden Kapiteln)
Der Förderkreis "Synagoge in Vöhl" und das Gebäude
Vorstellung des Gebäudes
- Das Äußere des Hauses
- Ehemaliger Sakralraum
- Die anderen Räume des Gebäudes
Zur Geschichte des Gebäudes
- Bau der Schule 1827
- Warum eine jüdische Schule?
- Weihe der Synagoge 1829
- Die Finanzierung der Synagoge
- Warum wurden Schule und Synagoge 1827/29 gebaut?
- Der Unterricht in der jüdischen Schule
- Große Reparatur 1846
- Vermögen der jüdischen Gemeinde
- Spätere Bewohner des Gebäudes
Was ist eine Synagoge?
Geschichte und Bedeutung der Juden in Vöhl, Basdorf und Marienhagen
- Ersterwähnung eines Vöhler Juden 1682
- Häuserverzeichnis von 1705
- Entwicklung im 19. Jahrhundert
- Das Dritte Reich
Was soll aus dem Gebäude werden?
Bitte um Unterstützung und Hilfe

Fortsetzung

Der Förderkreis "Synagoge in Vöhl" und das Gebäude

Natürlich wussten Vöhler Einheimische, dass sich in ihrem Dorf die alte jüdische Synagoge befand. Und unter Kommunalpolitikern aus Vöhl und Vorstandsmitgliedern des Geschichtsvereins Itter-Hessenstein sprach man auch darüber, dass dieses Gebäude, wenn es denn einmal verkauft wird, in öffentlichen Besitz übergehen müsse, um dieses herausragende Kulturdenkmal für die Gemeinschaft zu bewahren. Es war bekannt, das der Sakralraum einigermaßen erhalten, die Empore recht stabil und die Deckenkuppel noch sehr ansehnlich war. Erst im Zusammenhang mit der Errichtung des Denksteins für die in den Kriegsjahren ermordeten Juden und der Entscheidung über den richtigen Platz für diesen Stein war Mitte der 90er Jahre immer wieder über dieses Gebäude gesprochen worden. Und Karl-Hermann Völker, renommiertester Heimathistoriker der Region, hatte sogar Ende der 90er Jahre noch im Rahmen eines Diavortrags das Innere der alten Synagoge vorgestellt. Doch es befand sich in Privatbesitz, und man wollte der alten Frau Marie Röhling, die dort seit einigen Jahren allein wohnte, keine Schwierigkeiten machen. Also wurde der Denkstein am Ortsausgang in der Arolser Straße errichtet.

Nachdem die Bewohnerin das Haus aus gesundheitlichen Gründen verlassen musste, wandten sich deren Angehörige Ende Mai 1999 an den Geschichtsverein Itter-Hessenstein mit dem Wunsch, das Haus zu verkaufen. Vöhls Bürgermeister wurde sofort in Kenntnis gesetzt. Es wurde ihm vorgeschlagen, dass die Gemeinde das Gebäude kauft und der Geschichtsverein mit Hilfe von Spenden und Eigenleistung die Restaurierung in die Wege leitet. Im Juli wurde eine Vereinbarung zwischen dem Gemeinde Vorstand und den Angehörigen der Besitzerin abgeschlossen, der die Gemeinde ermächtigte, die Bausubstanz überprüfen zu lassen, um die Restaurierungskosten ermitteln zu können. Das Amt für Denkmalpflege in Marburg wurde eingeschaltet, das seinerseits das "Deutsche Zentrum für Handwerk und Denkmalpflege – Probstei Johannesberg, Fulda e.V." mit der Feststellung eventueller Restaurierungskosten beauftragte. Diese Prüfarbeiten wurden im August vorgenommen, das Ergebnis im September vorgelegt. Zwar gab es einen sehr ausführlichen Prüfbericht, eine Kostenangabe allerdings nur zu den unbedingt notwendigen Sofortmaßnahmen vorgelegt (15 000 DM). Das Amt für Denkmalpflege sagte zu, die Sofortmaßnahmen zu finanzieren, die Kosten für einen Architekten zu übernehmen und sich in den folgenden Jahren in nicht bezifferter Höhe an den Restaurierungskosten zu beteiligen.

Als die Gemeindevertretung Vöhls im Oktober über den Erwerb des Gebäudes zu entscheiden hatte, war ihr die zukünftige Kostenentwicklung zu ungewiss. Sie entschied gegen einen Kauf, erklärte sich jedoch bereit, einem noch zu gründenden Förderverein 40 000 DM für den Erwerb des Gebäudes zur Verfügung zu stellen.

Der Geschichtsverein Itter-Hessenstein, dessen Vorstand sich bereits vorher entschieden hatte, das Gebäude nicht zu erwerben, und zahlreiche weitere interessierte Bürger aus der Gemeinde hatten im Vorfeld der erwähnten Sitzung der Gemeindevertretung die Unterschriften von 171 Personen gesammelt, die die Gemeinde aufforderten, die alte Synagoge zu erwerben. Nach dem negativen Votum des Parlaments fand am 31. Oktober ein Treffen der Initiatoren im Gemeindehaus der Evangelischen Kirche statt, auf der die Gründung eines Förderkreises "Synagoge in Vöhl" verabredet und vorbereitet wurde.

Der Förderkreis wurde am 9. November 1999, dem 61. Jahrestag der Pogromnacht, in der Henkelhalle in Vöhl gegründet. 74 Personen traten ihm am Gründungstag bei.

Noch im November wurde der Kaufvertrag für die alte Synagoge unterzeichnet, im Februar 2000 wurde der Förderkreis dann endgültig Eigentümer des Gebäudes.

Vorstellung des Gebäudes

Das Äußere des Hauses

Man sieht es dem alten und unscheinbaren Fachwerkgebäude von außen nicht an, was sich hinter den Mauern verbirgt. Als Oberkonservator Professor Neumann vom Landesamt für Denkmalpflege dieses Haus zum ersten Mal sah, meinte er, es verstecke sich zwischen den anderen Häusern; diese Formulierung wird schon ihre Berechtigung auch aus der Geschichte heraus haben.

Das zweigeschossige Fachwerkhaus ist 15,15 m lang und 9,32 m breit und mit einem Satteldach versehen. Die Fachwerkkonstruktion besteht aus Eichenholz und ist sehr einfach gehalten. Die Sockel bestehen zum Teil aus verputztem Bruchsteinmauerwerk bzw. – vielleicht aber auch als Folge von Umbauarbeiten – aus Schichtmauerwerk. Zum Teil wurde für die Gefache Strohlehm, zum anderen Teil Ziegel- oder Bimssteine benutzt.

Dass es sich um ein besonderes Gebäude, nämlich um eine Synagoge handelt, war auch vor 1938 nur an drei Elementen erkennbar: Die Balkeninschrift zwischen den Geschossen verriet, dass es als eine "Sinego" gebaut worden war; ebenfalls zur Straßenseite hin hieß es auf einer Tafel im Bereich des Sockels "Zur Ehre Gottes und würdigen Andenkens 1827-28", und in der von der Straße aus kaum sichtbaren Firstwand auf südöstlicher Seite befand sich ein rundes Fenster mit Davidstern. Ehemaliger Sakralraum

Im Sakralraum feierten zwischen 1829 und 1938 die Juden aus Vöhl, Marienhagen und Basdorf ihre Gottesdienste. Er hat ungefähr quadratischen Grundriss bei einer Fläche von ca 80 qm. Der Raum wirkt - wenn man von der Decke absieht - sehr schmucklos, dies gilt auch für die Zeit vor 1938. Synagogen kennen allenfalls ornamentalen Schmuck; der Sakralraum war auch früher nur weiß verputzt. Aller Schmuck sollte sich auf das konzentrieren, was heute nicht mehr da ist, das Wichtigste: den Thoraschrein mit der Thora.

An der Südostwand, die die Richtung nach Jerusalem und dem vor 2000 Jahren dort befindlichen Tempel andeutet, sehen wir in der Mitte - etwas dunkler vom umgebenden Putz abgesetzt - den Platz, an dem der Thoraschrein vorher stand. Zum Vöhler Thoraschrein ging man, wie wir von einem um 1933 entstandenen Foto wissen, zwei oder drei Stufen hinauf, die beidseitig mit einem hölzernen Geländer versehen waren. Dieses Geländer bestand im unteren Bereich aus vertikalen Stäben, im oberen Viertel befand sich ein durchlaufendes geschnitztes Ornament, wohl mit einem Weinrankenmotiv. Auf den zum Sakralraum weisenden Endpfosten des Geländers lag je ein geschnitzter Unterarm, in dessen Hand sich Halter für je eine Kerze (um 1933 bereits durch eine kerzenförmige Glühbirne ersetzt) befand.

Der Thoraschrein ist einem Schrank vergleichbar. In Vöhl war er weiß. Das dreieckige Dach zeigte vorn einen halbkreisförmigen 9-strahligen hellen Strahlenkranz auf dunklem Hintergrund.

Vor dem Schrein ist in aller Regel keine Tür, sondern ein Vorhang, häufig kunstvoll bestickt, um auch dadurch zu zeigen, dass sich dahinter das Allerheiligste verbirgt: die Thora. Auf den weinroten Samtvorhang der Vöhler Synagoge waren - wie bei vielen anderen Synagogen auch - die zwei Gesetzestafeln aufgestickt, die Moses von Gott auf dem Sinai empfangen und dem Volk Israel gebracht hat. Aufgrund des Berichts früher in Vöhl lebender Juden vermuten wir, dass auch zwei goldene Löwen den Vorhang schmückten.

Die Thora beinhaltet die fünf Bücher Moses, die wir aus dem Alten Testament kennen. Der Kern sind die "Zehn Gebote", ergänzt um die Geschichte der Erzväter und weitere 603 Pflichten, die Juden einhalten sollen.

Die Thora ist nun kein Buch, wie wir es kennen, sondern besteht aus Rollen aus gegerbtem oder pergamentenem Leder. Die einzelnen Lederstücke sind mit Sehnen zusammengenäht; die äußersten Lederseiten wiederum werden an kunstvoll gedrechselten bzw. verzierten Holzstöcken befestigt, mit deren Hilfe die Rolle an einer bestimmten Textstelle "aufgeschlagen" oder eben "gerollt" werden kann. Die heiligen Texte werden mit einem Schreibrohr oder - in Europa - mit einem Gänsekiel geschrieben. Man benutzt dazu eine besonders haltbare Tusche. Die Thora muss mit größter Sorgfalt und Konzentration geschrieben werden, weil Fehler zur Unbrauchbarkeit führen können. Neben ihrer religiösen Bedeutung macht diese Notwendigkeit zur Sorgfalt die Thora sehr wertvoll. Thorarollen sind mit kostbar verzierten "Mänteln" bekleidet, mit Schildern aus Silber oder anderen Metallen versehen; am oberen Ende befinden sich entweder eine Krone oder zwei kleine "Rimonim" (Granatäpfel). Reichere Gemeinden können mehrere Rollen besitzen. Für das Purim-Fest wird darüber hinaus eine weitere Rolle mit dem Buch Esther benötigt. Diese Esther-Rolle ist meist an nur einem Holzstab befestigt.

