Vöhl – „Ich weiß, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, doch ich liebe das Jiddische wie ein liebender Sohn die Mutter“, waren, so das Verhörprotokoll, seine letzten Worte. Im Lubjanka-Gefängnis in Moskau, am 12. August 1952, an seinem 68. Geburtstag, wurde Dovid Bergelson erschossen. Es war die „Nacht der ermordeten Dichter“. Für Stalin ein letzter Schritt auf dem Weg, die jiddische Lyrik auszulöschen. Mit diesem letzten Satz endet auch das Buch „Die Welt möge Zeuge sein“, das im Rahmen des literarischen Frühlings in der Synagoge Vöhl von Sabine Koller vorgestellt wurde. Die Professorin für Slavisch-Jüdische Studien an der Universität Regensburg studierte Romanistik und Slawistik in Sankt Petersburg und verbrachte für ihre wissenschaftliche Arbeit auch viel Zeit in Litauen, Moskau, Petersburg und Jerusalem.

Mit 15 ausgewählten Texten, 13 Erzählungen und einem Ausschnitt aus dem Drama „Prinz Reuveni“ , ergänzt durch einfühlsam ausgewählte Zitate des Dichters, öffnet sie für die Besucher im ausverkauften ehemaligen Betsaal der Synagoge einen neuen Blick auf die Geschichte eines Volkes, die von der Antike bis zur Neuzeit geprägt ist von Stigmatisierung, Unterdrückung, Verfolgung, Gewalt, Verlust, Pogromen, Stalinismus und dem Nationalsozialismus. Es ist der Blick einer Wissenschaftlerin, die, so scheint es, die Sprache des Dichters ebenso liebt wie er selbst.

Immer wieder liest sie ausgewählte Textpassagen in jiddischer Sprache, erklärt die Entstehung einer Sprache, die sich wie eine Landkarte entlang der Migrationswellen durch Europa zieht und so Regionen und Länder miteinander verbindet. Klaus Brill, Programmleiter des literarischen Frühlings, begleitet als ausgewiesener Kenner deutscher Geschichte die Wissenschaftlerin mit politischen und historischen Einordnungen. Dovid Rafailowitsch Bergelson, geboren 1884 in Ochrimowo, in der heutigen Westukraine, lebte lange Zeit in Kiew, gründete dort die Jiddische Kulturliga. In den 1920er Jahren verließ er, wie rund 40.000 jüdische Revolutionsflüchtlinge, das Zarenreich, um in Berlin eine neue Heimat zu finden.

Mit dem aufkommenden Nationalsozialismus zog es ihn, den nun überzeugten Sozialisten, wieder zurück in die Sowjetunion. Er glaubte fest daran, dass die jiddische Sprache und systemnahe Schriftsteller nur dort eine Zukunft hätten. Diese Überzeugung und seine führende Mitgliedschaft im einflussreichen Jüdischen Antifaschistischen Komitee, das in der ganzen Welt Gelder für die Rote Armee akquirierte, schützten ihn am Ende aber nicht vor Stalins letztem paranoiden antisemitischen Feldzug gegen die jüdische Kultur. Bergelsons Traum von einem Nationen umfassenden „Jiddischland“, einer Art „Wortrepublik“ starb mit ihm.

Das Buch „Die Welt möge Zeuge sein“ mit achtsam ausgewählten Texten, die mit Schonungslosigkeit und Härte, eindringlich und subjektiv vom Niedergang des jüdischen Lebens berichten, wird ergänzt durch ein ausführliches Nachwort: zum Leben des Schriftstellers, zur Übersetzung, mit Anmerkungen zur Entstehung der Texte und einer geschichtlichen Einordnung.

Sabine Koller und Klaus Brill gelingt es in der Synagoge, sachlich und doch emotional eine dichte, besondere Atmosphäre zu schaffen, die 120 Besucher beinahe zwei Stunden lang in ihren Bann zieht. Mit dem Applaus will Sabine Koller Tränen der Rührung nicht zurückhalten. Tief bewegt ist sie noch immer und immer wieder von den Texten. Aber auch von einem Publikum, das so aufmerksam, mitfühlend und klug ihrer Geschichte und der von Dovid Bergelson folgte.
BARBARA LIESE