am 25. Januar 2006 im Abgeordnetenhaus von Berlin

Stichworte für die
Begrüßungsansprache des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin,
Walter Momper,
in der Gedenkstunde anlässlich der Übergabe des "German Jewish History Award"
am Mittwoch, dem 25. Januar 2006, im Plenarsaal
Fortsetzung
(Anrede),
ich begrüße Sie alle sehr herzlich zu unserer festlichen Veranstaltung zur Verleihung des "German Jewish History Award". In diesem Jahr wird diese hohe Auszeichnung zum sechsten Mal vorgenommen und findet zum fünften Mal im Abgeordnetenhaus von Berlin statt.
Zwei Tage vor dem diesjährigen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus werden heute abend sechs Deutsche von der Obermayer Foundation ausgezeichnet, die sich um die Erinnerung an Zeugnisse jüdischen Lebens in Deutschland besondere Verdienste erworben haben.
Diese Preisverleihung verbindet in würdiger Form Vergangenheit und Gegenwart, sie weist aber gleichzeitig auch in unsere gemeinsame Zukunft.
Seit 1996 ist der 27. Januar, der Tag an dem vor nunmehr 61 Jahren Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreiten, Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland. Auschwitz wurde zum Synonym für millionenfachen Mord und Terror, für eine bis ins letzte durchgeplante Vernichtungsmaschinerie, für Unmenschlichkeit schlechthin.
Das Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft heißt für uns, aus der Erinnerung Verantwortung für das heute und das morgen abzuleiten. Gedenktage wie der 27. Januar sagen auch immer etwas darüber aus, was einer Gesellschaft wichtig ist. Sie können nur verankert werden, wenn sie von der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger getragen werden. Sie können nur Bestand haben, wenn die Menschen sich den Inhalt des Gedenkens nicht nur an diesem Tag, sondern vor allem im Alltag zu eigen machen und damit anderen ein Vorbild geben.
Hier setzt der "German Jewish History Award" ein signifikantes Zeichen, weil er diejenigen auszeichnet, die es sich zu einer Herzensangelegenheit gemacht haben, Zeugnisse jüdischen Lebens und jüdischer Kultur zu bewahren. Die heutigen Preisträger haben sich mit ihrem großartigen Engagement, ihrer Begeisterung und - wenn nötig - Beharrlichkeit für ihre Projekte eingesetzt und diese zum Erfolg geführt. Die Bedeutung der Beiträge der Menschen jüdischer Herkunft in der deutschen Geschichte in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur bis 1933, haben Sie mit Ihrer Arbeit - im großen wie im kleinen - verdeutlicht. Hierfür möchte ich Ihnen von Herzen Dank sagen. Was Sie getan haben, haben Sie auch für uns alle getan.
Meine Damen und Herren,
mehr als andere tragen wir Deutschen dafür Verantwortung, dass sich Terror und Massenmord nicht wiederholen. Hierzu gehört, dass wir das Wissen über die Vergangenheit wach halten und die Lehren aus unserer Geschichte an die nächsten Generationen weitergeben. Dazu gehört auch das entschlossene Auftreten gegen alle neuen Formen des Rechtsextremismus, Antisemitismus und rechte Gewalt.
Vor wenigen Tagen hat hier im Abgeordnetenhaus zum vierten Mal das Jugendprojekt "denk!mal" seinen diesjährigen Abschluss gefunden. Über 400 Jugendliche haben mehr als 40 Projekte vorgestellt, in denen sie sich mit der Zeit des Nationalsozialismus und mit aktuellen Erscheinungsformen des Rechtsextremismus und Rassismus auseinandersetzen. In einer nachdenklichen und beindruckenden Veranstaltung in diesem Plenarsaal kam eine eindrucksvolle Vielfalt und Kreativität der Beschäftigung mit der Geschichte und dem Eintreten für Toleranz und Liberalität in der Gegenwart zum Ausdruck.
Die Sensibilität und Nachdenklichkeit der jungen Menschen für ein würdiges Gedenken an die Opfer des Holocaust, aber auch ihre Begeisterungsfähigkeit, sich für Menschenrechte und Toleranz zu engagieren, waren für alle Teilnehmer spürbar. Diese Jugendlichen haben gezeigt, dass die Rechtsextremisten in Deutschland nur eine kleine Minderheit sind. Wir wollen gemeinsam alles dafür tun, dass das auch in Zukunft so bleiben wird.
