- Presse 2023, Beitragsliste
- 11.11.2023, Propst Mantey: Hoffnung in junge Generation
- 11.11.2023, Christen an der Seite Israels
- 9.11.2023, Die „Scheinehe“ der Rothschilds hielt lebenslang
- 9.11.2023, Ihr ersehnter Zufluchtsort hieß Palästina
- 23.10.2023, Beitrag zur Erinnerungskultur
- 29.9.2023, Erinnern an bestattete Juden
- 29.9.2023, Ein Ferienjob mit Verantwortung
- 15.9.2023, Nuancierter Gesang begeistert
- 29.8.2023, Kirchen und Synagoge öffnen Türen
- 29.8.2023, Musikalische „Scheinwerfer“
- 1.8.2023, Kongeniales Zusammenspiel
- 19.7.2023, Neue Landkulturboten vorgestellt
- 3.7.2023, Gestapo hörte Predigten mit
- 20.6.2023, Auf den Spuren seiner Vorfahren
- 20.6.2023, Sich nicht vor anderen verschließen
- 13.6.2023, Schöne Isabella und ein guter Freund
- 19.5.2023, Musik verbindet drei Kontinente
- 5.5.2023 „Sie haben sich der Unmenschlichkeit angepasst“
- 27.4.2023, Gedenkstätten erinnern an Gräuel
- 25.4.2023, So viel wie möglich erfahren
- 22.4.2023, Holocaust-Zeitzeuge Weintraub berichtet
- 19.4.2023, Freiwillig für andere eingesetzt
- 28.3.2023, Gedenken am Schabbat-Abend
- 11.3.2023, Flamenco passt perfekt zu Finnland
- 28.3.2023, Vielfältige Klezmer-Musik begeistert
- 4.3.2023, Verdienstkreuz für Karl-Heinz Stadtler
- 3.3.2023, Einsatz für gemeinsames Gedächtnis
- 14.2.2023, Konzerte, die Kulturen verbinden
- 30.1.2023, Schüler erinnern an Opfer
- 27.1.2023, Holocaust-Gedenktag
- 13.1.2023, Sensationsfund bei Bauarbeiten
Samstag, 11. November 2023, Waldeckische Landeszeitung / Landkreis
Propst Mantey: Hoffnung in junge Generation
Zu einem eindringlichen Appell gegen Antisemitismus und einen leichtfertigen Verzicht auf demokratische Werte wurde auch die Rede, die Propst Dr. Volker Mantey, Propst des evangelischen Sprengels Marburg, in der Synagoge hielt. Er sprach in Vertretung von Bischöfin Dr. Beate Hoffmann, die ursprünglich teilnehmen wollte, und lobte die wertvolle Erinnerungsarbeit für die Opfer des NS-Unrechtsregimes, die in der Vöhler Synagoge seit Jahrzehnten, auch mit wenigen, noch überlebenden Zeitzeugen, geleistet werde.
„Die Kriege in der Welt und die terroristischen Angriffe zeigen uns leider nur allzu gut, dass das nichts ist, was es nur in der Vergangenheit gegeben hat. Das ist leider alles sehr aktuell“, so Dr. Volker Mantey. An Orten wie der Synagoge Vöhl lasse sich spüren, dass der „Terror des NS-Regimes keine ferne Geißel der Menschheit war, sondern dass ganz konkret Menschen hier vor Ort in Vöhl andere Menschen, Nachbarn und Arbeitskollegen dieser Ideologie ausgeliefert haben.“
Bezogen auf die Gegenwart: Im Gedenken an die Judenverfolgung werde erfahrbar, dass „wir Menschen nicht in der Lage sind, den Kipppunkt zu erkennen, ab wann hasserfüllte Ideologie unumkehrbar, für andere Menschen lebensbedrohlich wird“, sagte Dr. Mantey. Wer sage: „Ich wähle jetzt mal eine antidemokratische Partei“, könne diesen Punkt nicht mehr bestimmen.
Die MEMO-Jugendstudie 2023 zur Erinnerungskultur zeige ermutigend, dass sich immer mehr Jugendliche für Geschichte, insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus interessierten, berichtete der Theologe und mahnte: „Es liegt nicht am Desinteresse junger Menschen für die Zeit des Dritten Reichs, sondern es liegt an uns, die Älteren, welche Gelegenheiten wir ihnen schaffen, wie wir ihnen plausibel erklären, wie der Nationalsozialismus und der Terror der damaligen Zeit funktionierten.“ zve
Samstag, 11. November 2023, Waldeckische Landeszeitung / Landkreis
Christen an der Seite Israels
Mit Friedensgebet und Gedenkfeier wird in Vöhl jüdischer Opfer gedacht
VON KARL-HERMANN VÖLKER
Vöhl – Der grausame Angriff der Hamas auf Israel, die verschleppten jüdischen Geiseln und der daraus entstandene Krieg gegen Hamas mit vielen zivilen Opfern auf palästinensischer Seite überschattete in dieser Woche auch in Waldeck-Frankenberg das Gedenken an die Reichspogromnacht der Nationalsozialisten vor 85 Jahren. In Vöhl, wo an 72 verschleppte und ermordete Mitbewohner erinnert wurde, griff bei einem Friedensgottesdienst in der Martinskirche in seiner Predigt Pfarrer Jan Friedrich Eisenberg diese „humanitäre Katastrophe“ auf, ging auf die historischen Ursachen seit 1948 für den Israel-Palästina-Konflikt ein und betonte die Verpflichtung von Christen, an der Seite von Israel zu stehen, um eine Wiederholung der Nazi-Barbarei zu verhindern.
Das bedeute auch, dass man Israel kritisieren dürfe für seine harsche und expansive Siedlungspolitik. „Aber wir müssen einen scharfen Trennstrich ziehen zwischen berechtigter Kritik an der israelischen Besatzungspolitik im Westjordanland einerseits und andererseits einem Antizionismus, der Israel das Existenzrecht abspricht,“ forderte Eisenberg. „Dazu gehört auch, dass wir heute denjenigen Menschen entgegentreten, die meinen, Israel dürfe sich nicht gegen seine Todfeinde wehren.“
Christen hätten die Pflicht, jeder Art von Antisemitismus entgegenzuwirken, „egal ob von links oder rechts, weil es sowohl unsren weltlichen moralischen Überzeugungen entspricht als auch unserer biblisch-christlichen Glaubensgrundlage“, sagte der Theologe. In sein anschließendes Friedensgebet schloss Vikar Jan Homann alle Opfer von Kriegen, Terror und Gewalt, damals wie heute, ein.
Niedergelegte Steine, „nach jüdischem Ritus Zeichen der Ehrerbietung auf den Gräbern der Toten und Kerzen als Zeichen der Hoffnung“, so leitete Pfarrer i. R. Günter Maier (Marienhagen) das anschließende Opfergedenken ein. Während die Namen von 72 Vöhler in der Nazi-Zeit ermordeten Frauen, Männern und Kindern verlesen wurden, zündeten Jugendliche für jeden von ihnen eine Kerze an.
Beispielhaft schilderte Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises Synagoge Vöhl, das Schicksal von Helene Kugelmann, die 1938 bereits in das rettende Palästina emigriert war. Weil sie noch einmal ihre Tochter Ruth mit Enkelkind in Amsterdam sehen wollte, wurde sie dort inhaftiert und nach Auschwitz verschleppt.
Ausdrucksstarke Musik mit israelischen Wurzeln, getragen von dem Flötentrio Sahra Küpfer, Evelyn Friesen und Josina Schütz sowie den Volkmarser „Harmonist:innen“ mit Yvonne Schmidt-Volkwein, Anne Petrossow und Renate Walprecht, begleitete die Gedenkstunde. Sie schloss mit dem jüdischen Lobpreisgebet „Kaddisch“, vorgetragen von Pfarrer Maier und auf Aramäisch gesungen von Sahra Küpfer.
Donnerstag, 09. November 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Die „Scheinehe“ der Rothschilds hielt lebenslang
Die im Kibbuz Grüsen wohnenden Praktikanten wurden bis 1938 von der Geheimen Staatspolizei lückenlos überwacht. Weil sie aus Sicht des NS-Rassenprogramms auswanderungsbereit waren, überlebten viele von ihnen den millionenfachen Massenmord an der verbliebenen jüdischen Bevölkerung.
Es gab immer wieder Rückmeldungen und Begegnungen mit Grüsener Überlebenden, so etwa mit Richard Rothschild, 1905 in Vöhl geboren. Er arbeitete 1934 als Praktikant in der Hachschara und lernte dort Gerda Westfeld aus Köln kennen. Ihre als Scheinehe gedachte Verbindung, von Lehrer Goldwein aus Korbach vollzogen, hielt lebenslang.
Richard und Gerda Rothschild nahmen 2000 beim Wiedersehenstreffen ehemaliger Vöhler Juden teil. In der ehemaligen Synagoge trafen sie auch mit Ruth Zur (1922-2009) aus Gemünden zusammen, deren Großvater Israel Andorn in Grüsen zu den jüdischen Ausbildern gehörte, die die jungen Zionisten in die Landwirtschaft einarbeiteten. Ruth Zur, die ihr Leben lang ihrem Heimatort trotz aller früheren NS-Demütigungen die Treue hielt, berichtete damals von ihrem eignen Rettungsweg nach Palästina über eine Hachschara in Hamburg: „Auch junge Mädchen mussten dort im Lager hart sein. Weinen war verboten.“
Als Richard Rothschild 2005 in Asseret seinen 100. Geburtstag feierte, besuchten ihn Mitglieder des Förderkreises Synagoge Vöhl in Israel, bevor er wenige Monate später nach seiner Ehefrau starb.
Ernst Laske Überlebender in Tel Aviv
Einer der Grüsener Kibbuz-Leiter war Ernst Laske (1915-2004). Bei dem Pogromüberfall am 10. November 1938 wurde er von den Nazis so schwer zusammengeschlagen, dass er auf einem Auge fast erblindete. Er konnte sich nach Freilassung aus dem KZ Buchenwald über Dänemark und Schweden nach Palästina retten, wo er später in Tel Aviv das berühmte Antiquariat „Landsberger“ führte, darunter auch die wenigen geretteten Bücher-Schätze seines Vaters. zve
Donnerstag, 09. November 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Ihr ersehnter Zufluchtsort hieß Palästina
Nach der Pogromnacht vor 85 Jahren endete das jüdische Kibbuz-Lager in Grüsen
VON KARL-HERMANN VÖLKER
Grüsen – Einen Tag, nachdem heute vor 85 Jahren in der Pogromnacht auch im Waldecker und Frankenberger Land Synagogen verwüstet, Türen eingetreten, jüdische Bürger aus ihren Häusern gezerrt und zur Deportation in das KZ Buchenwald verschleppt wurden, war in Grüsen am Abend des 10. November 1933 auch das Gasthaus von Jacob Marx Ziel von NS-Rassenhass und Gewalt. SA- und SS-Angehörige aus Haina und Gemünden stürmten das Anwesen, und obwohl die dort lebenden jüdischen Praktikanten im Schutz der Dunkelheit zunächst ins Feld fliehen konnten, wurden auch sie am nächsten Tag gefasst und ins Lager deportiert.
Sie lernten Landwirtschaft: Die jungen Praktikanten nutzten dazu Land, Ställe, Wohnraum und Geräte der jüdischen Landwirte in Grüsen.
Der Saalbau des Gasthauses in Grüsen hat in Zeiten von zunehmendem Terror im NS-Regime ab 1934 einem Überlebensprojekt gedient. Hier wohnten und arbeiteten in einer „Hachschara“ in verschiedenen landwirtschaftlichen Lehrgängen aus dem gesamten Deutschen Reich etwa 140 jüdische junge Leute zusammen, die sich auf eine Auswanderung vorbereiteten und deren Ausbildungszeugnis als Einreisezertifikat diente.
Ihr ersehnter Rettungsort hieß Palästina. Ein ähnliches Lager bestand, schon eher von ständigen SS-Übergriffen aus Arolsen bedroht, bis 1936 auch in Volkmarsen-Külte.
Palästina war unter britischem Mandat schon lange Zufluchtsort für verfolgte Juden, 1945 bereits mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 30 Prozent. 1947 teilten die Vereinten Nationen das Land auf. 1,2 Millionen Palästinenser erhielten rund 43 Prozent, 600 000 Juden 56 Prozent. Damit war der Urkonflikt als Auslöser für Kriege, Krisen, Vertreibungen und versuchte Friedensprozesse zwischen dem 1948 gegründeten Staat Israel und Palästina bis zur aktuellen Katastrophe gelegt.
In Grüsen mit etwa 300 Einwohnern lebten in den 1930er-Jahren sechs jüdische Familien. Gastwirt Jacob Marx (1869-1940) und einige von ihnen verpachteten der Reichsvertretung der Juden in Deutschland für die „Kibbuz Hag Shamash“ genannte Ausbildungsstätte Land, Wohnräume und Viehställe, die von den Praktikanten genutzt wurden. Zeitzeugen berichteten später, dass sie ein gutes Verhältnis zur Grüsener Bevölkerung hatten und bei Dreschmaschine, Landarbeit oder Holzschlagen im Winter mithalfen.
Heinz Brandt (1912-1996), früherer Vorsitzender des Frankenberger Geschichtsvereins, forschte zur Hachschara Grüsen, sprach mit Überlebenden und fand im Standesamt Haina heraus, dass es während der Kibbuzzeit elf Eheschließungen gab, Scheinehen oder auch lebenslang geschlossene, weil zwei verheiratete Personen mit einem gemeinsamen Zertifikat in Palästina einwandern durften. Brandt erhielt von ihnen auch eine ganze Reihe von Fotos aus dem Grüsener Kibbuz-Milieu.
Gastwirtschaft Marx in Grüsen: Im Saalbau auf den Säulen mit Nebenräumen kamen die Kibbuzbewohner zwischen 1934 und 1938 unter.
Mit dem Pogrom im November 1938 und dem Vandalismus der braunen Horden aus der Bunstruth endete auch das Rettungsprojekt Hachschara Grüsen. Gendarm Haan meldete dem Landrat, dass „im Zionistenlager etwa 20-25 Zentner Alteisen angefallen“ seien – die zerschlagenen Maschinen und Ackergeräte. Die verschleppten Kibbuz-Praktikanten kehrten relativ schnell aus dem KZ Buchenwald zurück. Bei Schreinermeister Parthesius zimmerten sie die Transportkisten für ihre wenigen Habseligkeiten.
Info: In Waldeck-Frankenberg wird heute an mehreren Orten mit Gedenkfeiern an die Pogromnacht und die Opfer des Holocaust erinnert. In Vöhl findet nach dem Friedensgebet ab 19.30 Uhr in der Kirche eine Gedenkfeier ab 20 Uhr in der ehemaligen Synagoge statt, bei der Propst Dr. Volker Manthey sprechen wird.