Vor dem Thoraschrein ist das "ewige Licht" – oft von der Decke herunter hängend -, daneben der achtarmige Chanukka-Leuchter, acht Arme für die acht Tage des meist im Dezember stattfindenden Lichterfestes, der mittlere neunte Arm trägt den "Diener", mit dessen Hilfe die anderen Kerzen entzündet werden. Einen kleinen Chanukka-Leuchter bekamen wir anlässlich des entsprechenden Festes Anfang Dezember 1999 geschenkt.

Ebenfalls vorhanden sind üblicherweise in Synagogen ein Podest für die Thoralesung ("bima" oder "almenor") und das Lesepult des Vorbeters. Die im breiten Mittelgang stehende Bima kann man auf dem Bild nur teilweise erkennen. Es handelte sich um ein Podest, das man über eine Stufe von den beiden Bankseiten aus betreten konnte Zum Thoraschrein hin hatte die Bima ein schräg gestelltes Pult für die Thorarolle. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bima befand sich eine Sitzbank, die die Wimpel zum Umwickeln der Thorarolle enthielt. Das Lesepult ist auf dem in unserem Besitz befindlichen Bild gut zu erkennen und einem heutigen Rednerpult durchaus vergleichbar.

Die weißen Holzbänke der Männer standen in je fünf Reihen auf der Straßen – und auf der Gartenseite der Synagoge. Sie mögen insgesamt 50 bis 60 Personen Platz geboten haben. Über der Rückenlehne jeder Bank befand sich, ähnlich wie in vielen christlichen Gotteshäusern, eine schräg gestellte Ablage für die in der nächsten Bankreihe Sitzenden.

Männer und Frauen saßen und sitzen in Synagogen getrennt, wenn man von wenigen Ausnahmen absieht. Diese Trennung kann auf verschiedene Weise geschehen. Manchmal sitzen die Frauen hinter den Männern, von ihnen durch einen Vorhang getrennt; in manchen Gemeinden sitzen die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite. In orthodoxen Gemeinden wird diese Regel strenger angewendet als in liberaleren Gemeinden. In Deutschland saßen die Frauen meist - wie hier bei uns in Vöhl - auf einer rundum verlaufenden Empore und schauten dem Gottesdienst von oben zu, (fast) ungesehen von den Männern. Die Emporenplätze für die Frauen in der Vöhler Synagoge sind nummeriert; die Nummern befinden sich an der Lamperie, die oberhalb der Stehplätze verläuft. Im 19. Jahrhundert befand sich zwischen der Brüstung der Empore und der Lamperie wahrscheinlich ein rautenförmiges Gitter aus schmalen Lattenstreifen, das den Einblick für die Männer zusätzlich erschweren sollte. Ein solches Gitter wurde auf dem Dachboden der Synagoge gefunden. Es passt genau zwischen Brüstung und Lamperie, und auf der Brüstung sind die Reste von metallenen Halterungen für die Gitter noch erkennbar.

Besonders eindrucksvoll in der Vöhler Synagoge ist die kuppelförmige Decke, die sich wie ein Himmel über diesen Raum wölbt: hellblau gestrichen und mit unzähligen goldenen Sternen versehen, mit der Sonne im Zentrum. Es ist erstaunlich, wie gut diese Decke ihre Farben behalten hat, angesichts jener 60, wahrscheinlich eher 70 Jahre, in denen dieser Raum nun nicht mehr als ein Ort des Gebets und der Andacht genutzt wird.

Ausgeleuchtet wurde der Raum durch drei Kronleuchter, einen großen, dessen Halterung wir in der Mitte des Raumes sehen, und zwei kleinere, die an dem Metallband befestigt waren, das vor der Thorawand verläuft. Die Leuchter sind nicht mehr vorhanden. Der große wurde erst Anfang der 70er Jahre verkauft. Der damalige Besitzer des Gebäudes kann sich an den Namen des Käufers nicht mehr erinnern; er weiß nur noch, dass er in der Nähe von Kassel wohnte.

Einen der kleineren Leuchter kann man auf der mehrmals erwähnten Fotografie erkennen, allerdings auch nur sehr ungenau. Nach dem Bild und den uns vorliegenden Beschreibungen könnten alle drei aus Holz gewesen sein und sieben kreisförmig angeordnete Arme mit nach oben ragenden Kerzenbirnen gehabt haben.

In einem Bericht des Amtes für Denkmalpflege vom November 1929 ist von "völlig ungenügenden" Leuchtern die Rede, die "am besten durch schlichte Holzkronen in Ringform, die man weiß, mit feinem Goldrande abgesetzt, streichen und mit Kugelbirnen beschicken würde" zu ersetzen seien.

Die Fenstergläser der Vöhler Synagoge waren undurchsichtig, was gegen die Blicke ungebetener Neugieriger schützen sollte. In anderen Synagogen behalf man sich meist, indem man die Fenster oberhalb der Kopfhöhe anbrachte. Der Vöhler Sakralraum war recht gut ausgeleuchtet: in Erdgeschosshöhe gibt es je 3 Fenster zu Straßen- und Gartenseite; im Bereich des Obergeschosses weisen sogar je vier Fenster zu diesen Seiten, und es gibt zusätzlich zwei Fenster auf der Südostseite.

In der Mitte zwischen diesen letztgenannten Fenstern - genau über dem Thoraschrein – war bei Übernahme des Gebäudes durch den Förderkreis von innen wie von außen zu erkennen, dass dort früher ein weiteres rundes Fenster war, das man nach 1938 zugemauert hat. Ältere Vöhler erinnerten sich an einen Davidstern in jenem runden Fenster. Im Januar 2001 ließ der Förderkreis auf Grundlage einer Zeichnung von Dr. Thea Altaras, der Verfasserin eines Grundlagenwerkes über hessische Landsynagogen, wieder ein solches Fenster einbauen.

Wie ein Verschlag in den Raum hineingebaut wurde in den 70er Jahren eine Speisekammer und eine Toilette. Beschädigt wurde bei diesem nachträglichen Einbau wohl nichts; auch die Säulen der Empore sind in diesem Bereich noch erhalten. So bereitete es auch kein Problem, diesen Verschlag im Mai 2002 wieder zu entfernen.

Der Fußboden ist, soweit wir das wissen können, in seinem ursprünglichen Zustand. Die eine oder andere Unebenheit wird schon vor 1938 vorhanden gewesen sein. Wahrscheinlich sind einige Absenkungen in der Zeit entstanden, als dieser Raum Baustofflager war und sehr großes Gewicht auf den Steinen lastete. Die anderen Räume des Gebäudes

Im Erdgeschoss gibt es außer dem Flur noch zwei Räume von je ca 20 qm. Der Raum gegenüber vom Hauseingang wurde wahrscheinlich zu allen Zeiten als Wohnküche benutzt; der vordere Raum mag in den ersten Jahrzehnten wie auch in den letzten 25 Jahren als "gute Stube" gedient haben; zwischendurch war er Schusterwerkstatt, zeitweise auch Laden.

Im 1. Stock befanden sich zur Zeit des Erwerbs durch den Förderkreis drei Räume. Zur Straße hin ist der Raum so groß wie der darunter liegende; zur Gartenseite gab es einen sehr kleinen und einen mittelgroßen Raum. Beim Entfernen alter Tapeten wurde deutlich, dass diese beiden letzteren Räume vorher durch einen fast zimmerbreiten Durchgang mit Rundbogen verbunden waren. Wahrscheinlich ist der Durchgang erst während oder nach dem Krieg geschlossen worden. Für die anfängliche Vermutung, dass sich hier eine beheizbare Wintersynagoge befand, gibt es bisher keine weiteren Anhaltspunkte. Zumindest im 20. Jahrhundert ist dieser Raum wie auch der benachbarte zum Schlafen benutzt worden. Insgesamt bieten die Wohnräume eine Fläche von ca 80 qm.

Über den Zimmern befindet sich ein nicht ausgebauter Dachboden. Von diesem Dachboden aus kann man durch eine Luke auch über den Sakralraum gelangen, kann allerdings nur tief gebückt außen um die Kuppel herum gehen.

Auf dem Dachboden fand Jürgen Evers, Mitglied des Förderkreises, Ende Februar 2000 zwischen dort lagernden Dachpfannen und der Kuppeldecke der Synagoge einige alte religiöse Schriften, die zu Gottesdiensten genutzt wurden. Im einzelnen handelt es sich um

• ein "Sidur", der die täglich, ab Schabbat oder an Festtagen zu lesenden Gebete regelt;

• Kapitel aus den Büchern der Propheten, die nach der Thoralesung vorzutragen sind;

• eine Sammlung von 54 Abschnitten (Paraschot) aus der Thora, die ganz bestimmten Wochen zugeordnet sind und übers Jahr hinweg entsprechend gelesen werden;

• eine kleine Zeitschrift, mit deren Hilfe sich angehende Rabbiner und Prediger auf ihre Tätigkeit vorbereiten.

Die Wohnräume sind unterkellert, Flur und Sakralraum nicht. Der Keller ist nur von außen begehbar und ist wohl als Stall für Schafe oder Ziegen gebaut worden. Darüber hinaus könnte er als Vorratsraum für Kartoffeln oder Brennstoffe gedient haben. Zur Geschichte des Gebäudes

Bau der Schule 1827

Die Synagoge wurde 1827 erstmals in den vorliegenden Unterlagen erwähnt. Planungsaufzeichnungen aus den Jahren oder auch nur Monaten vorher sind unbekannt. Vorerst wurde sie allerdings wohl nur als Schule benutzt. Dass das Gebäude von Anfang an als Synagoge vorgesehen war, geht aus dem Spruch hervor, der in den Balken über dem Erdgeschoß geschnitzt ist:

„Im Jar 1827 den 17. Juli wurde diese Sinego durch Hülf und Macht durch den Schreinermeister Hillemann von Kirchlotheim und Heinrich Lai mit seinen Gesellen glücklich in Stant gebracht. Gott segne diesen Bau und alle, die gehen ein und aus”.

Für das Jahr 1827 nennen die Unterlagen sieben Personen, die den Vorstand der israelitischen Religionsgemeinschaft bildeten: Joseph Blum, Bär Katzenstein, Joseph Kugelmann, Meyer Mildenberg, Ascher ...... ? Rothschild, Selig Rothschild, Selig Stern. (Bei Ascher Rothschild ist der zweite Vorname unleserlich.) Diese große Zahl von Vorstandsmitgliedern ist durchaus ungewöhnlich; in der Regel bildeten zwei oder drei Personen den Vorstand.