Meine Damen und Herren,
die heutigen Preisträger des "German Jewish History Award erfüllen uns mit Genugtuung. Ihr Wirken ist vorbildlich und macht uns Mut bei unserer täglichen Arbeit für die Wahrung einer offenen und toleranten Gesellschaft, die sich ihrer Verantwortung vor der Geschichte bewusst ist.
Ich beglückwünsche alle Preisträger - zugleich auch im Namen des Abgeordnetenhauses von Berlin - sehr herzlich.
Mein besonderer Dank gilt Ihnen, sehr geehrter Herr Dr. Obermayer, Ihrer Stiftung, dem Auswahlgremium und allen, die an der Vorbereitung der heutigen Veranstaltung beteiligt waren.
Uns allen wünsche ich für den heutigen Abend eine Stunde der Nachdenklichkeit, des gemeinsamen Erinnerns und der Hoffnung.
Nochmals herzlich willkommen im Abgeordnetenhaus von Berlin.
Edzard Reuter
Ansprache anlässlich der Preisvergabe
der Obermayer German Jewish History Awards
Abgeordnetenhaus von Berlin 25. Januar 2006
Fortsetzung
Herr Präsident des Abgeordnetenhauses,
meine Damen und Herren,
dieses ist ein feierlicher Tag. Sie ehren zum wiederholten Mal Persönlichkeiten, die herausragende Beiträge zur Dokumentation und zum Erhalt der jüdischen Geschichte und Kultur, des jüdischen Erbes und der Überreste jüdischer Gemeinden in Deutschland geleistet haben. Es hat also seinen guten Grund, dass diese Preisverleihung in der Regel am 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz im Jahre 1945, stattfindet. In diesem Jahr steht dem der Shabbat entgegen. Das ändert nichts an dem engen, dem eigentlich untrennbaren Zusammenhang zwischen dem Gedenken an den Holocaust und der bleibenden Herausforderung, uns der Verpflichtung zur mahnenden Erinnerung bewusst zu bleiben.
Andererseits könnte man wohl daran die Vermutung knüpfen, dass zum eigentlichen Anlass dieses nationalen Gedenktages, der Erlösung der durch den deutschen Staat in der dunkelsten Zeit seiner Geschichte errichteten Konzentrations- und Vernichtungslager, schon mehr als einmal alles Notwendige gesagt worden ist. Deswegen werden es womöglich nicht Wenige sein, die es, trotz der förmlichen Proklamation dieses Tages durch den Bundespräsidenten, tief in ihrem Innersten vorziehen würden, die Entscheidung den Bürgerinnen und Bürgern selbst zu überlassen, ob sie jeweils für sich an die Opfer des Genozids und seine Ursachen denken oder sich gar der Meinung hingeben wollen, die Geschichtsschreibung habe längst das Ihre besorgt, ihr sei folglich nichts mehr hinzu zu fügen. Andere mag es geben, denen es angebracht erschiene, wenn das Erinnern nicht im Angesicht der höchsten politischen Vertretungen unserer Nation seinen Ausdruck fände, sondern durch Niederlegung von Kränzen an den bestehenden Denk- und Mahnmalen ersetzt oder sich gar auf besondere Jahreszahlen beschränken würde.
Machen wir uns nichts vor: Dies sind Standpunkte, die keineswegs nur in der Bierlaune des einen oder anderen Stammtisches ihren Platz finden. Nein, auch sich nachdenklich gebende Reden solcher Mitbürger, die aus ihrem Metier als Schriftsteller oder anderer Erzeuger geistiger Güter die Berechtigung ableiten, sich als Mentoren unserer Nation missverstehen zu dürfen, sprechen da zuweilen eine ebenso deutliche wie Besorgnis erregende Sprache. Von noch anderen, ja: widerlichen, Entgleisungen, wie wir sie leider bis hin zu gewählten politischen Repräsentanten immer wieder erleben müssen, soll hier schon gar nicht die Rede sein.