Montag, 23. Oktober 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Beitrag zur Erinnerungskultur
Gedenkskulptur auf jüdischem Friedhof in Vöhl eingeweiht
VON HANS PETER OSTERHOLD
Vöhl – Eine denkwürdige Einweihung einer Gedenkskulptur mit bewegenden und mutigen Reden hat am Donnerstag auf dem jüdischen Friedhof in Vöhl stattgefunden: unter Polizeischutz und in einer gerade für viele Juden herausfordernden Zeit.
Erbauer der Skulptur ist Christian Schnatz aus Dorfitter. Er hat die Silhouetten jüdischer Grabsteine aus Stahl herausgeschnitten und drei Stahlplatten miteinander verbunden. Umlaufend wurden die Namen ehemaliger jüdischer Bewohnerinnen und Bewohner in Beton gegossen. Nachdem der Förderverein ihm die Idee unterbreitet habe, habe er sich den Ort angesehen, und sofort sei dann die Form des Werks vor seinem inneren Auge aufgetaucht, so Schnatz.
Er selbst habe manche Techniken zum ersten Mal angewendet, erklärte der Handwerker und Künstler. Alles sei sehr stabil im Boden verankert und habe Luft in den Öffnungen für Pflanzendurchwuchs. Er habe lange an dem Projekt gearbeitet und eine innere Reise gemacht, die er nicht mehr vergessen werde.
Nach einer Planungsphase und dem Gang durch komplexe Behördenwege sei das Projekt schließlich mit Unterstützung des Landkreises und der Gemeinde realisiert worden, berichtete Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises „Synagoge in Vöhl“. Finanzielle Leistungen kamen vom Förderkreis, privaten Spendern und durch Leader-Gelder. Der Vöhler Bürgermeister Karsten Kalhöfer wies auf die 160 Namen auf den Tafeln hin, alle ehemalige jüdische Bürgerinnen und Bürger aus Vöhler Gemeinden. Die Tafel erinnere auch an die Verbrechen des NS-Staates, den Wunsch nach „Nie wieder“ und das Gebot, nicht zu schweigen, wenn Unrecht geschehe.
Alle Redebeiträge der Feierstunde machten den Anschlag der Hamas und das Erstarken rechter Bewegungen in Deutschland zum Thema. Stadtler begrüßte die Gäste aus Politik und Bevölkerung sowie eine Abordnung der Bundeswehr „in einer schlimmen Zeit“. Schon einmal habe man die Juden auslöschen wollen, das wiederhole sich aktuell. Der Förderkreis stehe eindeutig und einstimmig zum Existenzrecht Israels.
Landrat Jürgen van der Horst dankte dem Förderkreis für die Errichtung des Denkmals und warnte eindringlich vor aktuellen antisemitischen Bestrebungen, die sich nicht wiederholen dürften. Bad Wildungens Bürgermeister Ralf Gutheil sprach als Vorsitzender des Naturparks Kellerwald-Edersee und drückte die Verbundenheit mit dem Förderkreis der Alten Synagoge aus, die sich bereits in vielen Projekten und auch in der Unterstützung des aktuellen zeige.
Philipp Wecker vom Förderkreis informierte abschließend noch einmal über die Situation der Juden in Vöhl während und vor der NS-Zeit. Die aktuellen Ergebnisse der Landtagswahlen erfüllten ihn mit Sorge und belegten das schwache Geschichtsbewusstsein rechter Randgruppen. Hier gelte es Position für die Demokratie zu beziehen, was letztlich auch in dieser Feierstunde deutlich werde, die eine Gedenktafel einweihe und damit auch zur Erinnerungskultur beitrage.
Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung von Ingo Stotz und Sarah Küpfer mit Musikstücken, Liedern und Gebeten in hebräischer und aramäischer Sprache.
Freiag, 29. September 2023, Waldeckische Landeszeitung / Guten Morgen, Waldeck!
Erinnern an bestattete Juden
Gedenktafel auf jüdischem Friedhof in Vöhl geplant
VON STEFANIE RÖSNER
Vöhl – Auf dem jüdischen Friedhof in Vöhl soll eine Gedenktafel aufgestellt werden. Die Tafel wird die Namen von 160 Vöhler Jüdinnen und Juden zeigen, die dort einst begraben wurden. Am 19. Oktober wird dies mit einem öffentlichen Festakt gefeiert.
Die Idee dazu hatte Karl-Heinz Stadtler, der bei einer Studienreise nach Polen einen jüdischen Friedhof besuchte, der im Jahr 1940 von den Nationalsozialisten komplett eingeebnet worden war. Als Erinnerung an die dort begrabenen Menschen ist dort eine Gedenktafel mit Namen errichtet worden. Für Vöhl mit seiner früheren jüdischen Gemeinde sei dies ebenso sinnvoll, dachte Stadtler, der Vorsitzender des Förderkreises der ehemaligen Synagoge ist.
Der jüdische Friedhof wurde 1831 offiziell ausgewiesen. Ein erstes Mal wurde der jüdische Friedhof 1935 oder 1936 geschändet, indem Grabsteine umgeworfen wurden. Von wem, ist heute unklar. Im Jahr 1940 gab es dort die letzte Bestattung. Alle Grabsteine wurden laut den Recherchen des Förderkreises der ehemaligen Synagoge während der Zeit des Zweiten Weltkriegs entfernt. Der damalige Regierungspräsident hatte veranlasst, dass die jüdischen Friedhöfe eingeebnet werden sollten.
Die entfernten Grabsteine lagerte man am Ortsausgang Richtung Basdorf, wo jeder sich für private Bauzwecke bedienen konnte, berichtet Karl-Heinz Stadtler, der sich intensiv mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde befasst. Damals sei es üblich gewesen, dass alte Grabsteine vor allem für Fundamente verwendet wurden.
Die meisten der Grabsteine sind seitdem verschwunden. Nach dem Kriegsende, in der Zeit der Besatzung durch die Amerikaner, wurden die 46 übrig gebliebenen zurückgebracht und wieder aufgestellt. Somit sind auf dem jüdischen Friedhof 46 Grabsteine erhalten.
Der Landesverband der jüdischen Gemeinden befürwortet, dass eine Gedenktafel aufgestellt wird. So stellte der Verein einen Antrag auf Fördergeld, denn die Kosten für das Projekt belaufen sich auf rund 12 000 Euro. Der Kellerwaldverein gab seine Zustimmung, und der Landkreis genehmigte dies. Somit wird die Gedenktafel zur Hälfte vom Leader-Programm bezuschusst.
Mit 1500 Euro fördert zudem die Denkmalbehörde das Projekt. Bei dem Friedhof handelt es sich um ein Kulturdenkmal, sagte Antje Paul von der Denkmalpflege bei der Vorstellung des Projektes. Zwei Vereinsmitglieder haben zudem größere Geldbeträge gespendet, berichtete Stadtler.
„Dieses kulturell wichtige Projekt muss gefördert werden“, sagte Jürgen Römer, Fachdienst Dorf- und Regionalentwicklung beim Landkreis. „Dies ist ein Teil unserer Geschichte. Dem müssen wir uns stellen.“ Er lobte die ehrenamtliche Arbeit des Förderkreises der Synagoge sowie des Kellerwaldvereins.
Der Künstler Christian Schnatz hat die Gedenktafel entworfen. Sie ist in ihrer Form vier typischen jüdischen Grabsteinen nachempfunden. So ist eine Tafel aus Beton mit Schriftrelief entstanden, wo die Namen der Beigesetzten hintereinander eingraviert sind. „Man muss sich der Schrift nähern und wirklich nachlesen“, erläuterte Schnatz den Gedanken dahinter.
Die Gedenktafel trägt dazu bei, die Geschichte sichtbar zu machen. „Dies kann eine Anregung sein für andere, etwas ähnliches zu realisieren“, sagte Karl-Heinz Stadtler.
Die Feier zur Errichtung der Gedenktafel findet statt am Donnerstag, 19. Oktober, um 17 Uhr auf dem jüdischen Friedhof, Herzingsgrube in Vöhl. Wegen wenig Parkmöglichkeiten wird ein Shuttle-Service von der Henkelhalle aus angeboten. Männliche Besucher sind eingeladen, einen Hut oder eine andere Kopfbedeckung zu tragen.
Dienstag, 26. September 2023, Waldeckische Landeszeitung / Landkreis
Ein Ferienjob mit Verantwortung
Sechs Landkulturboten der Synagoge mit Dank für Engagement verabschiedet
VON BARBARA LIESE
Vöhl – Mit beeindruckenden Projektpräsentationen überzeugten die Landkulturboten zum Ende ihres Ferienjobs: Während der Sommerferien hatten die sechs Schüler nach einer ausführlichen Einweisung in Eigenverantwortung Besucher durch die Synagoge geführt, die Digitalisierung des Archivs unterstützt, die Social-Media-Seiten betreut und schließlich nach einer eigenen Idee ein individuelles Projekt entwickelt.
„Ich bin immer wieder begeistert, wie die Jugendlichen sich engagieren“, freut sich Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises Synagoge Vöhl. „In den vergangenen sechs Jahren haben schon 36 Schüler an unserem Projekt teilgenommen und ihre Abschlussarbeiten vorgestellt. Und doch gelingt es ihnen, in jedem Jahr immer wieder neue Themen zu finden. Ohne finanzielle Unterstützung des hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, der Nationalpark-Gemeinde Vöhl, des Landkreises und des Netzwerks für Toleranz wären diese so wertvollen Ferienjobs aber nicht möglich.“
Praktische Unterstützung der Arbeit des Fördervereins als Landkulturbote leistete unter anderem Noah Sach, Schüler der Ederseeschule. In den neuen Vitrinen im Obergeschoss waren die ausgestellten Judaica, also für das Judentum repräsentative Texte und Gegenstände nicht beschriftet – er machte sich daran, diese Arbeit zu erledigen.
Handwerklich begabt, nahm er sich schließlich noch den alten Ortsplan mit Häusern jüdischer Familien vor. Er übertrug ihn vom inzwischen vergilbten Papier auf Holz und mit einem Brandkolben markierte er die betreffenden Häuser, sodass sie auf den ersten Blick zu erkennen sind.
Diese Häuser gehörten auch zum Projekt von Anton Wensel, ebenfalls Schüler der Ederseeschule. Zur Vorbereitung auf das Jubiläum zum 25-jährigen Bestehen des Förderkreises im kommenden Jahr sollen sie mit einer kurzen Zusammenfassung die Geschichte der ehemaligen jüdischen Bewohner erzählen. Drei Häuser haben jetzt ihr Schild. Bis zum Jubiläum im kommenden Jahr, wenn noch lebende Bewohner von damals ihre Heimat besuchen, sollen alle fertig sein.
Eine praktische Idee, vor allem für jugendliche Besucher und Kinder, hatte auch Lea-Sophie Eisenberg von der Alten Landesschule in Korbach. Sie entwickelte einen QR-Code, der mit einer Audioführung wie bei einer Schnitzeljagd von Station zu Station zu wichtigen Gegenständen und Elementen führt. Wer dieser folgt, sammelt unterwegs Buchstaben für ein Lösungswort und kann sich am Ende eine Belohnung aus einem Körbchen mitnehmen.
Das Leben von Adolf Eichmann war das Thema des Vortrags von Piet Hartmann, Schüler der Alten Landesschule. Er verbindet das Porträt mit der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus und fügt dabei auch die Biografie von Hermann Krumey ein, dem Waldecker Kreistagsabgeordneten, der neben Eichmann als Manager der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie in die Geschichte einging.
Die aufwendige Präsentation von Enrico di Stefano von der Schule an der Warte in Sachsenhausen zeigte am Beispiel des italienischen Spielfilms „Das Leben ist schön“ und der deutschen Buchverfilmung „Nackt unter Wölfen“, wie unterschiedlich die filmische Aufarbeitung des Holocausts nach den Kriegsjahren war. Roberto Benigni, der italienische Regisseur, schrieb nach den Erzählungen seines Vaters eine ernste Komödie. Die Verfilmung des Romans von Bruno Apitz dagegen ist geprägt von seinen persönlichen Erlebnissen im KZ.
Finja Gräbe, Schülerin der Alten Landesschule, erinnerte schließlich an Breitenau, das ehemalige KZ, das schon 1933 eingerichtet wurde, vier Monate nach der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“. Sie zeichnete den langen Weg bis in die 1980er Jahre zur heutigen Gedenkstätte.
Musikalisch begleitet wurde die feierliche Verabschiedung am Klavier von Josel Strauch. Großen Applaus erntete der junge Pianist, der mit Stücken von Chopin, Tschaikowsky und Isaac Albeniz nicht nur Musikkenner im Publikum begeisterte. Der 19-Jährige war Sieger im Landeswettbewerb von „Jugend musiziert“ und schreibt jetzt an einem Orchesterarrangement für ein Solokonzert. In der Synagoge spielte er zum zweiten Mal und freut sich schon darauf, bald wieder zukommen.
Freitag, 15. September 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Nuancierter Gesang begeistert
Maria Thomaschke brilliert bei Chanson-Abend in der Vöhler Synagoge
Vöhl – Die ersten Klaviertöne, die ersten Worte des Chansons von Hildegard Knef „Zirkus“ erklangen: „Treten sie ein, meine Damen und Herren, treten sie ein und zögern sie nicht...“ - und sofort war das Publikum mittendrin im Geschehen.
Einen mitreißenden Chanson-Abend erlebten die BesucherInnen der Synagoge in Vöhl mit Maria Thomaschke, die scheinbar mühelos in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfte und mit jedem Chanson eine neue Facette ihrer Gesangs- und Schauspielkunst entfaltete. Am Klavier wurde sie virtuos und vor allem einfühlsam begleitet von Nikolai Orloff.
Die Bandbreite der Chansons, die sie interpretierten, war weit gefasst. Der Klassiker von Georg Kreisler wie „Zwei alte Tanten“ führte ein in die Thematik des Programms „Wenn ich nachts nicht schlafen kann, schau ich gern beim Fenster raus. Und ich sehe mir die Straße an oder vis-à-vis das Haus“. So wurden die Zuhörer entführt nach Berlin, ins Vorderhaus, wo ein Pärchen frisch zusammengezogen ist und Streit hat („Wo ist das Problem!“ Frank Ramond), zum neuen Nachbarn, der reden kann, ohne Atem zu holen („Das Ding, das die Treppe runtergehen kann“, Sebastian Krämer), und ins Hinterhaus („Da war ein Mann, der wollt so gerne nicht mehr leben“, Hermann van Veen).
