Besuch von Michael Dimor und Familie 2011

Waldeckische Landeszeitung und/oder Frankenberger Zeitung
Mittwoch, 14. September 2011, Seite 15

"Der Ort gehört zu unserer Geschichte"
Michael Dimor und seine große Familie aus Israel erkunden die Spuren ihrer jüdischen Vorfahren in Vöhl

Mehr als 80 Jahre nachdem seine Mutter Vöhl verlassen hat, kehrt Michael Dimor mit seiner großen Familie zurück. Zwei Tage lang suchen sie die Spuren ihrer jüdischen Vorfahren - mit Unterstützung von Zeitzeugen und Geschichtsfreunden.

Von Theresa Demski


Gemeinsam mit seiner Tochter und seinen drei Enkelkindern machte
sich Michael Dimor auf dem jüdischen Friedhof in Vöhl auf Spurensuche
- Unterstützung gab es dabei vom ehemaligen Pfarrer Günter Meier.

Fotos: Theresa Demski

Vöhl. Nachdenklich sitzt Michael Dimor in der ersten Stuhlreihe in der Synagoge. Über ihm spannt sich der blaue Sternenhimmel des jüdischen Gotteshauses, die Sonne wirft einige Strahlen durch den gläsernen Davidstern. Später wird Michael Dimor sagen, er sei kein besonders emotionaler Mensch, er betrachte die Dinge sachlich.

In diesem Moment aber steht er auf, tritt vor seine Frau, seine Tochter und die drei Enkelinnen und betet hebräische Zeilen. Sie erinnern an die Opfer des Holocausts, den die Juden "Schoah" nennen. Als seine Stimme bricht, tritt Ehefrau Dalia neben ihn und liest weiter. Es ist eine aufwühlende Begegnung mit ihrer eigenen Familiengeschichte, der sich die Dimors an diesem Tag stellen. Eine Begegnung mit Großvater Moritz Mildenberg, der in Vöhl zu Hause war, seinen Enkel aber nie kennengelernt hat. "Er soll ein lustiger Mann gewesen sein", hat Vöhls Ortsvorsteher Karl-Heinz Stadtler herausgefunden, "auf Feiern hat er für Unterhaltung gesorgt." 1924 verließ er seine Frau, seine Kinder und Vöhl.


Ein berührender Moment in der Synagoge: Hier
las Michael Dimor ein hebräisches Erinnerungsgebet.

Zeitzeugen erzählen

Seine Spuren verfolgt Michael Dimor gestern nach seinem Besuch in der Vöhler Synagoge und auf dem jüdischen Friedhof weiter nach Sachsenhausen. Zeitzeugen warten hier auf den Besuch aus Tel Aviv und erzählen von einer kleinen Sensation. Während die Nazis 1945 bereits alle Juden, die in Hessen geblieben waren, deportiert hatten, blieb einer zurück: Moritz Mildenberg. "Er lebte bei uns bis 1945", erzählen die Sachsenhäuser, "hier versteckte ihn die Familie Grebe." Berührt staunt Michael Dimor über die Wendung der Geschichte. "Er war doch einer von uns", sagen die Menschen in Sachsenhausen. Sie alle waren damals Kinder, Moritz Mildenberg ein alter Mann. Er habe auf den Feldern gearbeitet, Vieh gehandelt und nie den gelben Davidstern getragen. "Er hatte immer einen Strohhalm im Mundwinkel", sagt einer schmunzelnd.

Im kalten Winter 1945 starb der letzte Jude im Ort an einem Herzinfarkt. "Mein Vater hat ihn mit seinem Wagen zur Beerdigung gefahren", sagt einer der Zeitzeugen. Nur einer sei damals mit schwarzem Zylinder und im Frack dem Trauerzug gefolgt: Greben Heinrich, der seinen ehemaligen Nachbarn in seinem Haus versteckt gehalten hatte. "Wir anderen lagen in den Büschen und schauten zu", erzählt ein anderer. "Hatten wir Angst und trauten uns nicht?", fragt er in die Runde. Eine Stunde später steht Michael Dimor zum ersten Mal am Grab seines Großvaters in Sachsenhausen. Seine Spurensuche endet hier nicht. "Ich weiß so wenig über die Lebensgeschichte meiner Mutter", sagt er, "sie hat nie von ihren Jahren in Deutschland erzählt."

Und das reichte am Ende vor allem Tochter Noga nicht mehr. "Ich hatte eine besonders enge Bindung zu meiner Großmutter", sagt sie, "und ich musste einfach diesen Ort sehen, denn er gehört zu unserer Geschichte." Und so haben Michael Dimor und seine Frau Dalia ihrer Tochter zum 50. Geburtstag diese "Reise zu den Wurzeln" geschenkt, wie sie ihren einwöchigen Urlaub in Deutschland nennen. Im Vorhinein haben sie geforscht, das Stadtarchiv in Korbach ebenso angeschrieben wie den Förderkreis der Vöhler Synagoge und Geschichtsforscher Lothar Albrecht in Sachsenhausen.

"Es ist schön, hier zu sein", sagt Noga Friedlender, als sie gestern Abend zurück nach Vöhl kommt. Immer sei da dieses schwarze Loch in ihrer Familiengeschichte gewesen. "Jetzt endlich fällt es sich mit Leben", sagt sie, "das ist sehr aufwühlend."

Bereits 1933 war ihre Großmutter mit ihrem Mann nach Israel geflohen. Vier Jahre später wurde dort Michael Dimor geboren. "Meine Mutter sprach kein Hebräisch, also sprach ich die ersten vier Jahre nur Deutsch, bis ich selbst entscheiden durfte", sagt er beinahe akzentfrei. Inzwischen lebt er in Tel Aviv, spricht Hebräisch besser als Deutsch und ist dort zu Hause. "Aber die Geschichte ist stark in uns", sagt seine Tochter, "und deswegen mussten wir die Lücken füllen. Ohne Wut oder Hass, sondern mit dem Wunsch, die Zukunft im Frieden zu gestalten."

Aktuell sind 72 Gäste und keine Mitglieder online

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.