In der Tat wären wir mehr als falsch beraten, solche Ergüsse kurzer Hand als Verirrung einiger Weniger abzutun. Daran darf sich auch nicht das Geringste ändern, sollte sich in dem einen oder anderen Fall heraus stellen, dass sich manche solcher Äußerungen auf einzelne Beobachtungen stützen, die zumindest auf den ersten Blick sogar zutreffen können. Schaut man genauer hin, erweist sich freilich regelmäßig, dass es sich bei derartigen vermeintlichen Wahrheiten allenfalls um einen winzigen Ausschnitt des Ganzen handelt, der wegen seiner Subjektivität eben doch zum Schluss ebenso zwangsläufig wie hoffnungslos in die Irre führen muss.
Nicht minder ruchlos erscheint es mir, wenn manche sich daran machen, das Erinnern zum nützlichen Vehikel eigener Anliegen, seien sie politischer oder gar kommerzieller Natur, zu missbrauchen. Doch dürfen solche Schmutzigkeiten, mögen sie einem noch so sehr gegen den Strich gehen, wirklich Grund genug sein, darauf zu verzichten, dass sich die Bürgerinnen und Bürger unserer Republik regelmäßig jene uns nun einmal in geschichtlich einzigartiger Weise eingeprägte Erkenntnis in ihr Gedächtnis rufen, die Erkenntnis, dass Freiheit und Demokratie ohne Achtung der Menschenwürde niemals und nirgends überleben können und dass deswegen die Wahrung der Menschenrechte eine Mahnung ist, die eben nicht aus besonderen Anlässen, sondern täglich neu auf die Tagesordnung unserer Besinnung gehört?
Für mich zählt übrigens zu solcher Mahnung unverzichtbar auch die strenge, durch nichts aufgeweichte Beachtung der allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts. Davon sind diejenigen Mitglieder der Staatengemeinde, die sich dank ihrer großartigen geschichtlichen Tradition besonders dazu berufen fühlen, selbst außerhalb ihrer eigenen Grenzen die Beachtung der Menschenrechte zu erzwingen, in keiner Weise ausgenommen. Nicht weniger trifft diese Mahnung auch alle diejenigen unter uns, die dazu neigen, den Respekt für Menschen einer anderen kulturellen Herkunft und deren Lebensweisen hintan zu stellen gegenüber ihren eigenen materiellen Interessen oder sie gar dafür zu missbrauchen. In beiden Richtungen lehrt uns nämlich die Geschichte, die Gefahren nicht gering zu schätzen, in die uns der Überschwang eigenen Sendungsbewusstseins oder die einseitige Berücksichtigung des eigenen Vorteils allzu leicht hinein stürzen können.
Hier und heute geht es freilich um mehr, um weit mehr, ja, um etwas ganz Anderes. Denn niemand kann aus unserer Geschichte auslöschen, dass es Deutsche waren, die in vorher nie da gewesener Art und Weise die Achtung der Menschenwürde beiseite gefegt haben. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland": diese schreckliche Feststellung in der „Todesfuge" von Paul Celan verkörpert eine Wahrheit, der sich eben keine Frau und kein Mann in diesem Land entziehen kann. Mit persönlicher Verstrickung, mit individueller Schuld, aber auch mit Vorwerfbarkeit gegenüber der oder dem Einzelnen hat das gewiss nicht das Geringste zu tun.
An diese in den voran gegangenen Disputen längst geklärte Wahrheit dürfen selbstverständlich auch diejenigen ständig neu erinnert werden, die versuchen, aus geschichtlicher Schuld aktuelle politische Ansprüche welcher Art auch immer herzuleiten. Ohne Unterschied schließt das jene noch so auflagenträchtigen Autoren ein, die sich heraus nehmen, die Fähigkeit zu einer geschichtlich einzigartigen Barbarei aus irgend welchen angeblichen nationalen Eigenheiten abzuleiten, ohne auch nur für einen Augenblick zu bedenken, dass sie sich damit das mörderische Klischee von eingebildeten Rassemerkmalen für ihr eigenes Suppentöpfchen zu Eigen machen.