Aber nicht nur Problematisches wurde besungen, mit „Ich bin ja heut so glücklich“ (Paul Abraham) und „Gastgeber“ (Pigor und Eichhorn) wurden die Lachmuskeln der Zuhörerinnen und Zuhörer aktiviert. Neue und alte Chansons, 98 Prozent aller Chansons handeln von der Liebe, stellte Thomaschke im Laufe des Abends fest, enttäuschte Liebe („Ich hab dich immer geliebt“, Georg Kreisler), erwiderte Liebe, vergangene Liebe („Wie sich Mühlen dreh’n im Wind“, Michel Legrand), gekaufte Liebe.
In der individuellen Gestaltung erklangen sie fein nuanciert, ausdifferenziert bis ins Kleinste und immer sehr persönlich. Das letzte Lied des Programms widmete Thomaschke ihrem Begleiter Nikolai Orloff, ohne den der Abend gar nicht vorstellbar sei, mit „Ich bin verrückt nach jedem Pianisten“ (Rainer Bielfeldt). Das Publikum verabschiedete die Künstler mit minutenlangem begeisterten Applaus. Als Zugabe gab es ein Lied „das in kein Programm passt“, umso glücklicher war Maria Thomaschke, es wieder singen zu können: „Ein Denkmal denkt“ von Bodo Wartke - passend zum Tag des Denkmals, anlässlich dessen das Konzert mit der Unterstützung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen stattgefunden hat. red
Dienstag, 29. August 2023, Waldeckische Landeszeitung / Guten Morgen, Waldeck!
Kirchen und Synagoge öffnen Türen
„Hör-mal im Denkmal“: Kulturelle Veranstaltungen an vier Orten
Waldeck-Frankenberg – Kabarett in der Kirche in Adorf, Chansons in der Alten Synagoge in Vöhl, Vokal-Gesang in der Liebfrauenkirche in Frankenberg und Vokalinstrumentalisten in der Klosterkirche in Flechtdorf: Am „Tag des offenen Denkmals“ am zweiten Wochenende im September öffnen in Waldeck-Frankenberg drei Kirchen und eine Synagoge ihre Pforten für kulturelle Höhepunkte. Unter der Überschrift „Hör-mal im Denkmal“ wird in den vier Orten von Freitag, 8. September, bis Sonntag, 10. September, Kultur in Form von Konzerten und Kleinkunst geboten – von klassischer Musik bis Kabarett steht alles auf dem Programm. Unterstützt werden die Veranstaltungen von der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen gemeinsam mit der Sparkasse Waldeck-Frankenberg.
„Die Unterstützung dieser musikalischen Abende dokumentiert die Verbundenheit der Sparkasse mit der Region und den Menschen in der Region“, sagte Sparkassen-Vorstandsmitglied Sonja Klein bei einem gemeinsamen Termin der vier Veranstalter in der Liebfrauenkirche. Gastgeber der Veranstaltungen sind die evangelische Kirche in Adorf, die Synagoge Vöhl, der Kulturring Frankenberg sowie der Förderverein Kloster Flechtdorf. „Die besonderen Orte, an denen die Künstlerinnen und Künstler auftreten, sind ein Spiegelbild unserer vielseitigen Region“, betonte die Vertreterin des heimischen Geldinstituts. Dabei wies sie darauf hin, dass die Eintrittspreise an allen Veranstaltungsorten moderat gehalten werden konnten. „Durch unser Engagement gemeinsam mit der Sparkassen-Kulturstiftung wollen wir diese kulturellen Erlebnisse vielen Menschen zugänglich machen“, stellte sie den Hintergrund der Förderung vor.
Dass es die Veranstaltungsreihe „Hör-mal im Denkmal“ nun schon seit mehr als 30 Jahren gibt, darauf machte Marietta Lüders von der Sparkassen-Kulturstiftung aufmerksam. Von den Veranstaltern und Künstleragenturen seien am „Tag des Denkmals“ in Hessen und Thüringen diesmal 35 Auftritte an 32 Spielorten organisiert worden, davon vier in Waldeck-Frankenberg. Ihr Dank galt dem persönlichen Einsatz der vielen Ehrenamtlichen. Dadurch sei die Vielzahl der Kulturbeiträge erst ermöglicht worden. „Die Förderung der Veranstaltungsreihe durch die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und die Sparkassen vor Ort ist uns eine Herzensangelegenheit“, sagte Lüders.
Für die Veranstalter bedankte sich Birgit Gabriel vom Kulturring Frankenberg bei der Sparkasse Waldeck-Frankenberg und der Kulturstiftung Hessen-Thüringen für die Unterstützung. mjx
Dienstag, 29. August 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Musikalische „Scheinwerfer“
Jazz-Sommerkonzert in der ehemaligen Synagoge
VON ARMIN HENNIG
Vöhl – Quartett statt Septett, „Scheinwerfer“ statt „Riverside Jazz Messengers“, Erntezeit und Krankheit hatten einen spontanen Wechsel beim Jazz-Sommerkonzert in der ehemaligen Synagoge erforderlich gemacht.
Mit Dietfrid Krause-Vilmar saß immerhin die personelle Schnittstelle zwischen beiden Ensembles am Schlagzeug. Der Doyen erwies sich dabei durchaus offen für Experimente und trommelte aus dem Stand den Takt zu seiner persönlichen Premiere: „Yakety Sax“, Boots Randolphs populärer Kreuzung aus Jazz und hüpfenden Westernrhythmen, die, dank etlichen Gastspielen in Film und Fernsehen, jedem vertraut ist, auch wenn die wenigstens den Titel kannten.
Die übermütige Zugabe markierte den Gipfel einer steilen Steigerungskurve in einem Arrangement von Standards, bei der sich Jazzfreunde auf Anhieb wie daheim fühlten. Zum Auftakt erklang mit George Shearings „Lullaby for Birdland“ die Hommage den legendären Jazz-Club der Swing-Ära. Mit samtigen Tenorsax übernahm Stefan Metz zunächst die melodische Führungsrolle bei diesem Klassiker, ehe Pianist Udo Krüger und Bassist Till Spohr ihren ersten Auftritt im Rampenlicht hatten.
„Basin Street Blues“ und „On the Sunny side of the Street“, variierten diesen Wechsel bei den Solos mit finalem Sax-Ausrufezeichen auf eher gemächliche Weise, ehe das Quartett „Bei mir bist du scheen“ die Intensität deutlich steigerte. Der Wechsel zum Bariton-Sax markierte auch optisch diesen Einschnitt in Sachen Tempo und Dynamik im Umgang mit dem Klassiker, ein paar Dezibel mehr beim Beifall waren der Lohn.
Die Stellvertreter-Combo hatte das Publikum nun ganz für sich gewonnen, zumal die Spannung bei der düsteren Ballade „St. James Infirmary“ keineswegs nachließ. Piano und Bass stellten in einer schwermütigen Introduktion die Atmosphäre her, ehe das Sax die Reaktion des jungen Mannes nachzeichnete, der seine Liebste im Leichenschauhaus wiedersehen muss.
Als lebensfrohes und liebeslustiges Kontrastprogramm schlossen „Georgia on my mind“ und „All of me“ die erste Hälfte ab. Als Bonus konnten die Zuhörer die Erkenntnis in die Pause mitnehmen, dass es sich bei Georgia keineswegs um eine Huldigung des Dichters an den Heimatstaat, sondern um eine Liebeserklärung Stewart Gorells an die Schwester des Komponisten Hoagy Carmichael gehandelt hatte.
Auch die zweite Hälfte bestand aus einer abwechslungsreichen Folge von Standards, die erfolgreich auf der emotionalen Klaviatur der Zuhörer spielte. Dabei setzten George Gershwins „Summer time“ oder Joseph Kozmas „Autumn leaves“ die eher schwermütigen Akzente, während „Blueberry Hill“ und „Fly me to the moon“ für erfüllte Hoffnungen und damit verbundene Glücksgefühle standen.
Für Initiator Dietfrid Krause-Vilmar bedeutete der Auftritt mit dem Quartett keineswegs den Ersatz für das von ihm angeregte Konzert mit den Riverside Jazz Messengers, das zu gegebener Zeit nachgeholt werden soll. Die Besucher dieser rundum gelungenen Stimmungsreise in Jazz Standards dürften jetzt schon für den Auftritt des großen Ensembles motiviert sein.
Dienstag, 01. August 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Kongeniales Zusammenspiel
„Ad astra Percussion Ensemble“ tritt unterm Sternenhimmel der Synagoge auf
VON ARMIN HENNIG
Vöhl – Im Rahmen des Kultursommers Nordhessen ist das „Ad astra Percussion Ensemble“ in der ehemaligen Synagoge in Vöhl aufgetreten. Die Dimensionen des Denkmals ließen zwar nur eine reduzierte Besetzung zu, die Premiere in einem so kleinen Raum, erwies sich zudem auch als Herausforderung in Sachen Dosierung der Dynamik. Doch Deng Wehui und Leon Lorenz ließen sich vom genius loci und der Verbindung vom Sternenhimmel im Dach des Gebäudes und dem Namen der Gruppe (Zu den Sternen) inspirieren.
Dabei sorgten die akustischen Herausforderungen des kleinsten Konzertraums bislang für Premierenfieber, auch wenn die Zuhörer erst bei der Zugabe eine Ahnung davon mitbekamen, wie hoch die Spannung beim ersten Stück gewesen sein musste: Denn beim zweiten mal klang die Crossover-Komposition „Udacrep Akubrad“ von Avner Dorman viel ausgelassener, selbstbewusste Spielfreude war an die Stelle des kalkulierten Risikos getreten.
Für respektvolles Staunen sorgte aber auch schon die erste Darbietung des Arrangements für zwei Marimbas, in deren Melodien sich spanische Einflüsse und keltische Motive kreuzten. Bei der Aufteilung der Stimmen setzten die beiden Virtuosen auf Kontraste mit wechselnden Einsätzen am obersten und untersten Ende der Skala.
Das Werk des israelischen Komponisten erlebte 2007 seine Premiere mit Orchester, den umgekehrten Weg ging Maurice Ravels „Alborada de gracioso“, das ursprünglich für zwei Klaviere komponiert wurde und anschließend vom Komponisten für die bekanntere Version instrumentalisiert wurde. Im ungleich bekannteren Klassiker der Moderne ließ sich der Anspruch der beiden Multiperkussionisten, das beste aus beiden Welten auf der Marimba zu bieten, auf Anhieb nachvollziehen.
Als weiterer Höhepunkt in Sachen Zusammenspiel erwies sich Astor Piazollas „Café 1930“, beim Tango auf Samtpfoten konnte sich das Publikum zum ersten mal entspannt zurücklehnen. Eine Verschnaufpause zwischen zwei anspruchsvollen dialogischen Kompositionen.
In Matthias Schmitts Ghania trafen zwei unterschiedlichen Perkussions-Kulturen aufeinander. Während Leon Lorenz afrikanische Muster trommelte, reagierte Deng Wehui erst mit Besen, Pfeife und anderem hellen oder leichtgewichtigen Instrumentarium, ehe sich aus dem Frage- und Antwort-Spiel eine gemeinsame rhythmische Linie ergab.
Georges Aperghis „Le Corps a corps“ erwies sich als ständig weiter eskalierende Diskussion mit der Trommel, bei der die Lippen der Solistin die eine Partei vertraten, die Hände die Gegenposition, ehe ein stürmischer Lauf zum Ausgang das Ende des performativen Werkes markierte. Vor seinem Solostück mit dreizehn Trommeln bot Leon dem Publikum an, sich ruhig die Ohren zuzuhalten, denn auf so engen Raum war „Thirteen drums“ von Maki Ishiii noch nie erklungen.
Doch auch beim härtesten Anschlag auf die Trommelfelle sah sich niemand dazu gezwungen, dieses Angebot anzunehmen. Bei geschlossenen Augen entfaltete die Solokomposition dagegen eine zusätzliche Klangdimension. Strukturell entsprach die Kombination aus brachialer japanischer Taiko-Tradition und den Finessen deutscher Orchesterkultur am ehesten dem Schlagzeugsolo, wechselnde Klangeffekte setzten ständig neue Reize.
Als finaler dynamischer Leckerbissen für das Publikum in der Vöhler Synagoge erklang Ivan Trevinos Kanon „Catching shadows“, in dessen Verlauf die Verzögerung zwischen den beiden Stimmen besondere klangliche Reize entwickelte.
Überwältigender Beifall für das „Ad astra Percussion Ensemble“, in dem sich Perkussion-Liebhaber wie anfängliche Skeptiker vereinigten, ebnete zum Abschluss den Weg für eine Zugabe.
Mittwoch, 19. Juli 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Neue Landkulturboten vorgestellt
Sechs Jugendliche engagieren sich in Sommerferien in der Vöhler Synagoge
VON BARBARA LIESE
Vöhl – Sechs neue Landkulturboten werden mit Beginn der Sommerferien einen besonderen und anspruchsvollen Ferienjob in der Vöhler Synagoge beginnen. In feierlichem Rahmen wurden sie offiziell zu den Klängen von „Lenas Song“ aus dem Film „Wie im Himmel“ begrüßt. Leni Hoffmann, am Klavier begleitet von Irene Tripp, ließ keinen Zweifel daran, dass ihre Stimme Zukunft hat. Mit dabei an der Geige war ihre Freundin Lena Vaupel. Immer wieder überraschten sie die Besucher während des Abends mit ihrem Können.
Seit 2018 schreibt der Förderverein der Synagoge Vöhl die begehrten Ferienjobs aus. „Dieser besondere Ferienjob, braucht Engagement und Verantwortungsbewusstsein. Wir haben uns schon vor zwei Monaten zum ersten Mal getroffen, damit die Kulturboten die Synagoge kennenlernen, ihre Geschichte und Bedeutung und nicht zuletzt auch die Gruppe untereinander Kontakt findet“, sagte Karl-Heinz Stadtler, 1. Vorsitzender des Fördervereins. „Ich bin schon jetzt begeistert von jedem Einzelnen und überzeugt, dass ihre Arbeit für uns alle wieder ein großer Gewinn sein wird“, erklärte er. Einen eher politischen Blick auf diesen Ferienjob hatte Violetta Bat, Koordinatorin des Netzwerks für Toleranz, sie wünscht sich, dass Demokratie und Toleranz auch mit Projekten wie den Landkulturboten weiter gefördert werden.
Im Rhythmus von zwei Wochen werden die Landkulturboten in Eigenverantwortung Besucher durch die Synagoge führen, die Digitalisierung des Archivs unterstützen, die Social Media Seiten betreuen und im besten Fall auch eigene Ideen entwickeln. Sie lernen viele unterschiedliche Menschen kennen, Touristen, Geschichtskenner, Neugierige, Schüler und Studenten.