Wegen der Finanzierung der Schule gab es Streit, der vor dem Gericht in Vöhl ausgetragen wurde. Die Vöhler Judenschaft verklagte die Glaubensgenossen in Basdorf und Marienhagen, weil diese zugesagte Beiträge zum Bau der Schule nicht entrichteten. Vor Gericht erschienen nur die Beklagten aus Basdorf, die frühere Zusagen nicht bestreiten, sich aber nun nicht daran halten wollten. David Külsheimer beispielsweise erklärte, dass es inzwischen in Basdorf so viele Juden gebe, dass man über eine eigene Schule nachdenke; Feisth Keyser meinte, daß er als alter Mann die Schule sowieso nicht benützen könne, und er habe sich auch vorher zu nichts verpflichtet; Israel Löwenstern rechtfertigte sich ebenso wie der erwähnte Külsheimer, dass man sich an Zusagen deshalb nicht gebunden fühle, weil auch der Vöhler Ascher Rothschild nicht die versprochenen 250, sondern nur 200 Gulden gezahlt habe.

Deutlich wird jedenfalls, daß die jüdische Religionsgemeinde den Bau selbst und allein zu finanzieren hatte. Warum eine jüdische Schule?

Heutige Zeitgenossen mögen sich fragen, wieso es damals eine jüdische Schule gab. Heute gibt es ja schließlich auch keine Schulen der einen oder anderen religiösen Richtung in dieser Region. Uns erscheint es auch als selbstverständlich, wenn z.B. türkische Kinder muslimischen Glaubens in unsere Schulen gehen. Damals allerdings war es anders. Die Vöhler Schule galt als eine evangelische Schule, und die Trennung von Kirche und Staat wurde erst viel später eingeführt. Die Schule orientierte sich in ihren Erziehungsrichtlinien und in den Unterrichtsinhalten der einzelnen Fächer ganz selbstverständlich an der christlichen Religion, und wenn man sich die Unterschiede der Religionen und des religiös bestimmten Verhaltens vor Augen führt, leuchtet ein, dass ein jüdisches Kind nur schwer in eine evangelische Schule gehen konnte und umgekehrt. Angesichts des hohen Stellenwertes, den Bildung gerade auch in der jüdischen Religion genoss und genießt, ist es ganz selbstverständlich, dass eine jüdische Schule errichtet wurde, sobald man sie sich leisten konnte und die Anfeindung der Juden durch die christliche Umgebung zurückging.
Weihe der Synagoge 1829

Zur Synagoge geweiht wurde das Gebäude 1829, und zwar am Freitag, dem 28. August. Einiges spricht dafür, dass es am Abend in einem Gottesdienst zu Beginn des Schabbat geschah.

In der Synagoge wurde eine bereits 1808 fertiggestellte pergamentene Votivtafel zu Ehren Ludwigs, des ersten Großherzogs von Hessen, angebracht. In hebräischer und deutscher Sprache stand dort:

„Im Jahre 5568 = 1808
Der Sieg verleiht den Königen Herrschaft, den Gesalbten. Er, der David seinen Knecht vom mörderischen Schwerdt gerettet. Er, der im Meer einen Weg, im starken Wasser eine Bahn macht, der segne, behüte, beschirme, unterstütze, erhebe, vergrößere und bringe hervor unsern Herrn Ludewig, Großherzog von Hessen und vermehre seine Herrlichkeit. Der König aller Könige erhalte mit seiner Allbarmherzigkeit sein Leben, behüte ihn vor jedem Unfall, vor jeder Trauer und vor jedem Schaden und sei sein Schutz. Lasse fremde Völker sich unter ihm beugen, seine Feinde vor ihm fallen und ihn bey allen seinen Unternehmungen glücklich sein. Der König aller Könige neige durch seine Allbarmherzigkeit sein Herz und das Herz aller seiner Räthe zur milden Regierung, daß er uns und das ganze Israel mit Wohlwollen beherrsche, daß in seinen und unsern Tagen Juda gerettet werde und Israel ruhig wohne. O, daß nach Zion der Erlöser komme, sei des Ewigen wohlgefälliger Wille und laß uns darauf sagen: Amen."


Übrigens erlebte der Förderkreis im Zusammenhang mit dieser Tafel eine angenehme Überraschung. Jürgen Evers hatte diesen Text unter den Aufzeichnungen des Vöhler Heimatforschers Walter Kloppenburg gefunden, ergänzt um eine Beschreibung der Tafel, aus der hervorging, dass sie auch eine hebräische Version enthielt. Evers bemühte sich nun um einen Übersetzer, und die Angelegenheit zog sich über einen langen Zeitraum hin, ohne dass eine hebräische Version entstand. Carol Baird, eine in Kalifornien lebende Nachfahrin der Vöhler Familie Frankenthal, schickte uns dann außer einem Foto von der Tafel auch die Kopie einer Abschrift, die ihr Vater Ernst Davidsohn Anfang der 30er Jahre von eben dieser Tafel gemacht hatte. Und so ist der Förderkreis ganz unerwartet in den Besitz dieses Textes gelangt. Dr. Thea Altaras ließ dann in Israel von einem Fachmann den Druck anfertigen, den wir heute in unserem kleinen Museum zeigen können.

Unter den Bildern aus Amerika war auch die schon mehrmals erwähnte bisher einzige Fotografie vom Inneren der Synagoge aus der Zeit vor 1938, die – fachkundig aufbereitet – einen guten Einblick in das Aussehen des Sakralraumes gewährt. Darauf erkennen wir (und finden dies durch einen Brief des Bezirkskonservators aus dem Jahr 1929 bestätigt), dass diese Tafel an einem Stativ hing und neben dem Thoraschrein (zur Straßenseite hin) stand. Den künstlerischen Wert der Tafel schätzte der Konservator gering ein, meinte aber, sie füge sich "vorzüglich in den einheitlichen Raum ein" und solle deshalb auf Leinwand auggezogen werden.
Die Finanzierung der Synagoge

Die Finanzierung der Synagoge war, wie schon bei der Schule, Sache der "israelitischen Religionsgemeinde", wie die Judenschaft des Ortes offiziell bezeichnet wurde. Wie das frühere Vorstandsmitglied dieser Gemeinde, Selig Stern, 1844 dem Kreisrath Zimmermann erklärte, hatten die Juden freiwillige Beiträge in einen Fonds gegeben. Stern sprach von drei- bis vierhundert Gulden, die folgende 14 Männer möglicherweise gegeben hätten: Selig Stern, Isaak Rothschild, Löb Külsheimer (B), Joseph Kugelmann, Isaak Kugelmann, Simon Katzenstein, Bär Katzenstein, Jakob Katzenstein (M), Löb Schaumburg, Meier Mildenberg, Löser Mehrgeld (M), Israel Löwenstern (B), Joseph Blum und Ascher Rothschild. (B= Basdorf, M= Marienhagen)

Zunächst 1834 und dann wieder 1844 hatte der israelitische Vorsteher Simon Kugelmann ein weiteres Finanzierungsmodell erwähnt: Die genannten Männer und außerdem Feisth Kaiser aus Basdorf (der Ältere) hätten sich bereiterklärt, zur weiteren Finanzierung die Stände in der Synagoge für 12, 10, 8 usw. Gulden zu versteigern. Selig Stern habe den ersten Platz für ein Gebot von zwölf Gulden bekommen. Dieses Geld sei aber nie bezahlt worden und fehle nun der jüdischen Gemeinde. Kugelmann bat Kreisrath Zimmermann, die Außenstände durch den Rechner eintreiben zu lassen; mit den fehlenden ca 80 Gulden nebst Zinsen könnten dann die Juden einen Teil ihrer Schulden bei der Gemeinde abtragen. Andere Vorstandsmitglieder - Bär Stern und Isaak Rothschild - widersprachen dieser Darstellung. Zwar seien die Stände versteigert, doch vielleicht auch das Geld gezahlt worden. Zahlungsbelege habe man allerdings nicht gefunden.

Aus dem Jahr 1834 stammt ein Dokument, in dem eine große Gruppe jüdischer Männer ganz kategorisch weitere Zahlungen für die Synagoge ablehnen, unter anderem deshalb, weil sie sich gegenüber solchen Gemeindemitgliedern benachteiligt fühlten, die nach dem Bau von Schule und Synagoge zugezogen waren und nach neueren Regierungserlassen keine Aufnahmegelder zu entrichten hatten. Warum wurden Schule und Synagoge 1827/29 gebaut?

Das 19. Jahrhundert brachte einige Liberalisierungen mit. Die französische Revolution versetzte auch die deutschen Fürsten in Angst vor einem Volksaufstand. Die Eroberung Deutschlands durch das napoleonische Frankreich brachte den sogenannten Code Napoleon; in den Schulen wird auch heute noch gesprochen über die sogenannten Stein-Hardenbergschen Reformen. Die Bauernbefreiung, Einführung der Gewerbefreiheit, größere religiöse Toleranz (auch als Folge von Lessings "Nathan der Weise") nutzten auch dem Zusammenleben von Christen und Juden und ermöglichten den Juden die Wahrnehmung von Rechten ohne oder mit geringerer Furcht vor Sanktionen durch die christliche Umgebung. Der Unterricht in der jüdischen Schule

Bis 1835 wurden die jüdischen Kinder von ständig wechselnden Lehrern unterrichtet. Deshalb bat der Vorstand der Vöhler Israeliten in jenem Jahr den Kreisrat, den seit sieben Jahren in Vöhl wohnenden und aus Altenlotheim stammenden David Schönhof fest einzustellen. Gleichzeitig sollte Schönhof das Amt des Vorbeters versehen. Es gibt einigen Schriftwechsel, weil die Schulaufsicht von der Qualifikation Schönhofs nicht gleich überzeugt war. Sie stellte ihn zunächst zur Probe, dann jedoch fest ein. Dies wohl auch deshalb, weil seine Bezahlung wiederum allein Sache der jüdischen Gemeinde war.

Der Großhessische Rabbiner zu Gießen erlaubte Schönhof dann auch die Vornahme jüdischer Trauungen.

Aus dem "Verzeichniß des Salzbedarfs der Bürgermeisterei Vöhl - Gemeinde Vöhl nach Maasgabe der Seelenzahl und des Viehstandes vom Jahr 1840" geht hervor, dass zu Schönhofs Haushalt 3 Personen über 8 Jahre, 2 Person unter 8 Jahre und ein Stück Kleinvieh (Schaf oder Ziege) gehörten. Und da dieses Verzeichnis nicht in alphabetischer Reihenfolge, sondern wahrscheinlich entsprechend der Reihenfolge der Häuser erstellt wurde, können wir aufgrund der vor und nach ihm aufgeführten Personen vermuten, dass Schönhof in den Wohnräumen von Schule und Synagoge wohnte.

1841 wurde er von Salomon Bär abgelöst, der ihn schon seit 1839 als Referendar unterstützt hatte. Die Erlaubnis zur Durchführung von Trauungen erhielt Bär allerdings erst 1849. Bis dahin versah diese Aufgabe Jakob Goldenberg aus Höringhausen, der 1849 starb.

