Vöhl-Ma­ri­en­ha­gen – Es sind die al­ten Fo­tos der in Ausch­witz um­ge­brach­ten Cou­si­nen, es ist die Post­kar­te von Hil­de, der ein­zi­gen in ih­rer Fa­mi­lie, die den Ho­lo­caust über­leb­te, und es ist der letz­te Brief der Mut­ter, die 1943 in So­bi­bor starb: Zeug­nis­se, die die be­weg­te Fa­mi­li­en­ge­schich­te der Krat­zen­steins aus Ma­ri­en­ha­gen do­ku­men­tie­ren.

„Durch Zu­fall sind wir im In­ter­net auf ei­ne Sei­te ge­sto­ßen, auf der ein Mann die Fa­mi­li­en­chro­nik sei­nes Va­ters, der aus Ma­ri­en­ha­gen stamm­te, ver­öf­fent­licht hat“, sagt Karl-Heinz Stadt­ler vom För­der­kreis Syn­ago­ge Vöhl, der seit Jah­ren müh­sam die Stamm­bäu­me frü­he­rer Vöh­ler Ju­den zu­sam­men­stellt. Der Mann, der die Chro­nik ver­öf­fent­lich­te, ist Wal­ter Ernst Krat­zen­stein, der Sohn von Ju­li­us Krat­zen­stein, über den und des­sen Fa­mi­lie es nun „un­heim­lich vie­le neue In­for­ma­tio­nen“ gibt.

Ju­li­us Krat­zen­stein wur­de 1904 als das jüngs­te von vier Kin­dern des jü­di­schen Gast­wirts Se­lig Krat­zen­stein und sei­ner Frau Di­na ge­bo­ren. Die El­tern be­wohn­ten das in der Dorf­mit­te von Ma­ri­en­ha­gen ge­le­ge­ne al­te Land­schul­heim. Ju­li­us ge­noss ei­ne gu­te Schul­bil­dung, er stu­dier­te in Ber­lin Ge­schich­te, Phi­lo­so­phie und Päd­ago­gik. Er wur­de Rab­bi­ner. Die Le­bens­läu­fe sei­ner drei Ge­schwis­ter wa­ren dem För­der­kreis Syn­ago­ge Vöhl be­reits be­kannt. Zwei von ih­nen so­wie de­ren Kin­der wur­den de­por­tiert und star­ben in Kon­zen­tra­ti­ons- und Ar­beits­la­gern. „Über Ju­li­us wuss­ten wir nichts, au­ßer dass es ihn gibt und dass er ir­gend­wann weg­ge­gan­gen war“, so Stadt­ler. Dass Ju­li­us Krat­zen­stein nicht in Deutsch­land blieb, ret­te­te ihm wohl das Le­ben.

„Ju­li­us wech­sel­te zu­nächst zwi­schen Deutsch­land und der Schweiz und blieb schlie­ß­lich in der Schweiz. Die Schweiz be­grenz­te zeit­wei­se den Zu­zug von deut­schen Ju­den aus Angst, auch sie kön­ne An­griffs­ziel der Deut­schen wer­den.“ Ju­li­us lei­te­te in der zwei­ten Kriegs­hälf­te ei­ne Ein­rich­tung des Schwei­ze­ri­schen Ro­ten Kreu­zes, die sich um jü­di­sche Flücht­lin­ge küm­mer­te. Nach dem Krieg woll­te er Is­ra­el im Un­ab­hän­gig­keits­krieg hel­fen, folg­te aber bald sei­ner Fa­mi­lie – sei­ner Frau Ro­sa Ra­chel und sei­nem Sohn Wal­ter Ernst – in die USA. Im Al­ter von 80 Jah­ren be­such­te Ju­li­us Krat­zen­stein mit sei­nem Sohn Wal­ter und des­sen Frau Mi­chel­le Ma­ri­en­ha­gen und Vöhl. Er starb 1990 in Mi­chi­gan, USA.