Es ist sicher eine Herausforderung für die jungen Menschen der Abschlussklassen der Alten Landesschule in Korbach, der Ederseeschule in Herzhausen und der Mittelpunktschule in Sachsenhausen. Betreut werden Sie von einem freiwilligen Team des Fördervereins. „Wir haben aber die Erfahrung gemacht, dass die jungen Menschen uns eigentlich gar nicht brauchen. Sie bringen so großes Interesse und Engagement mit, dass sie sehr schnell eigenständig arbeiten können“, berichtete Stadtler.
Unterstützt wird das Projekt von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, dem Netzwerk für Toleranz Waldeck-Frankenberg und der Gemeinde Vöhl. Bürgermeister Karsten Kalhöfer sieht in dem Projekt Landkulturboten einen Gewinn für alle, die Synagoge, die Gemeinde, die Region und nicht zuletzt natürlich für die beteiligten Schüler. „Vergangenheit und Gegenwart treffen hier in guter Atmosphäre aufeinander. Freiheit und die Würde des Menschen stehen in unserem Grundgesetz an erster Stelle. Hier in der Erinnerung zu erleben, was es bedeutet sie zu verlieren, öffnet den Blick für die Gegenwart, vielleicht sogar für die Zukunft“, betonte er.
Die Jugendlichen selbst freuen sich jetzt auf einen Ferienjob, der ihnen neben vielen neuen Informationen und spannenden Erlebnissen, auch ein Training für Projektarbeit und mündliche Prüfungen sein kann und natürlich soll er auch Spaß bringen.
Im September, nach den Ferien, treffen sich alle in der Synagoge wieder, um die von ihnen erarbeiteten Projekte vorzustellen.
Montag, 03. Juli 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Gestapo hörte Predigten mit
Förderkreis Synagoge Vöhl erinnert an Pfarrer der „Bekennenden Kirche“
Vöhl – In der letzten Bank der Vöhler Kirche saßen sonntags zwei Männer der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), die sich bei der Predigt von Pfarrer Lic. Ferdinand Hoffmann Notizen machten. Es folgten Verhöre im Pfarrhaus. Eine Verhaftung vor einem Gottesdienst scheiterte, weil sich sogar NSDAP-angehörige Vöhler Gemeindemitglieder ultimativ schützend vor ihren Pfarrer stellten. Hoffmann, von 1938 bis 1967 Kreispfarrer und Dekan, wirkte von Beginn an als Obmann der 15 Pfarrer, die sich im evangelischen Kirchenkreis Frankenberg im Herbst 1933 zur „Bekennenden Kirche“ zählten und damit einen entschiedenen Gegenkurs zu Hitlers „Deutschen Christen“ steuerten.
Bei einem Vortragsabend mit vielen Bildern und Zeitzeugenberichten wurden in der ehemaligen Vöhler Synagoge jetzt Schicksale von diesen „Pfarrern im Widerstand“ sichtbar, ein Thema, das bisher noch wenig in den Blickpunkt der Forschungen zur NS-Zeit in der Waldeck-Frankenberger Region gelangt sei, wie Karl-Heinz Stadtler als Vorsitzender des Förderkreises Synagoge in Vöhl zu Beginn erklärte.
Karl-Hermann Völker (Wiesenfeld), selbst aufgewachsen im Pfarrhaus von Viermünden, wo er als Kind auf dem Dachboden noch die Hakenkreuzfahne des einzigen NS-linientreuen Pfarrers gefunden hatte, und Friedrich Hoffmann (Herzhausen), Sohn des Vöhler Obmannes der Bekennenden Kirche, beschrieben bei der Veranstaltung in der Vöhler Synagoge eindrucksvoll die spannungsvolle Situation am Beispiel konkreter Pfarrerbiografien.
Mit großer Begeisterung waren noch am 1. Mai 1933 im Kreis Frankenberg auch Pfarrer und Lehrer der „nationalen Erhebung“ gefolgt, bei der der sich anfangs noch besonders fromm gebende Demagoge Adolf Hitler die Kirche als „wichtigsten Faktor zur Erhaltung unseres Volkstums“ umworben hatte.
Bernhard von Haller (1874-1954), von den Nazis 1934 amtsenthobener Oberkirchenrat, stellte in Bezug auf das später von ihm betreute Waldeck sehr deutlich fest: „Die Kirche hat bei uns zu ihrem Teil mit dazu geholfen, den Boden zu bereiten, in dem die Saat des Nationalsozialismus aufgehen konnte. Auch lange vor der Machtergreifung der NSDAP ist vom Landeskirchenamt bei jeder Gelegenheit die Wichtigkeit der Pflege guter Beziehungen zu ihr betont worden.“
Spätestens seit dem „Sportpalastskandal“ vom 13. November 1933, als 20 000 „Deutsche Christen“ offen ihren Antisemitismus bekannten und die Befreiung vom Alten Testament mit seiner „jüdischen Lohnmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten“ forderten, war für Kirchenmitglieder klar, welchen Kurs diese abgespaltene Kirchenversion Hitlers steuerte.
Karl-Hermann Völker beschrieb, wie sich auch anfänglich noch NS-begeisterte Pfarrer dem „Bruderrat“ und „Pfarrernotbund“ der Bekennenden Kirche anschlossen. Als Beispiele nannte er Georg Baltz (Bottendorf) oder Wilhelm Möller (Löhlbach), schilderte dann die Ausschreitungen der Nazis gegen Pfarrer Gustav Hammann sen. in Löhlbach oder Theodor Dannert in Haina. Einer der Haupträdelsführer war bei den Überfällen auf das Löhlbacher Pfarrhaus SS-Hauptsturmführer Gottfried Hartmann, ab 1952 bis 1964 problemlos wieder Bürgermeister von Haina.
Friedrich Hoffmann und Karl-Hermann Völker gedachten am Ende des Abends der mutig bekennenden Pfarrer wie Ferdinand Hoffmann oder Heinrich Balzer (Frankenberg) sowie des aus Bottendorf stammenden Lehrers Georg Maus, der am 15. Februar 1945 als Märtyrer umkam und im KZ Flossenbürg seine letzte Ruhestätte fand. zve
Dienstag, 20. Juni 2023, Waldeckische Landeszeitung / Guten Morgen, W aldeck!
Auf den Spuren seiner Vorfahren
Der Amerikaner William Roth ist Nachfahre der Rothschilds und besucht Vöhl
VON STEFANIE RÖSNER
Vöhl – Ihm fehlen nur selten die Worte, sagt William Roth. Doch was er von seiner Reise nach Vöhl erwartet, das könne er schwer in Worte fassen. Der 80-Jährige überlegt, und dann erzählt er doch ausführlich darüber, was ihn antreibt. Der Amerikaner, der in Bangkok lebt, will seine eigene Geschichte kennenlernen. Wissen, woher er kommt.
„Es ist etwas Erfüllendes, zu lernen, woher du stammst“, sagt William Roth. Bis seine Nichte Elisabeth Foote sich mit der Familiengeschichte befasste, hatte William Roth so gut wie nichts über den Stammbaum seines Vaters gewusst. Schon Williams Schwester recherchierte dazu, und der Vater wollte es nicht wahrhaben – dass seine Vorfahren Juden waren.
William Roth wuchs in Kalifornien bei Los Angeles auf. „Ich war nie wirklich an Ahnenforschung interessiert.“ Seine Mutter stammte aus New Orleans und war Christin. Sein Großvater väterlicherseits aber, Edward Otto Roth, war ein Maler, der seinen Nachnamen abkürzte. „Er starb, bevor ich geboren wurde. Mein Vater sprach nicht viel über seine Eltern“, sagt William Roth. „Es gab keine Informationen. Es hieß immer, dass im Zweiten Weltkrieg alle Dokumente zerstört worden seien.“ Nun sei es „aufregend zu sehen“, woher er eigentlich stammt.
Williams Urgroßvater war der Vöhler Jude Abraham Rothschild (1829 bis 1921), der nach seiner Konversion zum christlichen Glauben den Namen Adolph annahm und mit seiner Familie im Jahr 1866 in die USA auswanderte. „Ich weiß nicht viel über das Judentum“, sagt William Roth, als er mit Karl-Heinz Stadtler in der alten Synagoge in Vöhl sitzt und auf Englisch erzählt. Er gibt sich ehrfürchtig angesichts dieses Raumes, der für die Gläubigen ein heiliger Ort war. „Ich finde es bemerkenswert, dass Nicht-Juden diesen Ort mit viel Aufwand erhalten“, sagt er über Ehrenamtliche des Förderkreises Synagoge.
Nun hat es den Kosmopoliten ins kleine Vöhl verschlagen. Den Juristen, der auch im Ruhestand noch als Dozent in Bangkok tätig ist. Für den im Alter die Erfahrungen aus seiner Kindheit präsent werden. „Meinen Vater würde ich als eher antisemitisch bezeichnen“, sagt er reflektiert. Mit Vorurteilen gegenüber Juden wuchs er auf. Andererseits erlebte er als Junge eine Offenheit im Großraum von Los Angeles, die seinen Worten zufolge in den 50er Jahren einmalig war. „Der Westen der USA war lange der einzige Ort der Welt, wo die meisten Einwohner nicht dort geboren waren.“
Diese Vielfalt brachte Fortschritt und Innovationen. Es gab keine Konventionen, sagt William Roth. „Alle mussten verhandeln, wie man sich verhält. Wir haben unsere Regeln selbst gemacht. Wir waren daran gewöhnt, Neues zu tun.“ Daher rührte allerdings ein Gefühl der Unverbindlichkeit. Es spielte keine Rolle, woher man kam. „Ich hatte keine Wurzeln“, sagt William Roth.
Ich hatte keine jüdische Identität.
William Roth
An früheren Häusern von Vöhler Juden scannt William Roth jeweils den QR-Code, der ihn zu schriftlichen Informationen über die jüdischen Familien sowie zu Bildern im Internet leitet. Über die Webseite der Vöhler Synagoge sind die Namen der Juden zu finden, die bis zum Zweiten Weltkrieg in Vöhl gelebt hatten. Auch der Stammbaum der Familie von Adolph (Abraham) Rothschild ist dort aufgezeigt, William Roths Urgroßvater.
Am jüdischen Friedhof besucht William Roth die Grabsteine derjenigen mit dem Namen Rothschild, die noch erhalten sind. Unter dem Regime der Nationalsozialisten war der Friedhof eingeebnet worden.
Nach dem Krieg veranlassten die amerikanischen Besatzer, dass immerhin 46 Grabsteine wieder aufgestellt wurden, so berichtet es Karl-Heinz Stadtler. 160 Juden müssten dort seinen Angaben zufolge beerdigt sein.
„Ich hatte keine jüdische Identität“, sagt William Roth. „Nun herauszufinden, jüdische Vorfahren zu haben, ist sehr bedeutsam für mich. Jetzt schließt sich ein Kreis.“
Dienstag, 20. Juni 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Sich nicht vor anderen verschließen
Reger Austausch zum „Tag der Offenen Gesellschaft“
VON WILHELM FIGGE
Korbach – „Come together“ lässt die Rock-AG der ALS über den Obermarkt schallen – und viele folgen dem Ruf des Beatles-Hits: Zum „Tag der Offenen Gesellschaft“ haben sich Korbacher Vereine präsentiert und Bürger einen lebhaften Nachmittag verbracht.
Eingeladen hatte der Förderverein Lesebändchen mit der Stadtbücherei – bundesweit ruft der Deutsche Bibliotheksverband auf. Vereine und Bürger sollten sich miteinander bekannt machen und die Leitfrage des Tages klären, erläuterte Manfred Weinreich vom Förderverein: „Inwieweit bin ich bereit, Türen zu öffnen? Und welche Erfahrungen habe ich damit gemacht?“
Die Bibliothek beantworte diese Fragen jeden Tag, erklärte ihr Leiter Dr. Tobias Metzler: „Sie ist ein Haus ohne Schwellen, in das jeder hineinkommen kann.“ Cornelia Gliem von der Arbeiterwohlfahrt und dem Projekt „Demokratie feiern“ hob die Bedeutung der Zivilgesellschaft hervor: Die brauche die Offenheit für Konsens wie für Kritik – solch ein Verfassungspatriotismus sei besser als „Hurrarituale“ wie Fahnen zu schwenken.
Offenheit umfasse viele Gebiete, hob Bürgermeister Klaus Friedrich hervor, etwa Barrierefreiheit, Migration und den Umgang der Generationen miteinader – in Korbach mache es Spaß, sich die Umsetzung anzusehen.
Das wurde auch an den Ständen des Markts klar. Da stellte etwa das Netzwerk für Toleranz seine Arbeit vor. Es richtet eigene Veranstaltungen aus, fördert aber auch Projekte, die drei wichtige Dinge zeigen, erläuterte Violetta Bat: erstens, dass Bürger in der Demokratie tatsächlich mitwirken können; zweitens, dass Vielfalt normal und gut ist; und drittens dass niemand ausgeschlossen werden darf. Der Förderkreis ehemalige Synagoge Vöhl erinnerte an das Schicksal der jüdischen Gemeinde im Nationalsozialismus. Antisemitismus haben sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erledigt, unterstrich der stellvertretende Vorsitzende Philipp Wecker: „Das Thema ist immer noch ein fataler Teil dieser Gesellschaft.“
Es zeigten sich viele Wege, die Gesellschaft zu öffnen: Selbsthilfegruppen ermöglichen Menschen, die von Krankheiten, aber auch von Problemen wie Trauer und Einsamkeit betroffenen sind, wieder Kontakte aufzunehmen. „Fairer Handel öffnet Türen“ hielt der Weltladen fest; und der Unverpacktladen nannte als Ziel, Landwirten ein Forum zu bieten.
Auch gemeinsame Interessen öffnen: So wolle der NABU Menschen über die Natur zusammenbringen, erklärte Thorsten Kleine. Für die Amateur-Funker stehe die Technik im Vordergrund, erläuterte Friedemann Heinrichs – die Freude liege darin, andere zu erreichen, Religion und Herkunft seien da egal. Auch die Fachstelle Migration und Integration des Landkreises, die VHS, die Arbeiterwohlfahrt und das Diakonische Werk stellten sich vor.
In einem Weltcafé diskutierten die Besucher in wechselnden Konstellationen, was es mit „offenen Türen“ auf sich hat und hielten ihre Ergebnisse mit Zeichnungen und Stichpunkten fest. Moderator Uwe Weißflog hatte das Konzept in den USA miterlebt und freute sich über differenzierte Beiträge: Da gab es Freude darüber, auf dem Land die Haustür wortwörtlich offen lassen zu können. Aber es gab auch Unverständnis darüber, das manche angesichts von demografischen Wandel und Fachkräftemangel jeder Öffnung für Migration entgegenstehen. Und die Erkenntnis, die Teilnehmerin Sophia Sarah Schmid festhielt: Jemanden herein zu lassen sei das eine – sich selbst für andere zu öffnen das andere.