Bär arbeitetet 40 Jahre lang - bis zu seinem Tod - als Lehrer in Vöhl; mindestens bis Mitte der 60er Jahre im Synagogengebäude, und ab einem nicht bekannten Termin, möglicherweise ab dem genannten Zeitraum, in der neuen Schule, die in dem von Ascher Rothschild gebauten großen Haus in der späteren Arolser Straße eingerichtet wurde. Er soll ein guter Lehrer gewesen sein, dem auch die zahlreich in Vöhl vertretenen Beamten ihre Kinder in einigen Fächern anvertraut haben sollen, wie der schon erwähnte Heimatforscher Walter Kloppbenburg zu berichten wusste. Darüber hinaus versah er das Amt des Vorsängers in der Synagoge, war zeitweise Rechner der israelitischen Religionsgemeinde, übernahm mehrmals Vormundschaften von Kindern, wenn ein Elternteil starb, und war wohl insgesamt ein Mann, der engagiert arbeitete, - wenn es seine Gesundheit zuließ. Er selbst, aber auch seine Frau Wilhelmine und beider Kinder waren oft krank, vor allem im Winter, wenn der Wind durch die undichten Fenster pfiff und die Außenwände ganz klamm waren. Mehrmals beschwerte sich Bär beim Kreisrat in dieser Angelegenheit. Möglicherweise hing es mit den ungesunden Wohnverhältnissen zusammen, dass er schon mit ungefähr 65 Jahren starb.

Von ihm wissen wir ziemlich genau, was er verdiente; im Jahr 1855 waren dies 249 Gulden 15 Kreuzer, die sich folgendermaßen aufschlüsselten:

• für Besoldung
• Neumondsgelder von 30 Kindern, von jedem 54 Kreuzer jährlich
• für’s Schopharblasen
• für’s Vorlesen der Bücher Esther
• Miethwerth der Lehrerwohnung
200 fl - kr
27 fl - kr
1 fl 30 kr
- fl 45 kr
20 fl - kr

Große Reparatur 1846

Mitte 1845 - nicht einmal zwanzig Jahre nach dem Bau von Schule und Synagoge - beginnt ein reger Schriftwechsel über notwendige Reparaturarbeiten. Erste Kostenaufstellungen belaufen sich auf einen Betrag von damals immensen 2000 Gulden. In einem Brief an Kreisrat Zimmermann meint der Kreisbaumeister Biedenkopf, einen solchen Betrag sei das Gebäude gar nicht wert. Die Gemeinde sei gut beraten, das Haus zu verkaufen und neu zu bauen. Die Art der Schäden wird nicht genau bezeichnet, doch scheint das Fundament an einer Seite abgesackt zu sein. Außerdem wird erörtert, die Hohlziegel auf dem Dach durch Plattziegel zu ersetzen. Das erforderliche Geld, man hatte sich im Voranschlag auf knapp 900 Gulden geeinigt, sollte von der Sparkasse der Grafschaft geliehen werden.

Aus dem Jahr 1846 liegt uns die öffentliche "Arbeitsversteigerung" des Vorstands der israelitischen Religionsgemeinde vor, wo es um die "Reparatur an dem Synagogengebäude zu Vöhl" ging. Die Ausschreibung umfasste Maurer- nebst Steinhauer-, Zimmer-, Dachdecker-, Schreiner-, Schlosser-, Glaser-, Weißbinder (=Maler)- und Spengler (=Klempner)-Arbeiten und belief sich auf 807 Gulden und 14 Kreuzer. Wie groß dieser Betrag war, kann man ermessen, wenn man berücksichtigt, dass die Kirchengemeinden des Kirchspiels 5 Jahre zuvor von Ascher Rothschild einen Kredit von 18 000 Gulden zum Bau der Martinskirche erbaten und erhielten. Da wird ein Betrag von knapp über 800 Gulden wohl nicht nur Reparaturarbeiten betreffen. Möglicherweise hat man im Rahmen dieser Arbeiten im Bereich des Sakralraums die Decken von Erdgeschoss und 1. Stock entfernt und die kuppelförmige Decke eingebaut, denn es gibt mehrere Hinweise, dass die Synagoge nicht von Anfang an ihre heutige eindrucksvolle Höhe hatte. Als Handwerker waren übrigens eingesetzt: Maurermeister Biggert, Pflasterer Jacob Schulburg (Frankenau), Dachdecker Wilhelm Daube (Battenfeld), Zimmer-, Glaser- und Schreinerarbeiten Simon Mildenberg (Vöhl), Schlosser Georg Schmal (Asel), Weißbinder Heinrich Wiesemann (Vöhl), Spenglerarbeiten Konrad Schmidt (Battenberg). Bezahlt wurden dann übrigens insgesamt 908,22 Gulden.

Im Dezember 1851 wurden die Fenster der Wohnung repariert. 1855 stürzten die Abtritte ein und mussten durch neue ersetzt werden. Zehn Jahre später waren es wieder die Fenster, die der Erneuerung bedurften. Vermögen der jüdischen Gemeinde

Für das Jahr 1864 liegt uns ein sehr interessantes Dokument vor, dessen Abschrift hier vorgestellt werden soll: Verzeichnis und Schätzungdes sämmtlichen beweglichen u. unbeweglichen Vermögensder israelitischen Religionsgemeinde Vöhl, Basdorf, Marienhagen, OberWerba

Ord. Nr. Beschreibung der Vermögenstheile Kapitalwerth
fg kr
  a) Verzinsliche Kapitalien
Nichts
 
  b) unverzinsliche Forderungen
Nichts
 
  c) Mobiliar  
1 Thoras 150
2 5 Tische 20
3 5 Bänke 10
4 3 Leuchter 3
5 2 Wandtafeln 2
6 1 Rechenmaschine 3
7 1 Todtenbahre 1
8 2 Leichentücher 15
9 10 Lautir- und Lesetafeln 5
10 Ein Trezzchen beim Aufteilen der Lichter im Gebrauch 2
11 Ein Reinigungsbrett 1
12 Eine Teigwalze 50
13 Verschiedne andere Synagogengeräthschaften 5
  Summe 267
     
  d) Gebäude  
  Ein Synagogen- u. Schulgebäude 3.000
     
  e) Gärten u. sonstige Ländereien  
  Ein Friedhof 200
     
  f) Nutzbare Rechte
Nichts
 
     
  Zusammenstellung  
     
  a) verzinsliche Kapitalien -
  b) unverzinsliche Forderungen -
  c) Mobiliar 267
  d) Gebäude 3.000
  e) Gärten u. sonstige Ländereien 200
  f) Nutzbare Rechte -
  Hauptsumme 3.467

Aufgestellt am 11.2. 1864
Der Vorstand: Baer Stern, Abraham Katzenstein
Spätere Bewohner des Gebäudes

Genaue Übersichten über die Bewohner des Hauses gibt es nicht. Um 1880 herum, also vielleicht kurz nach Bärs Tod, wohnte Simon Mildenberg hier, allerdings wohl nur vorübergehend. Er hatte als Schreinermeister, der übrigens als erster Jude in Vöhl auch Lehrlinge ausbilden durfte, das übernächste Haus zur Arolser Straße hin gebaut, und wir wissen, daß er auch später wieder dort gewohnt hat.

Dann zog Levi Mildenberg hier ein. Nachdem sein Sohn Sally das größere Nachbarhaus gekauft hatte, zog er mit seiner Frau dort hin und überließ die Wohnung neben der Synagoge seinem Sohn Hermann. Der lebte hier zusammen mit seiner Frau Paula, die drei Töchter bekam – Hilde, Ilse und Charlotte – und 1921 an Krebs starb. Mildenberg heiratete dann Paulas jüngere Schwester Minna. Hilde, Ilse und zuletzt auch Lotte gingen nach der Schulzeit aus dem Haus und arbeiteten im Ausland. Bis 1938 lebten Hermann und seine Frau Minna in Vöhl. Er besaß ein Schuhwarenlager, auf das ein Schild hinweist, das wir bei Übernahme des Gebäudes vorfanden. Außerdem handelte er mit Tabakwaren und verschiedenen anderen Produkten. Seine Armut war fast sprichwörtlich; er galt überall als der "arme Hermann". Er war auch ein sehr frommer Mann, der den Synagogendienst versah. Bei offiziellen Angelegenheiten, wie z.B. bei Trauungen, versah Lehrer Louis Meyer die erforderlichen Dienste, doch die normalen Gottesdienste gestaltete im wesentlichen der "Schuster-Hermann".

In den 30er Jahren gestaltete sich das Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden auch in Vöhl immer schwieriger. Der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933, daran sich zeitlich anschließende Berufsverbote, die Nürnberger Gesetze, die Juden zu Bürgern zweiter Klasse machten und eheliche Verbindungen verboten, drücken nicht die alltäglichen Behinderungen, Beschimpfungen und hin und wieder auch Tätlichkeiten aus, die Juden überall in Deutschland, und auch in Vöhl, zu erdulden hatten. Wir kennen Spottverse, die christliche Kinder der Beate Frankenthal nachriefen; wir wissen, dass Kinder die Fensterscheiben in jüdischen Häusern einwarfen und selbstverständlich weder von den Eltern noch von den Behörden bestraft wurden, weil die Juden es natürlich auch nicht wagten, Anzeige zu erstatten. Ursula Mildenberg berichtet, was in der Vöhler Schule los war, wenn die jüdischen Kinder erst zur zweiten Stunde kamen, nachdem in der ersten Stunde "Rassenkunde" unterrichtet worden war.

Aus all dem zogen viele Vöhler Juden die einzig mögliche Konsequenz, aus Deutschland auszuwandern. Zu denen, die gerade noch rechtzeitig wegkamen, gehörte auch Hermann Mildenberg mit seiner Familie. Sie gingen 1938 in die USA. Seine Tochter Ilse und wahrscheinlich auch Charlotte leben heute noch. Wenn sie geblieben wären, wären sie mit allergrößter Wahrscheinlichkeit seit fast 60 Jahren tot.

Diesem Umstand des gerade noch rechtzeitigen Verkaufs verdankt dieses Gebäude sicherlich, dass es die sogenannte Reichskristallnacht am 9. November 1938 einigermaßen unbeschadet überstand. Die Dorfkinder veranstalteten Schießübungen auf den Kronleuchter, wie uns berichtet wurde, aber größerer Schaden wurde nicht angerichtet. Allerdings wissen wir nicht, was mit den sakralen Gegenständen - den Thoras, dem Thoraschrein, den Leuchtern usw. - geschah. Wir hatten und haben die Information, dass diese Gerätschaften von Polizei und/oder SA und SS nach Kassel verbracht und dort zerstört worden seien; doch wenn man von einem einigermaßen ordnungsgemäßen Verkauf des Gebäudes ausgeht - eine solche Formulierung ist noch sehr beschönigend angesichts des Drucks, den es sicherlich von seiten des Staates gab, und angesichts der Angst der jüdischen Familien -, dann erscheint es durchaus möglich, dass diese sakralen Gegenstände in irgendeiner Weise zumindest vorübergehend in jüdischem Besitz geblieben sind.

Dieses Haus kaufte eine Familie Rost, die nur vorübergehend hier wohnte. Dann übernahm es der Maurermeister Wilhelm Kunz, der es seiner Tochter Anna und deren Mann überließ. Die Sprengers wohnten hier bis Anfang der 70er Jahre. Herr Sprenger richtete als Schuster in demselben Raum seine Werkstatt ein, den Hermann Mildenberg schon zum selben Zwecke genutzt hatte. In dieser Zeit diente der ehemalige Sakralraum als Baustofflager.