Dennoch: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland". Ob man es will oder nicht, dieser Wahrheit kann niemand entrinnen, es sei denn, man wäre willens, die Augen und Sinne davor zu verschließen, dass es niemals vorher und niemals nachher in der Geschichte des Menschengeschlechts einen vergleichbar furchtbaren Anschlag auf die Würde von Menschen gegeben hat, von Menschen noch dazu, deren Auswahl sich einzig und allein an der Zufälligkeit einer vorgeblichen Rassenzugehörigkeit ausrichtete.
Das sollten auch diejenigen nicht vergessen, die sich neuerdings aus sicherlich gut gemeinten Empfindungen aufmachen wollen, das Erinnern an staatliche Untaten gleichsam von den zu Grunde liegenden Umständen und Zusammenhängen los zu lösen. Ein bewusst und gewollt organisierter Völkermord darf nun einmal auf keinen Fall aufgewogen werden selbst gegen die entsetzlichste Entrechtung und Zerstörung einzelner Menschen durch andere noch so grausame Diktaturen unserer Zeit. Alle solche Versuche müssten nämlich zum Schluss in einer Einebnung von unvergleichbarem Unrecht enden.
Damit hier kein Zweifel aufkommt: Menschliches Opfer, menschliches Leid, durch staatliches Handeln bewusst in Kauf genommen oder gar gewollt verursacht, verdienen ohne jeden Unterschied die gleiche Abscheu, diejenigen, die davon betroffen worden sind, den gleichen Respekt. Vor ihnen sich zu verneigen, bleibt unsere Pflicht, ob es die nationalsozialistische, die sowjet-kommunistische - oder, sicherlich um keinen Deut weniger schrecklich, die maoistische - Barbarei gewesen sind, die Menschen unsägliches Leid aufgezwungen haben. Die gedenkende Mahnung, dass sich so etwas nie wiederholen darf, verlöre dennoch allzu leicht ihren Ernst, würde sie aus dem Auge verlieren, dass es trotz aller verderblichen Ähnlichkeiten zumindest zwischen den beiden europäischen Diktaturen eben doch einen ebenso entscheidenden wie unleugbaren Unterschied gab.
Der nationalsozialistische Rassenwahn zielte zumindest in seinem Endstadium auf die physische Vernichtung einer, ja mehrerer ethnisch definierter Gruppen von Menschen. Das Ergebnis war der staatlich organisierte Massenmord in weiten Teilen Europas. Etwas Vergleichbares findet sich in der Geschichte des kommunistischen SED-Staates nicht. Dabei bin ich mir durchaus im Klaren, dass eine derartig nüchtern formulierte Feststellung in den Ohren der einzelnen Opfer wie Hohn klingen mag. Aus einem Anlass wie dem heutigen muss sie dennoch zulässig sein. Denn an diesem Tag geht es in der Tat darum, uns mahnend daran zu erinnern, dass eine, ich verwende eine Kennzeichnung durch Volkhard Knigge, „volksgemeinschaftlich verfasste, weitgehende Konsensdiktatur von bis dahin nicht vorstellbarer Verbrechensintensität" wie der Nationalsozialismus jedenfalls uns Deutsche, aber vielleicht noch mehr als nur uns, mit einer wahrhaft Grauen erregenden Erkenntnis vertraut gemacht hat: der Erkenntnis, dass wir Menschen im Stande sind, unsere gesamte zivilisatorische Erfahrung zu vergessen, indem wir Unseresgleichen ohne Rücksicht auf individuelle Schuld der Opfer als Masse dahin schlachten.
Niemand kann auch nur entfernt die Literatur übersehen, die inzwischen diesem Phänomen, seinen Ursachen und seinen Erklärungen nachzugehen versucht. Abstrakte Analyse schiene mir aber dem heutigen Anlass ohnehin wenig angemessen. Um so eher sehen Sie es mir hoffentlich nach, wenn ich gerade heute, an dem Tag, an dem sie einzelne Personen ehren, die sich für das unschätzbare Gut der lebendigen Erinnerung eingesetzt haben, meine mehr als subjektiven Empfindungen an die Stelle eines untauglichen Versuchs setze, die Verhaltensweise von Menschen zu verstehen, von denen ich weiß, dass ich unter ihnen als Nachbar neben Nachbarn aufgewachsen wäre, hätte mir das Geschick nicht eine friedliche Jugend inmitten des so gastfreundlichen und dem Fremden aufgeschlossenen Volk der Türken geschenkt.