Dienstag, 13. Juni 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Schöne Isabella und ein guter Freund
Die „Harmonist:innen“ mit munteren Liedern in der Vöhler Synagoge
VON PETER FRITSCHI
Vöhl – Zwölf Lieder, allesamt bekannte Gassenhauer, bekamen die Besucherinnen und Besucher in Vöhl zu hören. Die „Harmonist:innen“ waren der Einladung des Förderkreises der Vöhler Synagoge gefolgt und begeisterten mit ihrem Repertoire die Zuhörer. Dazu gab es Kaffee, Tee und selbst gebackenen Kuchen.
Der Förderkreis-Vorsitzende Karl-Heinz Stadtler hatte das Programm zuvor mit folgenden Worten eröffnet: „Yvonne Schmidt-Volkwein, Anne Petrossow, Renate Walprecht und Bernd Geiersbach singen Lieder aus dem Repertoire der Comedian Harmonists, jener ‚Boygroup‘, die zwischen 1928 und 1935 mit ihrem A-cappella-Stil die Musikwelt in Deutschland revolutionierte.“
Zwei Jahrzehnte zuvor hatten in den USA „The Wiffenpoofs“ und „The Revelers“ diese Musikrichtung begründet, die weitgehend ohne Instrumente auskommt. 1935 war Schluss mit den Comedian Harmonists, weil einige der Mitglieder der Band Juden waren. A-Cappella-Gesang war schon oft in der Vöhler Synagoge zu hören. Vor allem die „Girls-Group“ Aquabella gastierte bereits häufig in Vöhl. 2007 waren die „Tailed Comedians“ in der Synagoge, die Originalstimmen aus dem Film „Comedian Harmonists“.
Im Förderkreis-Vorstand war man der Meinung, dass es nun wieder an der Zeit sei, „Schöne Isabella aus Kastilien“, „Veronika, der Lenz ist da“, „Ein Freund, ein guter Freund“ und „Wochenend' und Sonnenschein“ in der alten Vöhler Synagoge zu hören.
Eines der Schluss-Lieder, „Ich brech' die Herzen der stolzesten Frau'n“, wurde nicht nur von Heinz Rühmann 1938 gesungen, sondern auch vielfach gecovert, unter anderem von Dieter Hallervorden, Frank Zander und Udo Lindenberg.
Freitag, 19. Mai 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Musik verbindet drei Kontinente
Außergewöhnliches Hörabenteuer – Trio JMO zu Gast in der Vöhler Synagoge
Vöhl – Der Konzertabend in der alten Synagoge begann für die schon im Vorfeld begeisterten Zuschauer zunächst auf der Straße.
Mit guter Laune, Brezel in der Hand warteten sie auf die Musiker. Ein Motorschaden bei Frankfurt hatte für Probleme und eine deutliche Verspätung gesorgt. „Wäre das Team der Synagoge nicht so hilfsbereit und schnell gewesen, hätten wir wahrscheinlich gar nicht spielen können. Sie haben sich umgehend ins Auto gesetzt, beim Umladen und auch hier beim Ausladen geholfen.“ freute sich Jan Galega Brönnimann, das ‘J’ im Namen, noch immer ein bisschen atemlos. „Das Vöhler Publikum ist wirklich fantastisch. Es war so geduldig und hat uns so nett empfangen. Wir sagen noch einmal Danke an alle.“
Ohne Soundcheck richteten sie ihre Bühne ein und legten los. Moussa Cissokho, das ‘M’ im Namen, nahm sich Zeit für sein Instrument, die Kora. Mit 22 Saiten braucht die traditionelle afrikanische Stegharfe viel Zuwendung. Während er konzentriert die Saiten stimmte, nutzte Omri Hason, das ‘O’ im Namen, die Zeit für eine Kostprobe an Perkussionsinstrumenten und scherzte „Wenn Moussa seine Harfe stimmt, nennen wir es immer Familienzusammenführung. Moussa hat 22 Geschwister und jede Saite trägt den Namen eines Bruders oder einer Schwester.“
Nahtlos passte sich Jan Galega Brönnimann mit seinem Saxofon den improvisierten Percussionklängen an, und schließlich erklang auch, perlend und klar, die Kora.
Von der ersten Minute an verzauberte das Zusammenspiel der Musiker aus der Schweiz, Israel und dem Senegal das Publikum. „Jeder hat einen eigenen musikalischen Hintergrund“, erklärte Jan Galega Brönnimann. „Ich habe an einer Musikhochschule in der Schweiz studiert, Omri ist ein Selfmade-Musiker und spielt seine Instrumente virtuos, Moussa hat die strengste musikalische Ausbildung. Seit Generationen ist seine Familie eine Musikerfamilie. Er spielt beinahe alle traditionellen Instrumente und kann auch tanzen“.
Getanzt hat Moussa Cissokho an diesem Abend nicht. Es war seine Stimme, die alle in ihren Bann zog. Sein Gesang, in den senegalesischen Landessprachen Mandinka oder Wolof, bietet ein Potpourri unterschiedlichster Stilrichtungen. Er schmeichelt der Seele, wirkt zart und kräftig in den Raggaeklängen, sogar ironisch, wenn Moussa Cissokho gekonnt einzelne Obertöne herausfiltert und man sie als getrennte Töne wahrnimmt. Ob westlich rhythmisch, perkussiv oder östlich langsamer, getragener – musikalische Grenzen kennt das Trio nicht. Fast scheint es, als unterhielten sich Bassklarinette, Percussion und Kora miteinander. Improvisiert, ohne etwas dem Zufall zu überlassen.
JMO machten den Abend in der alten Synagoge zu einem außergewöhnlichen Hörabenteuer. Leider ohne Zugaben, hungrig nach einer abenteuerlichen Anreise, musste pünktlich Schluss gemacht werden. bl
Freitag, 05. Mai 2023, Waldeckische Landeszeitung / Landkreis
„Sie haben sich der Unmenschlichkeit angepasst“
In der ehemaligen Synagoge Vöhl berichtet Leon Weintraub auch über die Arbeit der Kapos
Einen Tag nach dem Besuch bei den Schülerinnen und Schülern in Korbach steht Leon Weintraub abends am Pult in der ehemaligen Synagoge Vöhl. Der gleiche Anlass, die gleiche Geschichte, der gleiche Mensch. Und doch ist es anders. Er weiß, er trifft auf ein erfahrenes Publikum. Es gibt also Raum – sogar für kleine Scherze, nicht jedes Wort muss abgewogen werden. „Ich bin von Stockholm in zwei kleine nordhessische Orte gefahren, von denen ich vorher noch nie gehört hatte. Es ist eindrucksvoll. Ich habe mit vielen wunderbaren Menschen gesprochen und stehe jetzt zum ersten Mal in einer Synagoge in einem kleinen Fachwerkhaus. Ich fühle mich sehr wohl“, sagt der 97-Jährige.
Wenn er hier von der Wäscherei der Mutter erzählt, dann erinnern sich viele im Saal, daran, wie es war, als die Mutter oder Großmutter im heißen Wasser auf dem harten Waschbrett die Wäsche rieb. Aus alten Erzählungen in der Familie ahnen sie, was es heißen kann, von September 1939 bis April 1945 Hunger zu haben. Einen Hunger, der unablässig schmerzt. Sie sind entsetzt, als sie von der Arbeit der Kapos, der Funktionshäftlinge, erfahren.
„Als wir in Auschwitz ankamen, hat mir ein Kapo meine Briefmarkensammlung abgenommen“, berichtet Leon Weintraub „Als ich sie wieder haben wollte, sagte er nur: Die brauchst Du nicht mehr. Du bist nicht hier, um zu leben. Immer wieder habe ich gesehen und erlebt, wie diese Menschen sich der Unmenschlichkeit ihrer Arbeitgeber anpassten.“ Er spüre bis heute, dass sein Körper sich verändere, wenn er daran denke. Es sei noch einmal schlimmer, von den eigenen Leuten verfolgt und gedemütigt zu werden. „Ich hatte nie eine große Bindung an die jüdische Religion, aber hätte ich sie gehabt, in Auschwitz hätte ich sie verloren.“
„Leon Weintraub ist einer der letzten Menschen, der aus eigener Erfahrung von diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte berichten kann“, sagt Valerie van der Kraan aus Frankenau. Sie ist beeindruckt. „Es berührt sehr, wie er das Grauen auf die kleinen Momente zurückholt. Wie er sich selbst zurücknimmt, keine Schuld zuweist. Er hat viele Jahre seines Lebens verloren und sich doch sein Leben zurückgeholt und ein neues aufgebaut.“
Astrid Sommer und ihr Mann hatten einen ganz besonderen Grund, aus Essen zu diesem Vortrag anzureisen. „Der Vater meiner Tante ist deportiert und ermordet worden. Sie haben hier in Vöhl in der Nachbarschaft der Synagoge gelebt“, erzählen sie. Mit Blick auf den Vortrag Leon Weintraubs betonen sie: „Die ruhige und sachliche Schilderung seines Lebens hat uns persönlich viel erklärt. Frei von Anklagen erzählt er, wie es trotz allem weiterging. Er hatte wohl immer die Hoffnung, weitergehen zu können. Und wie er sein Leben gestaltet hat, ist einfach großartig. Genauso großartig ist es, dass es Karl-Heinz Stadtler gelungen ist, ihn hierher zu holen in die alte Synagoge.“
Er habe, so betont es Leon Weintraub, die Ereignisse inzwischen verarbeitet und rationalisieren können. Es gäbe kaum ein Ereignis in der Weltgeschichte, das so gründlich in Wort und Bild von den Tätern, den Überlebenden oder Wissenschaftlern dokumentiert werde. Jedes Mal aber falle nach einem Vortrag, wenn er seine Pflicht der Erinnerungsarbeit erfüllt habe, gerade auch in Schulen, eine Last von seinen Schultern.
Die Zuhörer in der voll besetzten Synagoge erinnert er daran, nicht zu vergessen. „Es waren nicht nur Einzelne. Es waren Deutsche. Wir müssen gemeinsam die Erinnerung wachhalten.“ Nach einem langen Applaus im Stehen beantwortet Leon Weintraub noch viele Fragen und signiert Bücher. bl
Donnerstag, 27. April 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Gedenkstätten erinnern an Gräuel
Holocaust-Überlebender berichtet – Vorträge in Korbach und Vöhl
VON KARL-HEINZ STADTLER
Korbach/Vöhl – Der damals 18-jährige Leon Weintraub wurde mit einem der letzten Transporte von Lodz nach Auschwitz gebracht und überlebte – mit Glück und aufgrund einer gewissen Chuzpe. Heute wird Weintraub in den Beruflichen Schulen in Korbach und am morgigen Freitag in der ehemaligen Synagoge Vöhl über sein Leben berichten.
15 Jüdinnen und Juden aus Waldeck und Frankenberg wurden im Oktober 1941 in das Ghetto Lodz deportiert. Am 20. Oktober fuhr ein Zug mit mehr als 1100 Juden von Frankfurt in den Osten. In ihm saßen auch Emil Isaak und seine aus Bad Wildungen stammende Frau Sabina, eine geborene Flörsheim, sie hatten in Lich gewohnt. Ob sie in Lodz, in Chelmno oder in Auschwitz starben, ist unbekannt. Leo Neuhof und seine Frau Rosa, geb. Löwenstern, aus Höringhausen stammend, wohnten in Schlüchtern. Für Rosa nennt das Gedenkbuch des Bundesarchivs Lodz als Todesort, ein Datum ist nicht vermerkt. Für Ehemann Leo gibt es keinen Hinweis, wo er starb. Julius Flörsheim, früher in Vöhl Lehrer an der jüdischen Schule, kam zusammen mit seiner Frau Jenny und Sohn Kurt im Frankfurter Zug nach Lodz. Sie wurden in einer ehemaligen Schule untergebracht, wo Julius nach Auskunft eines Überlebenden bereits Anfang 1942 an Entkräftung starb.
Derselbe Zeuge will Kurt Flörsheim im August 1944 in Auschwitz getroffen haben. Das Gedenkbuch des Bundesarchivs teilt mit, dass Kurt Flörsheim am 10. Juli 1944 in Chelmno getötet wurde.
Am 22. Oktober fuhr ein Zug mit 1018 Jüdinnen und Juden von Köln aus nach Lodz. Im Zug saß Johanna Blumenthal, die aus Rosenthal stammte. Sie starb am 10. April 1942 in Lodz. Drei Tage später, am 25. Oktober, startete ein Zug mit 1034 Juden von Hamburg in den Warthegau. In ihm saß Else Daltrop, geb. Baruch, aus Volkmarsen. Wann und wo sie starb, ist unbekannt.
Weitere zwei Tage später wurden 1011 Juden von Düsseldorf abtransportiert. In ihm saßen die aus Adorf stammenden Louis und Klara Kann, geb. Weiler. Sie starb am 11. Mai 1942 in einem Gaswagen im Vernichtungslager Chelmno. Für Louis vermerkt das Gedenkbuch des Bundesarchivs, er sei im September 1942 in Chelmno ermordet worden.
Ein letzter Zug mit Juden aus unserer Region fuhr am 30. Oktober 1941 mit 973 oder 1011 Juden (die Quellen widersprechen sich) von Köln nach Lodz. In ihm saßen die aus Arolsen stammende Grete Löwenstein, geb. Rosenthal, sowie Ernestine, Hermann und Ilse Schwerin aus Mengeringhausen. Grete Löwenstein starb wohl im Mai 1942 in Chelmno, Ernestine Schwerin, geb. Rapp, und Tochter Ilse im Juli 1944 in einem Gaswagen in Chelmno, Hermann Schwerin am 4. Juni 1942 in Lodz.
Nachdem die Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfallen hatte, geriet die jüdische Bevölkerung ins Visier. Über das ganze Land verteilt lebten etwa 3,3 Millionen Juden. In den großen Städten wurden Ghettos eingerichtet, in denen die Juden konzentriert wurden.
Wie im Deutschen Reich gab es auch in Polen überall dort, wo viele Juden lebten, einen „Judenrat“ oder einen Vorstand der jüdischen Gemeinden. Die Deutschen nutzten diese Gremien zur Durchsetzung ihrer Befehle und Maßnahmen. Am 13. Oktober ernannten sie Mordechai Chaim Rumkowski zum „Judenältesten“. Die anderen Mitglieder des Ältestenrates wurden in den nächsten Wochen verhaftet und ermordet.