Von den Sprengers kaufte ein in Marienhagen wohnender Holländer namens Stevens das Gebäude und überließ es der Familie Röhling. Von dieser Familie wiederum kaufte der Förderkreis "Synagoge in Vöhl" das Haus. Was ist eine Synagoge?

Eine einfache Erklärung gibt natürlich der Satz: "Sie ist die Kirche der Juden"; doch dies ist nicht ganz richtig. Ein Gotteshaus oder "Gottes Haus" war und ist die Synagoge nach jüdischem Verständnis nicht. Diese Eigenschaft kam wohl nur dem zweimal zerstörten Tempel in Jerusalem zu. Das griechische Wort "Synagoge" - in hebr. Übersetzung "Beth hak-Knesseth" bedeutet "Versammlung" oder "Vereinigung", meint also mehr die Menschen als den Ort. Gleichwohl wurde diese Bezeichnung sehr früh schon auch auf den Ort angewandt, an dem Juden sich versammeln, um die Bücher der Propheten zu lesen und zu deuten. Während in Jerusalems Tempel das Opfer zentrale Bedeutung hatte, steht im Synagogen-Gottesdienst die Schriftlesung im Mittelpunkt.

Religionshistoriker sehen verschiedene Ursprünge der Synagoge. Einige meinen, Synagogen habe es auch schon im vorchristlichen Israel für die von Jerusalem entfernten Orte gegeben; andere wiederum vertreten den Standpunkt, sie seien in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft entstanden als Ausdruck des Bedürfnisses nach einem Ort, an dem man beten und Gott anrufen konnte zu einer Zeit, als der Tempel zerstört und Jerusalem weit weg war. Das älteste Gebäude mit der Inschrift "Synagoge" gibt es in der Nähe Alexandrias in Ägypten und stammt aus dem 3. Jhd. vor unserer Zeitrechnung.

Doch die Synagoge war meist nicht nur Ort gottesdienstlicher Handlungen, sondern oft auch Schule (in jiddischer Sprache heißt die Synagoge "Schul"), gesellschaftliches Zentrum, Versammlungsort für die Behandlung auch nichtreligiöser Angelegenheiten. Geschichte und Bedeutung der Juden in Vöhl, Basdorf und Marienhagen

Ersterwähnung eines Vöhler Juden 1682

Aus dem Jahre 1682 stammt die erste urkundliche Erwähnung eines Juden in Vöhl: Für den Bau der Marienhagener Kirche hatte man bei ihm 60 Pfund Eisen gekauft, "woraus lange Nägel durch den Strich und Balken gemacht sind", und 1 Gulden 15 Albus bezahlt. Einen Namen hatte der Mann nicht, man sprach lediglich von dem "Juden zu Voehle". Dies mag den Schluss nahe legen, dass es zu diesem Zeitpunkt nur diesen einen Juden am Ort gegeben hat, doch das im folgenden erwähnte Dokument lässt vermuten, dass es auch im Jahr 1682 schon mehr als diesen einen Juden gegeben hat. Häuserverzeichnis von 1705

Ein Häuserverzeichnis von 1705 nennt 8 Juden als Haus- und Grundbesitzer: Auscher Rothschild (die Nr. der "Hofraithe" entspricht dem heutigen Grundstück Fackiner in der Arolser Straße), Selig Schönhof, Isaac Moses Kugelmann (Arolser Straße; Teilgrundstücke von Familie Seibel und Frau Helga Schmal); David Isaac Stern (Arolser Straße, bewohnt von Martin Evers), Seligman Rothschild (in der Nachbarschaft eines früheren Backhauses, das sich aber derzeit noch nicht genauer lokalisieren lässt), Joseph Blum (in der Nachbarschaft der Kirche, also Schulberg oder Kirchweg); Bär Katzenstein (wieder in der Nachbarschaft eines noch nicht lokalisierten Backhauses, möglicherweise in der heutigen Basdorfer Straße) und Loeb Moses Schaumburg (vielleicht auf der anderen Seite desselben Backhauses).

Wahrscheinlich wurden schon damals jüdische Gottesdienste in Vöhl gefeiert, allerdings nicht in einem extra dafür gebauten Haus, sondern in einer Privatwohnung. Nach jüdischem Gesetz können Gottesdienste nur stattfinden, wenn 10 Männer über 13 Jahre - ein Minjan - anwesend sind. Im Ausnahmefall kann die Thora - die Schriftrolle mit den 5 Büchern Mose - den zehnten Mann ersetzen. Acht jüdische Familien im Jahr 1705 - das könnten bei damaliger Familiengröße 50 bis 60 Personen gewesen sein, und darunter waren ganz gewiss 10 Männer ab dem 13. Lebensjahr.

Ein in die USA emigrierter Mann namens Joseph Rosenthal berichtet von einem Schutzbrief aus dem Jahre 1732, der bis zur Flucht im Besitz seiner Familie gewesen sei. Dieser Schutzbrief habe einem "Joseph von Voehl" gegolten, der in jenem Jahr nach Geldern gezogen sei und dem der Graf von Solms diese Urkunde ausgestellt habe. Die Familie seiner Mutter trage deshalb seit jenem Joseph den Familiennamen Voehl.

1777 werden in verschiedenen Dokumenten die sogenannten Schutz-Juden Izzig Simon und Schlom Abraham als Geldverleiher erwähnt. Entwicklung im 19. Jahrhundert

Anfang des 19. Jhds war eine deutliche Zunahme der Juden in Vöhl, Basdorf und Marienhagen zu verzeichnen. Folgende Zahlenangaben liegen uns vor: 
Jahr Personen
1705
1830
1852
1885
1905
1930
ca 50
76
136
ca 100
86
45
 Ab dem preußisch-österreichischen Krieg und der damit verbundenen Abtretung des Kreises Vöhl von Hessen-Darmstadt an Preußen ging die Zahl der Juden zurück. Vielleicht hing das mit den besseren Handels- und Verdienstmöglichkeiten in den auch zu Preußen gehörenden Städten der Umgebung zusammen. Es gab nun nicht mehr den Vöhler Vorteil eines freiheitlicheren Verfassungssystems.

Auch unter den nichtjüdischen Deutschen gab es um die Mitte des vorigen Jahrhunderts herum eine starke Auswanderungsbewegung. Selbstverständlich zog es ebenso die deutschen Juden verstärkt nach Amerika. Einige Auswanderungshinweise enthält das Archiv der Gemeinde Vöhl.

Um 1880 herum setzte ein rassisch motivierter Antisemitismus ein, der in Mittelosteuropa seinen Ausgang hatte, recht schnell aber auch in Deutschland Einzug hielt.

Schon in den 20er Jahren gab es vor allem gegen Juden gerichtete Wuchergesetze, wegen denen es auch in Vöhl zu - allerdings mit einer Ausnahme nur geringfügigen - Bestrafungen kam. Das Dritte Reich

Die Eskalation der Ereignisse im sogenannten Dritten Reich ist bekannt. Auf die Diskriminierungen der Anfangsjahre wurde schon hingewiesen. Im Zusammenhang mit der Reichspogromnacht wurden auch in Vöhl zwei Männer verhaftet und über Kassel ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Einer der beiden - Max Mildenberg, verheiratet mit einer Christin und Vater eines evangelisch getauften Mädchens - wurde im März 1939 unter der Auflage nach Hause entlassen, umgehend aus Deutschland auszuwandern. In Frankreich wurde er allerdings wieder interniert und später entweder dort oder in den Vernichtungslagern des Ostens umgebracht. Der zweite Verhaftete der Pogromnacht, Alfred Rothschild, der hier in Vöhl eine Gastwirtschaft betrieb, zeitweise Gemeindevertreter und Regisseur der Laienspielgruppe war, wurde erst im September 1939 entlassen, war aber so schwer mißhandelt worden, daß er wenige Tage später im Korbacher Krankenhaus starb.


Bis zuletzt blieben die "alten Frauen". Johanna Frankenthal, die auf dem Schulberg wohnte, Frau des Bernhard Frankenthal und Mutter von Beate und Ida Frankenthal; Hermine Rothschild, Ehefrau des eben erwähnten Alfred, Mutter des heute in Süddeutschland lebenden Richard Rothschild; Selma Rothschild, Alfred Rothschilds Schwester; und schließlich Rickchen Katzenstein, Ehefrau von Samuel, genannt Schmul Katzenstein; diese vier alten Frauen lebten bis 1942 hier im Dorf, wurden dann deportiert und in verschiedenen Lagern umgebracht.

Was soll aus dem Gebäude werden?

Der Förderkreis "Synagoge in Vöhl" möchte, daß der Sakralraum zu einer Kultur- und Begegnungsstätte umgestaltet wird. Einige Elemente, wie das wieder eingesetzte Fenster mit Davidstern oder der dem Förderkreis im September 2000 geschenkte Vorhang eines Thoraschreins, sollen an die jüdische Geschichte des Hauses erinnern. In diesem Raum sollen dann – wie schon jetzt – Konzerte und Vortragsveranstaltungen, Kleinkunst- und Folklore-Abende stattfinden.

In den Nebenräumen soll ein Museum eingerichtet werden, das christlich-jüdisches Zusammenleben im Laufe der Jahrhunderte ebenso darzustellen versucht, wie es uns helfen soll, jüdische Kultur und Religion zu verstehen. Das Museum sollte so gestaltet werden, daß jede Schulklasse des Landkreises gern hierher kommt. Landfrauenvereine und Seniorenclubs der Region, historische interessierte Organisationen aus ganz Hessen und den benachbarten Landkreisen Nordrhein-Westfalens sollen es als einen Gewinn betrachten können, das Museum zu besuchen. Es müsste aber auch Edersee- und Kellerwald-Touristen interessieren, den Besuchern Medebachs und Willingens sowie Kurgästen Bad Wildungens und Bad Zwestens einen Tages- oder Halbtagesausflug wert sein.Einige Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein: jüdisches Leben und deutsch-jüdisches Zusammenleben in Vöhl soll thematisiert werden, aber

• das Museum darf nicht auf das Thema "Vöhl" beschränkt sein;
• dem Auge muss viel geboten werden und
• es muss Dinge zum Anfassen geben;
• das Museum muss die Verfolgung von Juden in der Geschichte Europas - auch und besonders in der Zeit des Nationalsozialismus - zum Gegenstand haben, aber
• es soll sich darin nicht erschöpfen, sondern auch zeigen, dass Menschen verschiedener Kultur und Religion friedlich und in gegenseitiger Achtung zusammenleben können.

Jeder Raum kann einem anderen Thema gewidmet sein. Einige Themen sollten auf Dauer dargestellt werden; in einem oder zwei Räumen könnten wechselnde Ausstellungen gezeigt werden. Folgende Schwerpunkte sind denkbar:

• Vöhler, Marienhäger, Basdorfer Juden: Bilder von Personen oder Wohnräumen, Stammbäume, Häuserverzeichnisse, Anekdoten, Eheverträge, Kaufverträge;
• Juden in Waldeck-Frankenberg: Juden in Altenlotheim, Eimelrod, Höringhausen; Juden in Frankenau, Frankenberg, Gemünden usw., Juden im Waldeckischen;
• Geschichte der Verfolgung von Juden in der Welt, in Europa, in Deutschland und in Vöhl;
• Jüdische Religion und Kultur;
• Jüdische Feste; z.B. könnte ein Raum regelmäßig oder hin und wieder entsprechend dem jeweils anstehenden oder stattfindenden jüdischen Feier- oder Festtag dekoriert oder eingerichtet werden.