Solche subjektiven Empfindungen machen sich oft genug an äußerlichen Begebenheiten fest. Für mich zählt dazu ein Besuch im Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin. Wie auch immer die genaue geschichtliche Einordnung jener mörderischen Zusammenkunft aussehen mag: In dieser großbürgerlichen Villa am Wannsee, mit ihrem holzgetäfelten Interieur und ihren gemütlichen, zum Plaudern einladenden Sitzecken hatten sich in jenem Januar des Jahres 1942 fünfzehn führende Vertreter der obersten Reichs- und Parteibehörden des nationalsozialistischen deutschen Staates, zum großen Teil wohl ausgebildete Akademiker in ihren besten Jahren, eingefunden, um, unter der Anleitung eines Mannes, der, wenn auch in seinem Charakter eine vom Ehrgeiz zerfressene Bestie, so doch in seinem äußeren Gehabe ein betont disziplinierter Amtsinhaber war, einen aus ihrer Sicht rein bürokratischen Ablauf zu besprechen und festzulegen.
Denn anders als ursprünglich von manchen Historikern angenommen, ging es ja -Eberhard Jäckel hat das bereits frühzeitig klargestellt - nicht etwa um die grundsätzliche Entscheidung, den ohnehin schon in Gang befindlichen Massenmord an den europäischen Juden nun endgültig in die Tat umzusetzen. Nein, nach Art der Ausarbeitung von Einzelheiten beispielsweise zur Zulassung von Kraftfahrzeugen für den allgemeinen Straßenverkehr, handelte es sich um die penible Festlegung der Einzelheiten von Kriterien, die gelten sollten, um jene Gruppen von Menschen abzugrenzen, die zur Massenvernichtung bestimmt waren oder die verschont bleiben durften. Besonders verwunderlich wäre es da nicht, sollte die erfolgreiche Besprechung mit einem gemütlichen Glas Cognac und einer genussvollen Zigarre abgeschlossen worden sein...
Kaum scheint es mir vorstellbar, wie sich irgend jemand dem Erleben eines solchen Schauplatzes entziehen könnte. Unausweichlich erinnert es uns alle, gerade und besonders auch diejenigen, die als nachfolgende Generationen keinerlei eigene Berührung mit dem damaligen Geschehen mehr haben, an die Aufgabe, die Orte solchen Schreckens für alle Zukunft als ständige Mahnmale zu wahren. Nicht zuletzt trifft eine solche Verpflichtung die gewählten Vertretungen unseres Volkes, die Parlamente und die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder. In diesem Sinne muss aus meiner Sicht der heutige Tag zugleich die Mahnung erneuern, dass leere öffentliche Kassen auf gar keinen Fall zum Vorwand für Nachlässigkeit dienen dürfen.
Trotz seiner besonders schwierigen Haushaltslage ist, wie ich denke, Berlin als Hauptstadt unserer Republik dieser Verantwortung immer wieder in vorbildlicher Weise nachgekommen. Um so weniger zögere ich, ganz bewusst auch hier und heute daran zu erinnern, dass der Entschluss zum Holocaust an den europäischen Juden und nachfolgend auch an den Sinti und Roma zwar den geschichtlich einzigartigen Höhepunkt des nationalsozialistischen Wahns gebildet hat. Dennoch stand er nur am konsequenten Ende eines Weges, der bereits mit der Übernahme der Staatsgewalt durch die Barbaren am 30. Januar 1933 begonnen hatte. Denn vom ersten Tage an wurde es zur selbstverständlichen Übung gemacht, politische Gegner wie rechtlose Wesen zu behandeln und sie mit der Diktion des Unmenschlichen abzuqualifizieren. Ohne Einschränkung gilt: Wer es nur wollte, hätte schon damals den Völkermord vorher sehen können.