Am 8. Februar 1940 befahl Polizeipräsident Schäfer die Einrichtung eines Ghettos und den Umzug der Juden dorthin. Der auf deutschen Befehl gegründete jüdische Ordnungsdienst assistierte der deutschen Polizei bei der Umsetzung. Hunderte Juden wurden in diesem Zusammenhang getötet. Am 10. Mai war das Ghetto vollständig abgeriegelt. Über 160 000 Juden lebten hier.
Zur „Germanisierung“ des Warthegaus gehörte die Umbenennung der bisher westpolnischen Städte. Lodz wurde in „Litzmannstadt“ umbenannt, womit der verstorbene NS-Funktionär Karl Litzmann geehrt werden sollte. Das Dorf Chelmno erhielt den Namen „Kulmhof“.
Ziel der nationalsozialistischen Rassenpolitik war die Vernichtung der Juden. Weil in keinem Land Europas mehr Juden als in Polen lebten, haben die Nationalsozialisten dort ihre Vernichtungslager eingerichtet. Sie entstanden in relativer Nähe zu den Ballungszentren. Das letzte dieser Lager war Treblinka, rund 100 Kilometer nördlich von Warschau. Im östlichen Polen, nahe den Großstädten Lublin, Lemberg (heute Lwow in der Ukraine) und Bialystok wurden gleich zwei dieser Lager, Belzec und Sobibor, 1942 in Betrieb genommen. Auch Auschwitz lag damals im Einzugsbereich vieler Großstädte. Wichtig neben der Zahl der Juden in der Nähe war die Bahnanbindung. Sowohl für den Inlands- wie auch für den Auslandsanschluss waren Bahnlinien wichtig.
Das erste dieser Vernichtungslager allerdings war in Chelmno, etwa 100 Kilometer nordwestlich von Lodz. Im Dezember 1941 begann die Vernichtung dort. Der Tötungsvorgang war anders als in den anderen Lagern: In einem ehemaligen Herrenhaus wurden die Juden aus den umliegenden Dörfern und Städten in den Keller geführt; sie mussten sich entkleiden und sollten über einen langen Flur zur Reinigung und Desinfizierung unter die Dusche gehen. Am Ende des Flurs allerdings war keine Dusche, sondern eine Treppe, die in einen Lastwagen führte. Wenn die Ladefläche voll war, wurde die Tür des luftundurchlässigen Fahrzeugs geschlossen, der Fahrer kroch unter den Wagen und schloss einen Schlauch vom Auspuff an eine Öffnung an, die direkt in den Wagen führte. Er ließ den Motor an und tötete so die Insassen des Wagens. Dann fuhr er den Lkw in einen nahe gelegenen Wald, wo Arbeitsjuden die Leichen aus dem Wagen holten und in ein vorbereitetes Massengrab warfen. red
HNA 25.4.2023
Auf Spurensuche in Altenlotheim unterwegs waren die Schwestern Hella Buchheim und Paulette Buchheim. Hier mit (von links) Frankenaus Erstem Stadtrat Rainer Lange, Ortsvorsteher Heiko Backhaus, Karl-Heinz Stadtler von der Synagoge Vöhl und dem stellvertretenden Ortsvorsteher Jonas Bremmer. Sie stehen vor „Buchtals-Haus“ (jetzt Heidels) am Kirchplatz, in dem jüdische Vorfahren der Amerikanerinnen gelebt haben.
So viel wie möglich erfahren
Nachfahren der jüdischen Familie Frankenthal in Altenlotheim
VON SUSANNA BATTEFELD
Altenlotheim — „Wir möchten soweit wie möglich zurückgehen“, sagt Paulette Buchheim, „teilweise bis zu fünf Generationen“. Die 65-jährige Amerikanerin ist derzeit mit ihrer Schwester Hella (70) auf Spurensuche ihrer jüdischen Vorfahren in Deutschland.
"Am Wochenende waren sie auch in Altenlotheim, wo ihre Ururgroßeltern namens Frankenthal gelebt haben. Gemeinsam mit Karl-Heinz Stadtler vom Förderkreis der Vöhler Synagoge — der einen Stammbaum der Familie Frankenthal-Grüneberg ausgedruckt hatte – gingen die Schwestern in Altenlotheim unter anderem zu Buchtals und Itziges Haus, wo Ahnen der Familie Frankenthal gelebt haben.
Ortsvorsteher Heiko Backhaus, der mit seinem Stellvertreter Jonas Bremmer und Frankenaus Erstem Stadtrat Rainer Lange an dem Treffen teilnahm. schenkte den amerikanischen Gästen ein Exemplar der Altenlotheimer Festchronik, die zur 750-Jahr-Feier 2004 erschienen ist. Darin ist ein Kapitel den Juden in Altenlotheim gewidmet. Der inzwischen. Verstorbene Heimatforscher Walter Zarges geht unter anderem auf die Judenhäuser in Altenlotheim um 1930 ein. Demnach lebten im Haus Buchtal die Eheleute Bernhard Strauß und Ida, geborene Reinberg. und damit Vorfahren der Schwestern.
„Es ist immer eine spannende Geschichte, wenn Menschen von weither kommen, um Nachforschungen über ihre Ahnen zu betreiben“, sagte Karl-Heinz Stadtler gegenüber unserer Zeitung. Die Amerikanerinnen seien durch die Homepage der Synagoge Vöhl auf ihn gestoßen und hätten sich bei ihm gemeldet, berichtet der Vorsitzende des Förderkreises. In Vöhl habe er anschließend mit ihnen noch die alte Synagoge den jüdischen Friedhof und die beiden Häuser der Familie Frankenthal besucht.
„Wir wollen so viel wie möglich erfahren über unsere Vorfahren - auch über ihr Leben vor dem Holocaust”, sagt Paulette Buchheim, die in Boston lebt und aktuell eine zweiwöchige Rundreise mit ihrer Schwester unternimmt. Sie habe über Google und Facebook geforscht und „Stücke zusammen-
gesetzt“, berichtet sie.
Das Interessanteste in Deutschland sei für sie, dass Familien über viele Jahre in einem Haus leben, merkt ihre Schwester Hella Buchheim an. „Das ist völlig anders als in Amerika: Wir ziehen alle fünf Jahre um.“
Samstag, 22. April 2023, Waldeckische Landeszeitung / Guten Morgen, Waldeck!
Holocaust-Zeitzeuge Weintraub berichtet
97-Jähriger kommt am 28. April zu Vortrag in die Synagoge Vöhl
Vöhl – Mit Leon Weintraub kommt am Freitag, 28. April, 19 Uhr, eine ganz besondere Persönlichkeit nach Vöhl. Der 97-Jährige wird an dem Abend in der Synagoge aus seinem Leben berichten. Seine persönliche Erinnerung als jüdischer Überlebender und Zeitzeuge wird den Vortrag prägen.
Während einer Bildungsreise im vergangenen Jahr lernte der Vorsitzende des Förderkreises Synagoge Vöhl, Karl-Heinz Stadtler, im polnischen Lódz Leon Weintraub kennen. „Er ist ein geistig fitter Mann, der mir unheimlich imponiert hat“, sagt Stadtler. So lud er den Zeitzeugen nach Vöhl ein, denn Leon Weintraub kommt regelmäßig nach Deutschland und Polen und hält Vorträge. So wird er am kommenden Donnerstag auch vor Schülern des Beruflichen Gymnasiums in Korbach sprechen. Leon Weintraub hat die Zeit des Nationalsozialismus bei Bewusstsein miterlebt, denn er war damals bereits alt genug, sagt Stadtler. 1926 in einer jüdischen Familie in Lódz geboren, erlebte Weintraub mit 13 Jahren den Einmarsch der Wehrmacht in Polen. 1940 musste er zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in das Ghetto Lódz umsiedeln. Später wurde er in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und in weitere Konzentrationslager verlegt. 1945 gelang ihm die Flucht. Leon Weintraub studierte nach dem Krieg Medizin und praktizierte als Arzt in einer Klinik in Warschau. Als in Polen jedoch die Judenfeindlichkeit zunahm, wurde er entlassen. Er emigrierte mit seiner Familie nach Schweden, wo er noch heute lebt. Leon Weintraub gehört zu den letzten jüdischen Zeitzeugen, die über die Verbrechen des NS-Regimes sprechen können.
Der Förderkreis empfiehlt eine Platzreservierung per Mail: info@synagoge-voehl.de oder über Tel. 05635/1022. Die Platzkarten bis spätestens 18.30 Uhr abholen. Eintrittsgeld wird nicht erhoben, es wird um Spenden für die Arbeit des Förderkreises gebeten. srs
Mittwoch, 19. April 2023, Waldeckische Landeszeitung / Landkreis
Freiwillig für andere eingesetzt
Daniela Sommer überreicht die Auszeichnung „Du bist Spitze“ an 18 Frauen
Waldeck-Frankenberg – „Du bist Spitze!“ heißt eine Auszeichnung für ehrenamtlich engagierte Frauen aus Waldeck-Frankenberg, die die SPD-Landtagsabgeordnete Dr. Daniela Sommer seit 2015 jedes Jahr anlässlich des Weltfrauentages vergibt. In diesem Jahr hatte Daniela Sommer, zusammen mit der Frauenbeauftragten des Landkreises, Beate Friedrich, der stellvertretenden Kreistagsvorsitzenden Iris Ruhwedel sowie der frauenpolitischen Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, Nadine Gersberg, 18 Frauen aus dem gesamten Landkreis zur Ehrung in das historische Battenberger Rathaus eingeladen, in dem sich auch das Stadtmuseum befindet. Die ehrenamtliche Museumsleiterin Elisabeth Skupin stellte das Museum kurz vor.
„Unsere Gemeinschaft lebt von Menschen wie Ihnen“, rief Battenbergs Bürgermeister Christian Klein den Frauen in einem Grußwort zu.
Unter den 18 Preisträgerinnen wurden vier Frauen besonders herausgehoben. Andrea Draisbach (Aktion für behinderte Menschen Waldeck-Frankenberg) und Ortrud Gelbke (Tafel Frankenberg) erhielten neben einer Urkunde auch einen Gutschein für eine Reise nach Berlin. In die Landeshauptstadt Wiesbaden reisen dürfen Brigitte Klein (Verein Rückblende – Gegen das Vergessen, Volkmarsen) und Christel Eckhard (Hatzfeld).
„Sie alle sind Spitze!“, betonte Daniela Sommer in ihrem Grußwort. Es gebe sehr viele Frauen, die sich ganz selbstverständlich für andere Menschen einsetzten, ohne dafür Anerkennung einzufordern. „Sie machen das, weil Sie es machen wollen“, sagte Daniela Sommer. Mit ihrem Engagement seien die geehrten Frauen auch Vorbilder für die jüngere Generation.
Die Namen der geehrten Frauen (nicht alle waren anwesend): Andrea Draisbach (Bad Arolsen) arbeitet seit 2016 in der Aktion für behinderte Menschen Waldeck-Frankenberg. Sie betreut unter anderem die Homepage und organisiert Konzertveranstaltungen. Für den Verein für behinderte Menschen nimmt sie jährlich etwa 40 bis 50 Außentermine wahr. Ortrud Gelbke (Frankenberg) ist Mitglied im Vorstand der Tafel Frankenberg. Trotz ihrer 81 Jahre ist sie seit 2006 zweimal in der Woche ganztags für die Frankenberger Tafel aktiv. Sie koordiniert den Einsatz von 10 bis 12 ehrenamtlichen Helfern, die gespendete Lebensmittel für hilfsbedürftige Menschen sortieren.
Brigitte Klein (Volkmarsen) ist seit mehr als 50 Jahren ehrenamtlich tätig, unter anderem im Turnverein Volkmarsen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Ernst hat sich Brigitte Klein seit 1990 intensiv um Kontakt zu jüdischen Holocaust-Überlebenden und um die Erinnerungsarbeit gekümmert. Unter anderem hatte sie 300 Briefe an potenzielle Sponsoren geschrieben und 36 000 DM an Spenden eingeworben, mit denen jüdischen Gästen aus aller Welt ein Aufenthalt in Volkmarsen ermöglicht worden war.
Christel Eckhard (Hatzfeld) war unter anderem 16 Jahre im Vorstand des Kinderfreundevereins, 12 Jahre im Vorstand des TSV Hatzfeld, im Ortsbeirat sowie im Hatzfelder Stadtparlament tätig.
Für ihr Engagement im Frankenberger Stadtteil Schreufa (unter anderem Nuhnegänse) wurden Annette Drylo, Christina Böhle, Jasmin Glar und Ilse Ludwig ausgezeichnet.
Gerhild Buß (Frankenberg) ist seit 2009 Vorsitzende des VdK-Ortsverbandes Frankenberg. Sie ist auch Stadtführerin bei den Frankenberg Theater-Stadtführungen.
Ingeborg Kirchhainer (Frankenberg) engagiert sich seit 2013 ehrenamtlich im Treffpunkt. Inge Meißner (Korbach) sammelt jedes Jahr Weihnachtsartikel, verkauft die Artikel und spendet das Geld für die Kinderkrebshilfe. Birgit Stadtler (Vöhl) engagiert sich, wie ihr Mann Karl-Heinz, für die Synagoge Vöhl. Auch bei der Partnerschaftsvereinigung Vöhl-Mouchard ist sie seit 35 Jahren aktiv. Sarah Küpfer (Vöhl) ist im Förderkreis Synagoge Vöhl für die Organisation von Gedenkveranstaltungen und Konzerten verantwortlich.
Heide Schmutzler (Bad Wildungen) hilft Neubürgern aus Russland mit Sprachkursen und betreut einen Seniorenkreis in Altwildungen. Christa Kurz (Bad Wildungen) hat Kindern über 40 Jahre kostenlos Flötenunterricht gegeben. Dagma Kuncke (Sachsenhausen) hat sich stark bei der Integration von Flüchtlingen eingebracht und einen Literaturkreis geführt. Sandy Freudenstein (Bad Wildungen) kümmert sich um die Waldecker Distellerie und hilft im „Worschtkopp“ mit.
Last but not least wurde auch Elisabeth Skupin aus Battenberg für ihre Arbeit als ehrenamtliche Leiterin des Battenberger Stadtmuseums ausgezeichnet. Ihre besondere Aufmerksamkeit gehört dabei dem britischen Königshaus. off
Dienstag, 28. März 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Gedenken am Schabbat-Abend
Schülerinnen erinnern in Synagoge mit Musikrojekt an Ermächtigungsgesetz
VON KARL-HERMANN VÖLKER
Vöhl/Frankenberg – Es war ein besonderer Schabbatabend des Gedenkens in der Vöhler Synagoge. „Heute vor 90 Jahren begann eine verheerende Dimension des Deutschen Reiches, eine Selbstermächtigung mit diabolischen Folgen“, erklärte Matthias Müller, Lehrer an der Frankenberger Edertalschule, als er zu Beginn Hitlers „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933, seinen historischen Hintergrund, das letzte verzweifelte Aufbäumen des SPD-Abgeordneten Otto Wels und den beginnenden NS-Terror in Waldeck-Frankenberg beschrieb.