Einer der Räume sollte als Arbeits- bzw. Studierraum eingerichtet werden: mit einer kleinen Handbibliothek über das Judentum, mit PC und den modernen Kommunikationsmöglichkeiten (Internet, eMail, Fax).

Bitte um Unterstützung und Hilfe

Der Förderkreis "Synagoge in Vöhl" ist auf vielfältige Unterstützung angewiesen. Wir benötigen die finanziellen Mittel, um das Gebäude zu restaurieren, renovieren und so einzurichten, dass es für die beschriebenen Ziele geeignet ist. Wir hoffen auf Unterstützung durch verschiedene Institutionen des Staates, bitten aber auch Privatpersonen und Firmen um Zuwendungen und Spenden.

Die sonntägliche Öffnung der Synagoge für Besucher, die zahlreichen Konzert-, Kleinkunst- und Vortragsveranstaltungen, die Möglichkeit zur Mitgliedschaft im Förderkreis sollen dabei helfen.

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Vortrag: „Juden in Höringhausen“, 18. April 1999

Rekonstruktionszeichnung
Zeichnung der ehemaligen Synagoge von Thea Altaras; Dicker Strich: Bestand bis 1988, jetzt abgerissen

Juden in Höringhausen
von Anneliese Laartz (unveröffentlichtes Vortragsmanuskript)
11.02.1998/18.04.1999

Höringhausen -als Enklave im Fürstentum Waldeck- bot Juden schon um das Jahr 1700 die Möglichkeit, hier zu leben, ja sogar Haus und Grundstück zu erwerben.

Ich muß sagen, daß mich die Geschichte der Juden schon als Kind interessiert hat. Aber durch persönliche Begegnungen und besondere Ereignisse habe ich begonnen, hier im Ort zu schauen und mich zu informieren. So nenne ich mein heutiges Referat „Spurensuche" und gliedere es in 3 Abschnitte:

I. Häuser, in denen bis in die 30-er Jahre Juden gewohnt haben.
II. Die Synagoge und Schule
Schule
III. Der Friedhof
Schlussbemerkung

 

Fortsetzung

I. Häuser

Meine Mutter hatte als Schulkameradinnen zwei jüdische Mädchen: Gerti Kohlhagen und Hannah Rosengarten. Von denen, erzählte sie oft und in den 50-er Jahren, kam letztere 2 mal zu Besuch hier ins Dorf. Sie war verheiratet, lebte in Panama und brachte auch eine Tochter mit. Sie besuchte auch unsere Familie, und die Frauen hatten sich viel zu erzählen, zwischenzeitlich ist die Dame gestorben.

Die Familie Rosengarten hatte ein Haus, das stand dort, wo heute der Edeka-Laden Müller ist. Es war ein Fachwerkbau mit einer Laube vor dem Haus. Der wilde Wein verdeckte den desolaten Zustand des Gebäudes, der nur im Winter zu sehen war.

Dann kam vor mehreren Jahren Frau Miriam Brasloff. Sie besuchte Frau Böhme und wollte sehen, wo ihre Vorfahren gelebt hatten. Sie war, wie sich herausstellte, die Enkeltochter von Schafti Adler. Da weder Frau Böhme noch ich ihr befriedigende Auskunft geben konnten, packte ich die Dame kurz entschlossen ins Auto und brachte sie zu meinen Eltern Die Anspannung war zunächst auf beiden Seiten sehr groß. Erst als mein Vater sagte: „Sie sind also eine Verwandte von Herrn Adler, ich habe ihn gekannt. Was möchten sie denn wissen?", da war das Eis gebrochen. Ich überließ die drei Menschen (meine Eltern und Frau Brasloff) ihren Gesprächen und eine halbe Stunde später waren alle froh und zufrieden. Die Fragen von Frau B. waren weitestgehend beantwortet. Sie konnte nun das, was sie gehört hatte, an ihren Sohn weitergeben. Er lebt in den Staaten.

Das Haus von Schafti A d l e r steht in der Berghöfer Straße und gehört heute Herrn Karl-Heinz Pfeiffer. Die Scheune ist leider abgerissen. Dabei sind, wie ich erst jetzt erfuhr, mit einer Kiste auch wertvolle Aufzeichnungen der Juden verloren gegangen.

Die Familie Adler hatte einen Handel mit Blech- und Altwaren. Sie besaß Ländereien auf der Beiwitz (Piwitz), auf dem Krautgarten und auch Wald an der Straße nach Nieder-Waroldern. Die Flurbezeichnung „Adlers Alpen" weist heute noch darauf hin.

Angehörige der Familie nahmen am 1. Weltkrieg teil. Zwei Männer sind gefallen. Ihre Namen sind am Ehrenmal zu lesen. Sie wurden nicht, wie in einem Buch zu lesen, während der Nazizeit entfernt.

Familienmitglieder wanderten über Holland nach England und Südamerika aus. Eine Verwandte der Familie A d l e r wohnte im Haus Hans Siebert. Sie hieß Rickchen Gumpert.

Im Haus der Familie Heinrich Krumme! in der Alrafter Straße, lebte der reiche Fellhändler Hermann Katzenstein. Außer mit Fellen handelte er mit Leder und Schuhen und er betätigte sich als Makler. Er verkaufte u. a. Schwagers Hof. Hermann Katzenstein hatte zwei Töchter, Irma und Malla. Eine heiratete den Textilkaufmann Markof, der im heutigen Haus Manhenke in Korbach seine Waren verkaufte. Die andere heiratete den Seifenfabrikanten Wolf aus Schlüchtern. Diese Seifenfabrik wurde von Herrn Henlein übernommen und später als Seifenfabrik Dreiturm weitergeführt.

Wolf und seine Familie lebten in Israel und betrieben dort Landwirtschaft. Sie verzichteten darauf, ihre Firma in Schlüchtern zurück zu nehmen, obwohl die Möglichkeit dazu bestand. Sie sorgten aber dafür, daß Frau Luise Krummel das Haus in der Alrafter Straße nicht ein zweites Mal kaufen mußte, was bei allen anderen Judenhäusern im Ort der Fall war.

Hermann Katzenstein wurde angeblich im Februar 1936 schwer mißhandelt und zusammengeschlagen. Man lauerte ihm auf, und der Täter ist wohl in einem der Nachbarorte zu suchen. Katzenstein starb am 12. Februar 1936 und ist der letzte Jude, der auf dem hiesigen Friedhof beigesetzt ist.

Benjamin Katzenstein hatte einen Kolonialwarenladen im heutigen Haus Ullrich in der Berghöfer Straße. Die Leute aus dem Dorf konnten bei ihm auch noch samstags abends einkaufen. Allerdings bediente er sie erst nach Sonnenuntergang wenn der Sabbat zu Ende war und er sein entsprechendes Gebet gesprochen hatte.

Karl Kohlhagen hatte ein jüdisches Gasthaus, wohl das einzige in ganz Waldeck. Heute lebt in dem Haus die Familie Franke, die das Gebäude in den letzten Jahren grundsaniert hat.

Ich erinnere mich, daß an dem verschieferten Giebel in weißer Schrift ganz groß zu lesen stand: Gasthaus Kohlhagen. Mit diesem Gasthaus hat es eine besondere Bewandtnis. Im Fürstentum Waldeck durften sich Juden nur vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang aufhalten. Da man sich damals nur mit den Füßen oder auch per Pferdewagen vorwärts bewegte, konnte niemand das Fürstentum an einem Tag durchqueren. Höringhausen lag in der Mitte, und so war es eine gute Sache für alle Juden, daß sie hier einkehren konnten. Die meisten verdienten ihren Lebensunterhalt ja als herumziehende Händler.

Im Haus der Frau Lange - früher Hasenschar- in der Hauptstraße, lebte Isaak Kohlhagen mit seiner Familie. Er betrieb ein Tuchwarengeschäft und verkaufte seine Dinge, indem er mit dem Rucksack herumzog. Er hatte drei Kinder, eine Tochter, Gerti, einen Sohn, Max und einen Sohn, Kurt. Die Familie war recht arm. Während des Sabbats oder an bestimmten Festtagen ging eine Nachbarin hin um beispielsweise das Feuer in Gang zu halten oder sonstige Dinge zu erledigen, die den Juden an solchen Tagen untersagt waren.

Isaak wurde während der Nazizeit abgeholt und, nachdem man ihn furchtbar mißhandelt hatte, nach Hause entlassen. Er sprach nicht über das, was man ihm angetan hatte. Er starb an den Folgen der Verletzungen im Jahr 1938. Seine Kinder waren da schon lange fort.

Wo heute das neue Haus Voigtländer steht, war früher ein Fachwerkhaus, das Menko Löwenstein gehörte. Er hatte auch einen Tuch- und Handarbeitsladen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts mußten die Juden allgemein verständliche Namen annehmen. In einem Buch steht zu lesen, daß die Familie Baer sich ab diesem Zeitpunkt Löwenstern nannte. Angeblich, weil die Grenzsteine, die die Gemarkung Höringhausen umgeben, auf der einen Seite den hess. Löwen und auf der anderen Seite den Waldecker Stern zeigen, also Löwenstern. Dieser Familienname war bis zuletzt in Höringhausen vertreten.

Im Haus Pohlmann, in der Alrafter Straße lebte die Familie Süßel. Das Fachwerkhaus brannte in den fünfziger Jahren ab. Die Familie betrieb einen Spirituosenhandel. Ob sie auch Schnaps brannte, ist nicht erwiesen. Die Töchter des Ehepaares waren gut verheiratet, und die Eltern wollten wegziehen. Sie stellten ihre Habe, die sie nicht mitnehmen wollten und konnten, auf den Hof und gaben die Gegenstände meistbietend ab.

In der Berghöferstraße, im früheren Haus Julemann, lebte die Familie Lazarus. Schon im letzten Jahrhundert war sie sehr angesehen. Als das neue evangelische Pfarrhaus (1835 -1837) gebaut wurde, lebte die Pfarrersfamilie dort.

Markus Lazarus, ein Sohn, nahm am deutsch - franz. Krieg teil (1870/71). Er gründete in Höringhausen den Kriegerverein mit und stiftete auch die Fahne. Er war verheiratet, hatte aber keine Kinder. So vermachte er vor seinem Tode der jüdischen, der evangelisch und der politischen Gemeinde jeweils 9.000 Mark. Dieses Erbe war mit der Auflage verbunden, es nur für Arme, Kranke und sonstige wohltätige Zwecke zu verwenden. Als er 1907 starb, beschlossen die Mitglieder des Kriegervereins in einer Sitzung, daß der Verstorbene Markus Lazarus mit allen militärischen Ehren beigesetzt werden sollte. Sie bestellten 8 ihrer Mitglieder, die den Leichenzug begleiten und 6 ehemalige Krieger, die die Ehrensalve abfeuern sollten. Eine Kapeile des 167. Infantrieregimentes in Kassel wurde bestellt und der Tote von einer riesigen Trauergemeinde zu Grabe getragen.