Ich meine, dass man das kaum besser auf den Punkt bringen kann, als es Wibke Bruhns mit zwei winzigen Hinweisen in ihrem fabelhaften Erinnerungsbuch gelungen ist. Im Zusammenhang mit der Auswanderung eines jüdischen Arztes nach Palästina im Jahre 1935 zitiert sie aus dem Tagebuch ihrer Mutter, ihren Vater habe das „sehr bewegt", weil „Juden doch auch Menschen wären". Und sie zitiert Goebbels, der schon 1928 offen bekannt hat, man wolle zwar „die Macht legal erobern, aber was wir mit dieser Macht einmal, wenn wir sie besitzen, anfangen werden, das ist unsere Sache". Kann man, darf man dem noch etwas hinzufügen?
Dabei bleibt die Kenntnis der großen geschichtlichen Abläufe und Zusammenhänge selbstverständlich wichtig, ja unverzichtbar. Das gilt auch für die Erinnerung daran, wie sie sich auf die Menschen ihrer Zeit ausgewirkt haben. Trotzdem sind wir offensichtlich als menschliche Einzelwesen so angelegt, dass das individuelle Schicksal, der tägliche Umgang sich in der Regel weit tiefer und bleibender in unser Gedächtnis einprägen als noch so meisterhaft gelungene Geschichtsschreibung. Das mag mit unserem Wissen zusammen hängen, dass unser je eigenes Erdenleben begrenzt ist, und mehr vielleicht noch mit der Ungewissen Ahnung, was diese Unausweichlichkeit bedeutet. Vermutlich aus diesem Grund vermögen wir zumeist eher das Schicksal mitzufühlen, das einzelnen Menschen widerfahren ist, als das, was ganzen Völkergruppen beschieden war.
Mit den Obermayer German Jewish History Awards werden Personen und Institutionen geehrt und ausgezeichnet, die sich genau um diese Art des Erinnerns besonders verdient gemacht haben. Ihr Wirken trägt dazu bei, dass niemand von uns in die Unverbindlichkeit des Allgemeinen entfliehen kann. Denn wir müssen wohl heute alle miteinander aufpassen, dass wir nicht den Blick für das Wesentliche verlieren.
Gewiss hat auch die andere deutsche Diktatur, das kommunistische Regime, unsägliches Leid über unzählige Menschen, nicht zuletzt junge Menschen, gebracht. Ebenso gewiss hat der alliierte Luftkrieg mit seinem unmenschlichen Bombenterror, hat die Vertreibung der deutschen Einwohner aus den Ländern im Osten Europas schreckliche Opfer gekostet. Und doch darf es niemals dazu kommen, dass wir uns auf die Erkenntnis zurück ziehen, der nationalsozialistische Völkermord sei nur ein mehr oder minder beliebiger Teil der unleugbaren Tatsache, wonach - um noch einmal Volkhard Knigge zu zitieren - „in der düsteren ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts Viele viel gelitten haben". Die vor nicht allzu langer Zeit veröffentlichten alliierten Luftaufnahmen über Auschwitz und Birkenau aus dem Jahr 1944 sprechen da eine Sprache, deren Wirkung sich wohl nur diejenigen entziehen können, deren Empfindung für die Abgründe menschlicher Untaten bis in die Tiefe ihres Inneren erloschen ist.
Nur dann, wenn wir uns die Erkenntnis dieser Einzigartigkeit nicht nehmen lassen, werden wir berechtigt sein, ausnahmslos aller Opfer von Qual, Demütigung und Tod gleichermaßen zu gedenken. Nur dann, sage ich, dürfen wir uns mit Fug und Recht vor jedem einzelnen Mensch, dem ein solches Schicksal zugefügt worden ist, in gleicher Ehrfurcht verneigen. Daran zu erinnern, dass diese einzelnen Menschen einst inmitten ihrer Nachbarinnen und Nachbarn, also Tür an Tür mit uns gelebt und gelitten haben - das ist das bleibende Verdienst Ihrer heutigen Preisträgerinnen und Preisträger. Ich gratuliere ihnen allen von ganzem Herzen, denn sie haben wahrhaft die Ehrung verdient, die ihnen zugedacht wurde.
Und ich bin froh, dass die so verdienstvolle Stifterin der Auszeichnungen tatkräftig durch Sie, Herr Präsident, und durch die German Jewish Special Interest Group of Jewish Gen unterstützt wird.