Dabei nannte er auch die Namen von ersten politisch Verfolgten wie Siegmund Katzenstein oder Richard Rothschild in Vöhl, verwies auch auf die Millionen Opfer der Shoah. „Ich verneige mich in Demut vor ihnen“, sagte Müller. Hoffnungsvoll sah er trotz aller aktuellen Formen von Gewalt und „Ermächtigung“ aber auch eine Kultur des Erinnerns, wie sie in der alten Synagoge Vöhl gepflegt wird, und zitierte am Ende den Aaronssegen.
Dazu wollte Evelyn Friesen, Schülerin der Edertalschule in Frankenberg, im Rahmen ihrer musikpädagogischen Ausbildung an einer Musikschule in Südhessen mit einem selbst entwickelten Musikprojekt und eigenen Arrangements ihren persönlichen Beitrag leisten.
Sie gewann dafür Mitschülerinnen ihres Gymnasiums sowie die Musiklehrerin Sarah Küpfer (Querflöte, Saxofon) und den Musiklehrer Matthias Müller (Klavier). Es begleiteten und unterstützten sie mit sichtbarer Spielfreude Laura Staudt (Querflöte), Ellen Glotz (Geige und Querflöte), Josina Schütz (Querflöte), Lisa Richter (Cello) und Dorothee Schwarz (Querflöte).
Ausgewählt für ihr musikalisches Gedenken an die Opfer der NS-Diktatur hatte Evelyn Friesen, die auch durch das Programm führte, bewusst „keine Konzertstücke“. Aber sie wollte dennoch vermitteln, „dass Musik verbinden und erinnern, Mut und Freude machen kann“. Es erklangen das melancholische Thema aus „Schindler’s List“, das hoffnungsvolle israelische Traditional „Tree Of Life“ oder Variationen aus „La Vita è Bella“ von Nicola Piovani, arrangiert von Evelyn selbst. In bester, vom Klavier angetriebener Swingmanier ließ das Ensemble mit Sängerin Leni Hoffmann das jiddische Musicalstück „Bei mir bist du schön“ aufstrahlen. Das Ghetto-Lied von Lejb Rosenthal „Mir leben ejbig“ („Wir leben ewig, es brennt die Welt“) drückte aus, was Evelyn Friesen als Ziel formuliert hat: „Auf dass so etwas nie wieder passiert!“
Fröhliche Lieder von Engeln als Boten des Friedens („Shalom Aleichem“) und Glück („Mazel Tov!“) umrahmten am Ende die kleine Kiddusch-Feier, bei der Sarah Küpfer nach jüdischem Ritus einen Becher Wein und die Sabbatbrote („Challot“) segnete und damit den Schabbat eröffnete. Alle Konzertgäste in der Synagoge konnten daran teilnehmen.
Es gab am Ende lang anhaltenden, herzlichen Beifall von allen Besuchern und Karl-Heinz Stadtler, aber auch von Initiatorin Evelyn Friesen selbst, die sich mit Rosen bei allen Kolleginnen für ihre tatkräftige Unterstützung bedankte.
Samstag, 11. März 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Flamenco passt perfekt zu Finnland
Anna Murtola und Joonas Widenius mit überzeugendem Auftritt in Vöhl
VON BARBARA LIESE
Vöhl – „Eine Frage hören wir jeden Tag“. Joonas Widenius schaut von seiner Gitarre hoch und lacht. „Finnland und Flamenco. Passt das zusammen? Egal wo wir sind. Selbst in Finnland sind die Menschen immer noch erstaunt, aber auch neugierig und interessiert, wenn sie hören welche Musik wir machen. Für uns selbst ist der Flamenco längst ein Teil unserer Identität geworden.“
Ursprünglich war der Flamenco-Gesang unbegleitet und nur von Tönen unterstützt, die man mit dem Körper erzeugen kann. Man klatschte in die Hände, stampfte mit den Füßen oder schnipste mit den Fingern. Dann wurde es üblich, die Sängerin mit der Gitarre zu begleiten. Immer mehr aber lösten sich die Flamenco-Gitarristen von dieser reinen Begleitfunktion und entwickelten den Flamenco zu einer virtuosen, eigenständigen Musik.
Seit gut 20 Jahren stehen Anna Murtola und Joonas Widenius gemeinsam auf der Bühne. Von Beginn an spürt der Zuschauer in der Synagoge, dass tiefe musikalische Verständnis der beiden Musiker. Es scheint als seien sie mit ihrem Rhythmus und ihren Interpretationen in einem intensiven musikalischen Dialog und vermieden jedes Klischee.
Nach einem beeindruckenden und hochklassigen Gitarrensolo von Joonas Widenius betritt Anna Murtola die Bühne. Sie trägt ein schwarzes Kleid, ist zurückhaltend geschminkt und füllt mit ihrer Stimme sofort den Raum. Ihre Bewegungen sind klein. Sie hebt ihr Kinn, strafft die Schultern, das Händeklatschen und die typische Fußtechnik, der Zapateo, helfen, im Rhythmus zu bleiben. Sie verlässt sich auf ihre Stimme, die die kleine Synagoge bis in die hinterste Ecke ausfüllt, aber nie überfordert.
Sie singt von Liebe und Kummer, Trauer und Tod, von Vergänglichkeit und Erinnerung, von der Natur und Erinnerungsorten. Zu jedem Song erzählt sie zum besseren Verständnis eine kurze Geschichte. Man muss als Zuhörer nicht alles verstehen, denn in ihrer Stimme spiegelt sich die Mischung all dieser Lebensgefühle.
Die Gitarre bleibt mal im Hintergrund, drängt sich dann nach vorn und übernimmt den Gesang. Es ist die perfekte Kommunikation zweier Künstler, die in der eigentlich fremden Gesangskultur auch ihre eigenen musikalischen Wurzeln wieder finden.
Es gelingt ihnen, traditionelle finnische Lieder mit dem Flamenco zu kombinieren. Ohne die direkte Übersetzung des Originals und mit musikalischer Interpretation entsteht so eine Verbindung zweier unterschiedlicher Kulturen, die sogar die finnische Sprache romantisch und poetisch erscheinen lässt.
Das Publikum in der Synagoge ist begeistert, nimmt neben der Musik des Duos auch das leise „Gespräch“ untereinander mit den Augen, den Gesten, der Körperhaltung und ihrem Lächeln wahr. – Zurück zum Einstieg: „Finnland und Flamenco. Passt das zusammen?“ Diese Frage wird nach dem Konzert niemand mehr stellen. Jeder hat erfahren, es passt perfekt.
Dienstag, 28. März 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Vielfältige Klezmer-Musik begeistert
Helmut Eisel und Birke Falkenroth in Vöhler Synagoge mit Applaus belohnt
VON PETER FRITSCHI
Vöhl – „Klezmer im Elfenpalast“: Bereits der Titel des Programms, mit dem der Klarinettist Helmut Eisel und die Harfenistin Birke Falkenroth in der ehemaligen Vöhler Synagoge gastierten, ist eine Herausforderung und zwingt zum Nachdenken.
„Klezmer“ heißt wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt „Gefäß des Liedes“, und was hat es mit dem „Elfenpalast“ auf sich? Elfen sind Naturgeister, Fabelwesen aus der nordischen Mythologie. Für die Zuhörer und Zuhörerinnen, die eintauchten in die außergewöhnliche musikalische Darbietung, hat sich eine Antwort mit Sicherheit erschlossen.
Schon König David spielte einst Harfe, um seine Freunde und Gäste zu unterhalten. Damit wurde er zum Vorbild für alle Klezmer-Musiker. Dem für seine stilistische Vielfalt berühmten Weltklasse-Klarinettisten Helmut Eisel war die Harfe stets eine verlockende Herausforderung und ist jetzt zu einer faszinierenden musikalischen Entdeckung geworden.
Gemeinsam mit der Harfenistin Birke Falkenroth schlug er am Samstagabend in brillanter Weise mit dem Konzert „Klezmer im Elfenpalast“ wunderbar sensible Pfade ein. Von elfenzarten Klängen umspielt, lies Helmut Eisel die Klarinette in Balladen hingebungsvoll singen und öffnete die Herzen der Zuhörer. Das Duo hatte auch aufregend fetzige Titel zwischen Itamar Freilach (aus dem Jiddischen: „der Lebhafte, der Fröhliche“) und Tango der 30er Jahre im Programm.
Die ersten beiden Stücke waren der Ukraine gewidmet. Begonnen wurde mit einer Interpretation der Nationalhymne „Schtsche Ne Wmerla Ukrajina“ „Noch ist die Ukraine nicht gestorben“, es folgte das traditionelles Stück „Odessa Bulgar“,, bearbeitet von Helmut Eisel. Der erklärte dazu: „Der Bulgar ist rhythmisch identisch mit dem „Freilach“ und bedeutet „fröhlich“, und wir wünschen den Menschen in Odessa, dass sie bald wieder frei, unbeschwert und fröhlich leben können.“
Mit „Prayer“ verschaffte Ernst Bloch in seiner Suite „From Jewish Life“ einen typischen jüdischen Gebetsgesang. „Mi Ha‘ish“ ist eine Anlehnung an Psalm 34 und heißt „Wer ist er“.
Es folgten weitere Stücke, die Helmut Eisel arrangiert hat, „Klezmer im Elfenpalast“, „Ronja“, Sammys „Freilach“, „Café 1930“, ein historischer Tango von Astor Piazzolla, dass allseits bekannte Stück „Petite Fleur“ von Sidney Bechet, das Helmut Eisel, wie er sagte, von seinem 6. Lebensjahr musikalisch geprägt hat, und zum Abschluss „Baroque Flamenco“ von Deborah Henson-Conant, „Two Sides of Jerusalem“ und Yorams „Freilach“
Die Perkussion-Elemente der Harfe, die vorwiegend durch außerhalb des melodischen und tonalen Bereichs liegende Rhythmen geprägt sind, haben die Luft zum Flirren gebracht.
So faszinierten Eisel und Falkenroth mit betörend zartem Klangzauber und Melodien zum Träumen ebenso wie mit tänzerischem Elan, mit virtuos verspielten Tonkaskaden und gewitzten Dialogen.
Die hervorragende Akustik in der Synagoge trug zu dem musikalischen Ohrenschmaus entscheidend mit bei. Das Publikum bedankte sich für das dargebrachte Musikmenü mit anhaltendem tosenden Applaus.
Samstag, 04. März 2023, Waldeckische Landeszeitung / Landkreis
Verdienstkreuz für Karl-Heinz Stadtler
Mit dem Bundesverdienstkreuz hat die hessische Wissenschaftsministerin Angela Dorn den Vorsitzenden des Förderkreises für die Vöhler Synagoge, Karl-Heinz Stadtler, ausgezeichnet. Sie würdigte das Engagement des 70-Jährigen bei der Aufarbeitung nationalsozialistscher Verbrechen. Wichtig ist ihm, an Schicksale jüdischer Opfer zu erinnern. Der pensionierte Lehrer war für die SPD lange in der Kommunalpolitik aktiv, er war Parlamentschef und Ortsvorsteher in Vöhl. red
Freitag, 03. März 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Einsatz für gemeinsames Gedächtnis
Heimatforscher Karl-Heinz Stadtler aus Vöhl erhält Bundesverdienstkreuz
Vöhl/Wiesbaden – Karl-Heinz Stadtler ist so etwas wie das Gedächtnis seiner Gemeinde: Als Vorsitzender des Förderkreises Synagoge in Vöhl lenkt der 70-Jährige den Blick seiner Mitmenschen auf die Lebensgeschichten der Jüdinnen und Juden, die einst in Waldeck-Frankenberg lebten, erforscht ihre Schicksale und engagiert sich für ihr Andenken.
Angela Dorn, Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, hat Karl-Heinz Stadtler am Donnerstag für seine herausragenden Leistungen für das Gemeinwohl das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland überreicht. „Im Sommer 2021 organisierte der Förderkreis um Karl-Heinz Stadtler einen Kunstwettbewerb mit dem Titel ,Erinnern – Wachen – Erleben‘. Diese drei Worte fassen gut den außergewöhnlichen Einsatz zusammen, mit dem Herr Stadtler die Region bereichert“, betonte die Wissenschafts- und Kunstministerin.
Erinnerung, Wachsamkeit, Mitdenken durch intensive Erlebnisse seien wichtig – um nicht zu vergessen, um gegen die Fehler zu handeln, die in der Vergangenheit begangen wurden. Die Kunst spiele hierbei eine wichtige Rolle. Sie bestehe, halte fest und mache sichtbar, was in der Erinnerung manchmal zu verschwinden oder verschleiern drohe.
Angela Dorn wies in diesem Zusammenhang auf das Engagement Stadtlers hin. Der Vöhler forscht nicht nur zu den vielen Schicksalen der Jüdinnen und Juden in Waldeck-Frankenberg und damit zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte. „Er organisiert mit den Mitgliedern des Förderkreises auch Konzerte, Ausstellungen und Lesungen und erzeugt so gemeinsame neue Erinnerungen, die wir im Herzen behalten“, sagte Ministerin.
Diese menschenzugewandte Philosophie begleitete und begleite Karl-Heinz Stadtler auch bei den vielen anderen ehrenamtlichen Einsätzen – zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe, bei seiner Arbeit in der Gemeindevertretung und im Sportverein. „Mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ehren wir seinen unermüdlichen Einsatz für unser gemeinsames Gedächtnis“, sagte Angela Dorn.
Stadtler wurde 1952 in Frankenberg geboren. Er studierte Germanistik, Wissenschaftliche Politik und Pädagogik an der Philipps-Universität in Marburg. Anschließend arbeitete er als Lehrer.
Schon in den 1990er-Jahren beschäftigte Stadtler sich mit dem Zusammenleben von Juden und Christen vor allem in der Gemeinde Vöhl, aber auch in der Umgebung. Im Jahr 1999 setzte er sich für den Erwerb der alten Vöhler Synagoge ein und begleitete die Gründung des Förderkreises „Synagoge in Vöhl“, dessen Vorsitzender er ist.