Das Badehaus für Frauen, das sogenannte Plunkhäuschen, stand zwischen dem heutigen Grundstück Rohde und Mettenheimer in der Alrafter Straße. Die Grenze wurde erst beim Verkauf des Hauses Zimmermann an Familie Rohde endgültig festgelegt. Das Badehaus, oder auch „Mikwe" genannt, wurde für rituelle Tauchbäder benutzt. Vor der Eheschließung und jeden Monat mußten die Frauen ein Bad nehmen. Das Wasser mußte sich selbst sammeln, sprich: es mußte Quellwasser oder ggf. auch Regenwasser sein. Die Frau mußte untertauchen können.

Weitere Judenhäuser waren:
Das frühere Haus Fleschenberg. das z. Zt. vollständig umgebaut wird.
Das Haus Mettenheimer im Kübenbom und das Haus Rüssel - früher Schluckebier, Mützenmaker - gleich bei der Kirche. Die Gebäude wurden zu Beginn dieses Jahrhunderts verkauft und gehörten ursprünglich den Familien Pickhard.

Wie ich eingangs schon sagte, boten die hess. Landgrafen den Juden schon sehr früh Gelegenheit, sich hier im Ort anzusiedeln. So besaßen 1704 schon 2 Juden nachweislich eigene Häuser und auch Grundstücke. Der Landesherr erhob zwar Schutzgelder, aber 1730 haben 3 Juden das verbriefte Recht, Pfänder anzunehmen und dafür Geld auszuzahlen. 8 Tage mußten die Gegenstände bereit gehalten werden, dann durften sie veräußert und zu Geld gemacht werden.

Die Wölfe von Gudenberg, die Höringhausen zu Mannlehen hatten, erstellten 1749 einen Lehnsbrief, in dem die Abgaben genau aufgelistet waren. Das Judenschutzgeld betrug jährlich 3 Schilling, 22 Albus und 4 Heller. Außerdem mußten Naturalien in Form von 1 1/1 Pfund Zucker, einem Kalbsbraten zwischen 7 1/4 und 8 Pfund sowie alle Zungen der geschlachteten Rindviecher geliefert werden.

Das Begräbnisgeld bei Erwachsenen war auf 1 Schilling, 15 Albus festgelegt, bei Kindern waren 22 Albus zu entrichten. Über diese Zahlungen gibt es genaue Auflistungen. Die Hälfte der Einkünfte wurde nach Vöhl abgeführt, die andere verblieb hier im Ort beim Lehnsherrn. Entstandene Unkosten wurden natürlich vorher in Abzug gebracht.

Genaue Daten, sprich: Geburten, Eheschließungen, Todesfälle wurden erst ab 1875 beim Standesamt erfaßt.

Mitte des 18. Jahrhunderts setzte ein verstärkter Zuzug von Juden ein. Das Einzugsgeld war erhöht worden auf 16 Gulden, 15 Albus. 1783 gab es bereits 24 jüdische Familien im Ort.

Das Dorf war landwirtschaftlich strukturiert. Die 19 Ackerleute, 39 Kötter und eine geringe Zahl von Handwerkern versorgten sich mit dem, was Haus und Hof hergaben. Durch die Ansiedlung der Juden, die unter landesherrlichem Schutz ihren verschiedenen Handelsberufen nachgingen, war ein starker Händlerstamm entstanden. Sie kauften überschüssige Produkte der Bauern und versorgten sie mit fehlenden Gütern des täglichen Bedarfs.

Unter den 65 Gewerbetreibenden waren 33 Juden. Davon arbeitete einer als Schuhmacher, einer als Küfer und sieben als Metzger. Die Metzger übten ihre Tätigkeit auch in den umliegenden Orten aus, damit ihre Glaubensbrüder auch koscheres, sprich: ausgeblutetes Fleisch, verzehren konnten. Sie mußten für die Ausübung ihres Berufes eine besondere Steuer bezahlen, die sogenannt Schlacht-Accis. Da ihnen diese Abgabe zu hoch erschien, beschwerten sich alle Metzger gemeinsam beim Rentamt in Vöhl, und die Steuer wurde daraufhin gesenkt.

Das Zusammenleben der Bewohner des Ortes war unproblematisch und gut. Dieses änderte sich erst ab Ende der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts.

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II. Die Synagoge

Im Jahr 1987 erschien in der Reihe „Die blauen Bücher" eine Ausgabe: Synagogen in Hessen - Was geschah seit 1945? Hier sind die Orte aufgelistet, die früher Synagogen hatten, und man untersuchte, was mit diesen Gebäuden geschehen war. In diesem Buch steht u. a. auf Seite 67 und folgende, daß die Höringhäuser Kirche ursprünglich Synagoge gewesen sei und später als Kirche geweiht wurde. Das gleiche steht auch in dem Buch „Juden in Hessen". Diese Behauptung stimmt n i c h t.

Kurze Zeit später kam eine Frau aus Gießen. Sie schaute sich intensiv die Kirche an. Als man sie fragte was sie denn suche, gab sie zur Antwort: „Ich suche ein Zeichen dafür, daß diese Kirche früher eine Synagoge war, aber ich finde nichts." Sie bekam dann zur Antwort, daß sie auch nichts finden könne. Die Synagoge habe dort gestanden, wo heute die Raiffeisenkasse sei. Die Angaben in dem angeführten Buch seien schlicht falsch. - Bei der Frau handelte es sich um Frau Prof. Thea Altaras, der Herausgeberin des Buches.

Im Laufe der Zeit kamen ab und an Leute, deren Vorfahren in Höringhausen gelebt hatten. Auch sie fragten nach der Synagoge. Der damalige Kirchenvorstand sah sich daraufhin veranlaßt, einen Antrag an den Vorstand der Raiffeisenkasse zu stellen mit der Bitte, ein Schild anzubringen, woraus hervorgehen sollte, daß an der genannten Stelle früher die Synagoge gestanden habe.

Wie schwierig dieses Ansinnen war, ist kaum nachzuvollziehen. Immer wieder wurde eine Entscheidung verschoben. Eigentlich wollte niemand solch eine Tafel haben. Bevor der frühere Geschäftsführer, Martin Sohl, dann in den Ruhestand ging, war es so weit. Die Tafel wurde angefertigt, durfte aber nicht am Gebäude selbst, sondern an der Mauer zum Grundstück Dreier hin, angebracht werden.

Im Jahr 1856 gab es im Ort 26 jüdische Familien mit 152 Personen. Die Bewohner lebten in gesicherten, aber nicht eben reichen Verhältnissen.

Die alte Synagoge (1792 gebaut), war baufällig geworden. Sie stand auf dem heutigen Grundstück Sauer, Hauptstraße - Ecke Korbacher Straße.

In einem Brief vom 30.8.1841 vom Großherzoglichen Kreisrath zu Vöhl an den Vorstand der israelitischen Gemeinde in Höringhausen wird festgestellt, daß die alte Synagoge nicht mehr zu reparieren sei. Bevor aber Pläne gemacht würden, solle erforscht werden, „ob der erforderliche Fond zum Neubau durch Umlagen oder Kapitalaufnahmen erbracht werden soll und kann".

Im Jahr 1847 verpflichten sich die männlichen Juden von Höringhausen, je nach Einkommen eine Summe zu zeichnen, die sie in den nächsten Jahren für den Bau einer Synagoge spenden wollen. Ausdrücklich sind Junggesellen mit herangezogen und jeder zwischen 15 und 60 Jahren muß so hoch zeichnen, wie eben möglich. Es kommen 258 Gulden und 20 Albus pro Jahr zusammen.

Gleichzeitig beantragt der Vorstand die Genehmigung, bei Glaubensbrüdern in den Provinzen Oberhessen und Starkenburg Kollekten erheben zu dürfen. Die Gelder werden zunächst bei einer' Sparkasse hinterlegt. (In Vöhl gab es schon seit dem 18.6.1829 eine Spar- und Leihkasse, eine der ersten in Hessen.)

Der Briefwechsel zwischen dem Reg. Bez. Biedenkopf und der hiesigen Gemeinde ist sehr rege. Es heißt u. a., daß die Finanzierung 8 Tage offen gelegt werden muß. Das erinnerte mich doch an Gepflogenheiten, die auch heute gängige Praxis sind. Außerdem steht noch nicht fest, ob die Gelder innerhalb von 3 Jahren zusammen sind, oder ob ggf. doch ein Kredit aufgenommen werden dürfe.

Der Zeitraum der Spenden ist schon sehr lang, und offensichtlich sind 1856 einige im Verzug mit ihren Zahlungen. Aber es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Gelder notfalls auf dem Rechtsweg eingetrieben werden sollen.

Als die Gemeinde einen erneuten Antrag auf Kollekten bei Glaubensbrüdern stellt wird dieser zwar bewilligt, aber gleichzeitig angefragt: „ob sich bei diesem Bauwesen auf das notwendigste beschränkt worden ist und worauf es beruht, daß die Baukosten, die früher nur zu 3.000 Gulden angeschlagen waren, jetzt auf 5.000 Gulden, also viel höher berechnet werden".

Das Grundstück, auf dem die Synagoge errichtet wurde, gehörte der Familie Simon Freudenstein. Das Wohnhaus wurde 1852 abgerissen und im Jahr 1854 mit dem Neubau des Gotteshauses einschließlich Schule und Lehrerwohnung begonnen. Mit einem großen Fest fand die Einweihung statt.

In einem Brief des Großherzogl. hess. Rabbiners zu Gießen an den Vorstand der Israel. Religionsgemeinde in Höringhausen ist nachzulesen, wie die Feierlichkeiten ablaufen sollen. Dort heißt es unter anderem, daß Herr Levi, der Unterzeichner des Briefes, nach Korbach kommt und dort abgeholt werden möchte. Er beschreibt die Aufstellung des Festzuges, die Reihenfolge, die Schlüsselübergabe, schlägt Lieder vor und skizziert den Ablauf des Gottesdienstes. Gleichzeitig begrenzt er die Dauer der Festivität auf 2 1/2 Stunden. Er weißt auch darauf hin, daß Ordnungskommissäre angeheuert werden sollen. Er schließt mit der Hoffnung, daß die Synagoge mit Gottes Hilfe und zu seinem Lobe eingeweiht und geweiht werden könne.

Der sakrale Bau war aus rotem, behauenem Sandstein in rechteckig - gestreckten Grundriss auf niedrigem Sockel, mit Satteldach, die Giebelwände waren über die Dachfläche hochgezogen. Zur Straßenseite waren 5 Öffnungsachsen, wobei in der Mittelachse die zweiflügelige Haupteingangstür auf Sockelhöhe mit breitem Stufenzugang lag. Die Holzfenster waren sprossenunterteilt und hatten durchbrochene Bogenflächen. Zur Straße hin gab es eine Einfriedung (Staketenzaun).