Seine Projekte führen Menschen zusammen: So organisierte er ein Treffen ehemaliger Vöhler Jüdinnen und Juden, plante eine Veranstaltungsreihe zu „Facetten des Rassismus in drei Staffeln“ und den Kunstwettbewerb. Auf der Internetseite der Synagoge Vöhl trägt er eigens recherchierte geschichtliche und persönliche Daten zusammen, die die Schicksale der jüdischen Bevölkerung in einzigartiger Weise dokumentieren. Zudem war Stadtler Ortsvorsteher und Mitglied der Gemeindevertretung in Vöhl. Er gibt Flüchtlingen Deutschunterricht und engagiert sich in Heimat- und Sportvereinen. red/dau
Dienstag, 14. Februar 2023, Waldeckische Landeszeitung / Guten Morgen, Waldeck!
Konzerte, die Kulturen verbinden
Förderkreis Synagoge Vöhl präsentiert sein Jahresprogramm
Vöhl – Das kulturelle Programm des Förderkreises Synagoge in Vöhl für dieses Jahr wartet auf mit anspruchsvollen Konzerten, interessanten Vorträgen, Führungen, unterhaltsamen Filmen und lehrreichen Ausstellungen. Karin Keller und Karl-Heinz Stadtler vom Förderkreis haben die Veranstaltungen jetzt vorgestellt. Sie hoffen auf gute Resonanz und freuen sich auf hochkarätige Künstler und diverse Referenten.
Beim ersten Synagogenkonzert in diesem Jahr wird das Flamencoduo Anna Murtola und Joonas Widenius aus Finnland zu erleben sein. Die deutsch-finnische Gesellschaft hat sich an den Förderkreis gewandt und das Duo vorgeschlagen, das in Finnland sehr bekannt sein soll, berichtet Karin Keller. Am Mittwoch, 8. März, 19 Uhr, werden die virtuosen Rhythmen der Finnen in der Synagoge zu hören sein.
Am Samstag, 25. März, ebenfalls um 19 Uhr, wird „Klezmer im Elfenpalast“ präsentiert. Die Formation aus Helmut Eisel, der schon regelmäßig in der Synagoge gewesen ist, an der Klarinette und Birke Falkenroth an der Harfe wird eine besondere Kombination der beiden Instrumente auf die Bühne bringen.
Ein faszinierendes Zusammenspiel aus Klängen unterschiedlicher Kulturen erwartet die Zuschauer am Samstag, 13. Mai, ab 19 Uhr: Das Trio JMO verbindet in seinem Konzert drei Kontinente miteinander. Moussa Cissokho aus dem Senegal, Jan Galega Brönnimann aus der Schweiz und Omri Hason aus Israel werden traditionelle und moderne Musik aus Afrika sowie aus Europa miteinander verknüpfen.
Am Sonntag, 11. Juni, ab 15 Uhr treten die „Harmonist:innen“ in der Synagoge auf. Yvonne Schmidt-Volkwein, Anne Petrossow, Anne Walprecht und Bernd Geiersbach werden Lieder aus dem Repertoire der Comedian Harmonists vortragen. Zu diesem Konzert ist der Eintritt frei. Im Rahmen des Kultursommers Nordhessen soll es am Donnerstag, 27. Juli, 19 Uhr ein Konzert in der Synagoge geben. Die Künstler stehen noch nicht fest. Die Riverside Jazz Messengers werden am Samstag, 26. August, 19 Uhr zu einer musikalischen Reise von den Ufern von Fulda und Eder zum Mississippi einladen.
Am Samstag, 9. September, um 19 Uhr werden Maria Thomaschke und Nikolai Orloff dem Publikum einen heiteren Chanson-Abend bieten. Zum Tag des offenen Denkmals werden die Sängerin und der Pianist ihr Programm „So nah und doch so fern“ in der Synagoge zum Besten geben.
Auch die in Vöhl bekannten und beliebten Künstler Paul Hoorn und Karolina Petrova werden wieder dabei sein. Am Samstag, 18. November, 19 Uhr werden sie mit Pablo Gomez, Anna v. Koch und Capelye Corazon ihr Programm „Shir ha shirim“ – Cantar de los cantares darbieten. Die Gruppe verbindet Lieder aus den jüdischen Ghettos mit lateinamerikanischer Musik. Eintrittspreis: 25/23 oder 20 Euro. srs
Eintrittskarten zu den anderen Konzerten sind meist zu 20/18 oder 16 Euro zu erhalten. Schüler und Studenten zahlen vier Euro weniger. Reservierung bei Anna Evers: Tel. 05635/1022 oder per Mail: info@synagoge-voehl.de.
Montag, 30. Januar 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Schüler erinnern an Opfer
Gedenktag in Synagoge – Wie Juden betrogen wurden
VON STEFANIE RÖSNER
Vöhl – Die Demokratie, in der wir heute leben und die Menschenrechte, auf die wir setzen, sind untrennbar verbunden mit den Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus. Daran erinnerten Schülerinnen und Schüler der 9. Realschulklassen der Ederseeschule Herzhausen in der ehemaligen Vöhler Synagoge.
Zum Gedenktag an die Opfer der Gewaltherrschaft, dem 27. Januar, präsentierten sie in Form von Wortbeiträgen und Bildern am Beispiel des Lagers Theresienstadt, wie „das Regime Häftlinge und Bevölkerung betrogen hat“. Gleichzeitig wollten die Schüler die Demokratie in Deutschland feiern.
Lehrer, Eltern und Interessierte waren eingeladen, der Präsentation in der Synagoge beizuwohnen und zu erleben, was die Schüler zuvor im Unterricht mit ihrer Lehrerin Susanne Kubat erarbeitet hatten. Diese schilderten ausführlich, mit welch hinterhältigen Methoden die Nazis Juden zum Teil nach Theresienstadt gelockt hatten und unter welchen Umständen die Menschen dort behandelt wurden oder später umkamen. Das Getto und Durchgangslager Theresienstadt sei zunächst als ein Gefängnis für „unerwünschte Personen“ deklariert und dann zu einem „Vorzeigelager“ der Nationalsozialisten entwickelt worden.
844 hessische Juden, darunter etliche aus Waldeck-Frankenberg, waren am 8. September 1942 aus Kassel nach Theresienstadt deportiert worden. 207 von ihnen wurden direkt weiter nach Treblinka deportiert und dort ermordet, berichteten die Schüler, die sich mit jeweils kurzen Wortbeiträgen abwechselten. 244 dieser Juden wurden in den Jahren 1943 und ‘44 ins Konzentrationslager nach Auschwitz gebracht, und nur 70 erlebten 1945 die Befreiung. Die Schüler berichteten zudem über den NS-Propaganda-Film „Theresienstadt – Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“, der eine heuchlerische Inszenierung gewesen war.
In einem Kapitel ihres Vortrags beleuchteten die Schüler das Thema Kinder in Theresienstadt, das den Besuchern besonders nahe ging. Ebenso gingen sie auf die so genannten „Heimeinkaufsverträge ein“, die alten Leuten ein gut umsorgtes Leben versprachen, die jedoch vielen den schnellen Tod brachten. „Theresienstadt war eine Todesfalle“.
Der Vorsitzende des Förderkreises der Synagoge, Karl-Heinz Stadtler, lobte die Schüler für ihre gut umgesetzte Präsentation.
Freitag, 27. Januar 2023, Waldeckische Landeszeitung / Landkreis
HOLOCAUST-GEDENKTAG Auch Minderheiten wurden zum OpferMordpläne fanden willfährige Vollstrecker
VON KARL-HERMANN VÖLKER
Waldeck-Frankenberg – In Erinnerung an den Tag der Befreiung des NS-Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 gedenkt der Deutsche Bundestag heute ab 10 Uhr im Plenarsaal der Opfer des Nationalsozialismus. Im besonderen Blickpunkt stehen dabei in diesem Jahr Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität im Nationalsozialismus verfolgt wurden.
Zu den insgesamt sechs Millionen Ermordeten, an die der Internationale Holocaustgedenktag erinnert, gehören auch mehr als 800 Juden, Sinti, Behinderte und politisch Andersdenkende allein aus Städten und Gemeinden des heutigen Landkreises Waldeck-Frankenberg, etwa 155 von ihnen kamen im Vernichtungslager Auschwitz um. Auch ihrer wird heute im Landkreis gedacht, so ab 18 Uhr in der alten Synagoge Vöhl, wo Schüler der Ederseeschule Herzhausen über das Ghetto Theresienstadt berichten. Ab 17 Uhr werden dort „Lichter gegen die Dunkelheit“ leuchten.
Mit Veranstaltungen, Ausstellungen, Buchpublikationen, verlegten Stolpersteinen, Mahnorten, Gedenkportalen im Internet und Kontakten zu Nachfahren der Opfer von deutscher Gewaltherrschaft hat sich in den vergangenen Jahren in unserem Kreis eine breit in der Bevölkerung verankerte Gedenkkultur entwickelt. Dabei gilt besondere Aufmerksamkeit den vertriebenen und ermordeten jüdischen Bürgern, die Jahrhunderte lang christlich-jüdisches Zusammenleben, Gesellschaft und Kultur mitgestaltet haben. Die Barbarei des in unserer Region ländlich geprägten NS-Faschismus, ausgeführt von groben SA-Braunhemden oder Schreibtisch-Tätern, erfasste daneben aber auch Minderheiten, an die seltener gedacht wird.
Das vom NS-Regime schon 1933 erlassene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ fand auf unterer Ebene der Gesundheitsämter in systemtreuen Medizinern willfährige Vollstrecker. Unter dem Buchtitel „Erbbiologische Selektion in Korbach 1933-1945“ legte dazu 2014 Dr. Marion Lilienthal eine umfangreiche Studie mit erschreckenden Ergebnissen vor: 45 Einwohner allein der Stadt Korbach wurden aufgrund des Gesetzes zwangssterilisiert, 27 jugendliche und erwachsene Bürger und Patienten fielen der NS-„Euthanasie“ zum Opfer.
Gefürchtet war, wie Zeitzeugen berichteten, der Frankenberger Medizinalrat Dr. Kurt Peters, der sie als Angehörige kinderreicher Familien einbestellte und „untersuchte“. Er ordnete Sterilisierungen nicht nur an, sondern entschied auch darüber als Mitglied des „Erbgesundheitsgerichts“. Im Dezember 1939 schlug er eine sozialschwache („asoziale“) Vöhler Familie zur Unterbringung in einem Lager, „evtl. KZ“, vor.
Eine durch das Lebenshilfewerk Waldeck-Frankenberg 2009 angestoßene Forschungsinitiative ermittelte, dass in den Kreisen Waldeck und Frankenberg insgesamt 500 Bürger dem NS-Massenmord an Kranken und Behinderten, zynisch „Euthanasie“ genannt, zum Opfer fielen.
Behinderte verschwanden plötzlich aus dem Dorfbild oder wurden systematisch aus Anstalten wie Hephata oder Haina deportiert. An mehr als 400 der Tötung preisgegebene Patienten erinnert heute eine Mahn- und Gedenkstätte auf dem Friedhof Haina.
Der sogenannte „Auschwitz-Erlass“ des SS-Reichsführers Heinrich Himmler vom 16. Dezember 1942 ordnete nach langer Verfolgung die völlige Vernichtung der im Deutschen Reich lebenden etwa 500 000 Sinti und Roma an. Zu denen, die im „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau und anderen Orten ermordet wurden, gehören beispielsweise allein aus der Siedlung Kröge, wie Arnd Böttcher auf seinem Battenberg-Gedenkportal nachweist, zwölf Angehörige der Familie Klein.
Freitag, 13. Januar 2023, Waldeckische Landeszeitung / Landkreis
Sensationsfund bei Bauarbeiten
In Kassel sind historische Dokumente aufgetaucht – auch aus Vöhl
VON CHRISTINA HEIN
Kassel/Vöhl – Die Bauarbeiten für mehr Sicherheit in der Kasseler Synagoge haben überraschend einen Sensationsfund zutage gefördert. Er gibt viele Fragen und Rätsel auf.
Beim notwendigen Um- und Ausräumen einiger Räume wurde in einem ungenutzten Wandschrank eines Schulraums ein unbekanntes Konvolut an unterschiedlichen Akten und Papieren gefunden, die jüdische Menschen aus Nordhessen betreffen, unter anderem aus Frankenberg und Vöhl.
Es handelt sich um zwei Dutzend Ordner mit Unterlagen, Original-Dokumenten von privaten und städtischen Institutionen aus den Jahren des Nationalsozialismus, Deportations- und Evakuierungslisten sowie Fragebögen, auf denen Juden Angaben etwa über ihren Besitz machen mussten. Die Beschriftung der gefundenen Ordner weist zudem auf Finanzamtsunterlagen hin. Ein Teil der Papiere sind Originale, einige sind Fotokopien.
Damit nicht genug. Darüber hinaus wurden umfangreiche historische Dokumente gefunden wie Grundbuch- und standesamtliche Eintragungen, Akten aus Behörden und Katasterämtern aus dem 19. Jahrhundert aus den Ortschaften Frankenberg und Vöhl. Dort hatte es vor dem Holocaust große jüdische Gemeinden und Synagogen gegeben.
Zu dem rätselhaften Fund, zu dem auch ausgeschnittene Zeitungsartikel aus den frühen 1930er-Jahren zählen, gehört außerdem eine original pergamentene Bibelrolle, dem Buch Esther.
„Keiner wusste von den Papieren und wir können nicht sagen, wann, wie und warum sie in die Kasseler Synagoge gelangt sind“, sagt Esther Haß vom Vorstand der Kasseler Jüdischen Gemeinde.
Eine wissenschaftliche Betrachtung soll nun für mehr Klarheit sorgen. Mit einer Spende des Kasseler Clubs Soroptimist International Elisabeth Selbert in Höhe von 2500 Euro sollen die Akten jetzt gesichert und ihre Erforschung angeschoben werden. Dazu wurde ein Teil des Konvoluts bereits ins Sara-Nussbaum-Zentrum für jüdisches Leben gebracht. „Als erstes werden wir alles digitalisieren“, sagt Elena Padva, Geschäftsführerin im Nussbaum-Zentrum. Und weiter: „Dann sehen wir weiter. Es ist auf jeden Fall sehr bewegend, Original-Papiere in der Hand zu halten, auf denen Sara Nussbaum handschriftliche Angaben gemacht hat.“
Sara Nussbaum (1868-1956) war eine deutsche Rot-Kreuz-Schwester und Überlebende des Holocausts. Im Jahr 1956 wurde sie zur Ehrenbürgerin der Stadt Kassel ernannt und posthum mit einem Ehrengrab geehrt.
Die Präsidentin des SI-Clubs Elisabeth Selbert und Verlegerin Renate Matthei sagt: „Dieser sensationelle Fund muss nun sorgfältig aufgearbeitet werden, um ihn für die Nachwelt zu erhalten und die Auseinandersetzung mit der Stadtgeschichte zu ermöglichen.“