Die Synagoge wurde bis 1937 als Gotteshaus benutzt, ging dann in den Besitz der Spar- und Darlehenskasse über und diente als Lagerraum.

Die Kultgegenstände der jüdische Gemeinde brachte man nach Kassel, wo sie 1938 vernichtet wurden.

Nach dem Krieg stellte man auf Anordnung der Militärregierung wieder den alten Zustand her. Es wohnten mehrere Flüchtlingsfamilien dort. Die Spar- und Darlehenskasse kaufte das Gebäude ein zweites Mal. In den fünfziger Jahren wurde das Haus rigoros umgebaut. Die Fenster- und Türöffnungen sind stark verändert und das Gebäude um volle 2 Fensterachsen verkürzt worden, damit war die Zufahrt zu den neu errichteten Lagerräumen hinter dem Haus möglich.

Schließlich wurde die Synagoge 1990 ganz abgerissen, und an gleicher Stelle das heutige Gebäude der Raiffeisenbank Freienhagen - Höringhausen (früher Spar- und Darlehenskasse) errichtet. Rechts an der Mauer, zum Haus Dreier hin, befindet sich die anfangs erwähnte Hinweistafel.

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Schule

Von 1869 an gab es in Höringhausen eine jüdische Elementarschule. Sie war zunächst Privatschule und hatte 1871 26 Schüler, 1873 waren es 23 Schüler. Ihr Lehrer hieß Benjamin Jaffa. 1886 wurde der Status, auf Antrag der jüdische Gemeinde, in ein eine „öffentl. israelitische Elementarschule" gewandelt. Daraufhin wurde diese Einrichtung, ebenso wie die christl. Schule, jährlich von der Bezirkskommission aus Vöhl visitiert.

Die Schülerzahlen gingen ständig zurück, und so besuchten bald alle Kinder die Dorfschule. Die jüdischen Kinder gingen nur noch zur religiösen Unterweisung in die Synagoge.Teilweise arbeiteten jüdische Lehrer in der Christl. Schule. In den Jahren 1909 -1912 waren gleich zwei angestellt: Herr Stern und Herr Oppenheimer.

An sich war die Zusammenarbeit im Ort gut zwischen Juden und Christen. Einige Israeliten arbeiteten im Gemeinderat mit. Sie gehörten mit zu den Vereinen und brachten sich auch sonst auf vielfältige Art ein. Natürlich wurde dieses Miteinander in den dreißiger Jahren empfindlich gestört.

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III. Der Friedhof

In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in der Gemarkung Höringhausen ein jüdischer Friedhof angelegt. Wir finden ihn am Komberg, etwa 100 m von der Bahnlinie entfernt. Hinter dem Viadukt geht rechts ein Feldweg ab, und der Friedhof liegt etwas abseits mitten zwischen landwirtschaftlich genutzten Flächen. Er ist zwischenzeitlich eingezäunt. Das Tor ist abgeschlossen.

Die Gemeinde Waldeck hat die Pflege übernommen. Die Kosten werdet erstattet. (Das Geld kommt vom RP, fließt aber wohl aus einem anderen Topf.)

Die Grabsteine stehen nicht mehr an den ursprünglichen Stellen, sie sind umgekippt, einige zerbrochen. Etliche sind in falscher Richtung wieder aufgestellt worden. Die Inschriften sind z. T. sehr stark verwittert.

Die letzte Belegung war 1936. An einem der Grabsteine ist ein Hinweis eingraviert, daß Alfred Rosengarten, geb. am 28.2.1906, im KZ Buchenwald umgekommen ist.

Als Kind war ich oft auf diesem Friedhof, da meine Tante ganz in der Nähe ein kleines Grundstück hatte. Für mich ging immer eine Faszination von diesem Ort aus. Damals standen die Grabsteine, wie schon gesagt, noch etwas anders, und es waren noch mehr Einfassungen zu sehen. Was ich zunächst nicht verstand, waren die Steine, die ab und an auf einem Grabstein zu finden waren. Später begriff ich, daß Angehörige oder Freunde der Verstorbenen damit dokumentierten, ich war da, ich denke noch an dich. - Blumenschmuck ist den Juden eher fremd.

Damals war der Friedhof noch nicht eingefriedet. Es waren noch Reste einer früher vorhandenen Hecke und die Pfosten des Eingangstores zusehen. Das Tor war kaputt.

Im Laufe der Jahre kamen ab und an Angehörige der ehemaligen jüdische Einwohner, und einer war ganz entsetzt, als Schafe an diesem heiligen Ort grasten. Er beschwerte sich, und so wurde der Zaun gebaut.

Ein Grab ist für einen Juden eine heilige Stätte, die für alle Zeiten bestehen bleibt. Er würde auch nie einer Feuerbestattung zustimmen, auch wenn dieses die übliche Praxis in dem entsprechenden Land sein sollte. Hier sind Worte der Bibel „aus Staub bist du geworden und zu Staub sollst du werden" für jeden Juden bindend.

Das Leben der Juden lief in strenger Ordnung ab. Alles war genauestens geordnet und geregelt und wurde schriftlich festgelegt.

So gab es u. a. eine „Mosaisch - religiöse Begräbnisordnung".

Lt. Schreiben vom 26.3.1844 wurde die Einführung einer Begräbnisordnung in allen Israel. Gemeinden der Provinz Oberhessen angestrebt. Jeder Vorstand einer Gemeinde wurde angeschrieben und gebeten, zu dem beiliegenden Entwurf Stellung zu nehmen und sich innerhalb von 14 Tagen zu äußern.

Die Begräbnisordnung umfaßt 30 Artikel und beschreibt genau den Ablauf der Formalitäten. Sie beginnt mit den rituellen Abläufen im Privatbereich jeder Familie, dem Melden des Todesfalles und weißt darauf hin, daß alle „medizinisch - polizeilichen Verordnungen" strikt einzuhalten sind. Auch die Anfertigung eines Sarges und das Ausheben des Grabes sind festgeschrieben. Ist kein Familienangehöriger da, so muß der Vorstand der israelitischen Gemeinde all diese Aufgaben wahr nehmen.

Nach Möglichkeit soll ein Leichenwagen angeschafft werden. Acht Gemeindeglieder sollen mindestens dem Leichenwagen folgen. Muß die Leiche getragen werden, so sind doppelt so viele Menschen erforderlich, da beim Tragen gewechselt werden muß. Alle, die sich dem Leichenzug anschließen wollen, versammeln sich vor dem Haus des Verstorbenen und begleiten die Bahre, bzw. den Wagen bis zum Friedhof und bleiben dort, bis der Leichnam der Erde übergeben ist und die Gebete verrichtet sind. Jeder männliche Jude zwischen dem 15. und 60. Lebensjahr ist verpflichtet, diesen Dienst auszuüben. Sollte er verhindert sein, kann er sich vertreten lassen. Er wird jedoch niemals aus dieser Pflicht entlassen.

Wichtig ist in Artikel 13, daß alle Leichenträger und -begleiter anständig, wenn es geht, in schwarz gekleidet sein sollen und eine Kopfbedeckung, sprich Hut, tragen.

Die Reihenfolge des Leichenzuges (Conductes) ist folgende: 1. Leichenwagen, 2. Rabbiner, Vorsänger oder Lehrer und Gemeindevorsteher, 3. übrige Gemeinde. Menschen die krank sind oder aus Armut keine angemessene Kleidung besitzen sind von diesen Pflichten entbunden.

Es ist vorgesehen, daß mehrere. Gemeinden gemeinschaftlich einen Friedhof betreiben. Auch hierfür sind genaue Regularien vorgesehen.

Das laute Ausrufen von Leichenbegängnissen ist untersagt. Es darf nur von Haus zu Haus eingeladen werden. Die Kollekten sind vor dem Trauerhaus oder auf dem Friedhof einzusammeln, aber nicht während des Zuges.

Der Sohn des Verstorbenen spricht das Kaddisch und die übrigen Gebete der Vorsänger oder Lehrer laut, die anderen Teilnehmer murmeln nur mit. Will jemand eine Grabrede halten, so ist die offizielle Genehmigung des Rabbiners oder des Vorstandes einzuholen.

Abweichungen von dieser Ordnung müssen beschlossen und dem Gr. Rabbiner der Provinz mitgeteilt werden.

Die Gebührensätze werden vor Ort festgelegt und sind ebenfalls genehmigungspflichtig.

Ausdrücklich werden auch Strafen vorgesehen, wenn diese Ordnung nicht eingehalten wird.

Ähnlich wie die eben vorgestellte Verordnung ist die "Anordnung der Wache bei Kranken und Todten in der Gemeinde in Höringhausen" aufgebaut.

Dort wird festgelegt, wer im Krankheitsfalle zu benachrichtigen ist und wer verpflichtet ist, Krankenpflege und -wache zu übernehmen. So ist jeder Mensch zwischen 15 und 60 Jahren heran zu ziehen. Bei Männern halten Männer Wache, bei erkrankten Frauen Frauen. Diese Wache ist rund um die Uhr zu leisten. Im Sommer genügen für die Nachtwache zwei Personen, im Winter sind vier erforderlich. Da wird um Mitternacht gewechselt und es ist ein "Übergabegespräch" angesagt.

Auch hier wird Strafe erhoben, wenn sich jemand diesen Verpflichtungen ohne zwingenden Grund entzieht. Ist jemand verhindert, kann er Vertretung nehmen, diese ist aber von ihm zu bezahlen.

Kosten, die auf Grund von Armut nicht beglichen werden können, gehen zu Lasten der Israel. Gemeinde.

In dieser Verordnung wird noch einmal ausdrücklich auf die zuvor erläuterte Begräbnisordnung verwiesen, die ausdrücklich anerkannt wird.

Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde verpflichten sich durch Unterschrift, diese Verordnung anzunehmen und schicken sie zum Gr. Rabbiner nach Biedenkopf, wo sie genehmigt wird.

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Schlußbemerkung

Es gäbe sicherlich noch sehr vieles zu berichten, besonders über die Sitten, die Bräuche die religiösen Feste, das Miteinander der Menschen im Ort. Aber ich will hier schließen.

Bedanken möchte ich mich bei allen, die mir Material zur Verfügung gestellt haben als da sind: Herr Figge, Herr Mettenheimer (auch Dias), Frau Böhme, Frau Zimmermann (Dias), Herr Olischläger und Herr Albrecht. Das Ortssippenbuch von Herrn Friedrich Sauer hat mit gute Dienste erwiesen.

Die Bücher Juden in Waldeck, Jüdische Gemeinden in Hessen, Synagogen in Hessen und Jüdische Religion zog ich ebenfalls zu Rate.

Ganz wichtig aber waren mir die Gespräche, die ich mit vielen Menschen hier aus dem Ort geführt habe. Sie beantworteten meine Fragen und erinnerten sich an sehr vieles. Auch heute ist es leider noch nicht selbstverständlich, daß man über die Zeit des Nationalsozialismus unbefangen und offen spricht.

Zum Schluß bedanke ich mich bei Ihnen allen, die Sie mir so lange zugehört haben.

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