Große Kunst inmitten des Grauens
Winfried Radeke berichtete aus der Forschung und der Aufführungspraxis.
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VON KARL-HERMANN VÖLKER

Vöhl - „Ich wandre durch Theresienstadt, das Herz so schwer wie Blei…“ schrieb die jüdische Dichterin Ilse Weber, die als Kinderkrankenschwester im Ghetto Theresienstadt arbeitete, bis sie am 6. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Ihr Gedicht, geschrieben für ihren durch einen Kindertransport nach England geretteten Sohn Hanu, stand am Beginn des 159. Synagogenkonzertes in Vöhl mit dem Ensemble „Zwockhaus“.

Daraus entwickelte sich am internationalen Holocaust-Gedenktag ein tief beeindruckender Abend. Er war geprägt von bitterer Poesie, melancholischem Witz und bewundernswerter Auflehnung todgeweihter Komponisten und Textdichter.

Theresienstadt - das war eine ehemalige tschechoslowakische Garnisonstadt für etwa 4000 Soldaten, die von den deutschen NS-Besatzern ab 1940 zu einem Sammellager vorwiegend für jüdische Bürger umgerüstet wurde. Dort waren zeitweilig bis zu 50 000 Menschen eingepfercht. Auch die letzten Transporte von Juden aus dem heutigen Kreisgebiet von Waldeck-Frankenberg führten 1942 in dieses angebliche „Altersghetto“, das Nazi-Propagandisten mit verblenderischer Kulisse beim Besuch von Rotkreuz-Delegationen vorführten.

Es war dieses Leben „als ob“, in einem Gedicht beschrieben von Ghetto-Bewohner Dr. Leo Strauß (1897-1944), das das Ensemble Zwockhaus in der Vöhler Synagoge mit beklemmender Schärfe in Liedern und Texten sichtbar machte: Es gab im Ghetto tatsächlich nicht nur Theater und Orchester, sondern auch drei tschechische und fünf deutsche sogenannte „Kabaretts“, wie Moderator Winfried Radeke berichtete. In jüngster Zeit seien diese in der Zwangsgemeinschaft des Lagers entstandenen Kulturformen einer künstlerischen Elite immer besser erforscht, letzte Zeugnisse der Kabarettisten wiederentdeckt worden.

„Aus schlichten Liedern soll ein bisschen Glück und gütiges Vergessen erblühen“, heißt es in einem Text, mit dem Ilse Weber ihren Mithäftlingen gegen die Verzweiflung helfen wollte. Maria Thomaschke (Mezzosopran), Andreas Joksch (Tenor) und Nikolai Orloff (Klavier) ließen, musikalisch fein auf einander abgestimmt, in Liedern wie diesem Wehmut mitschwingen. Sie zeigten aber auch mit deklamatorischer Unerbittlichkeit, wie damals die Kabarett-Künstler von Theresienstadt mit sarkastischen Parodien selbst beim Schnulzentraum vom „kleinen Café“ auf „Wien“ nur noch den realistischen Reim „Terezin“ zu Papier brachten.

Selbstironie über die „gelben Fleckerln“ (die zwangsweise zu tragenden Judensterne), über die „schönste Stadt der Welt“, Ansingen gegen die Verzweiflung im Schluss-Couplet „Jetzt ist alles aus“ - dem Publikum in Vöhl stockte manchmal sekundenlang die Hand zum Applaus.

Erst am Schluss gab es langen, herzlichen Beifall für vier Künstler, die am Abend des Holocaust-Gedenktages ein Stück Hochkultur inmitten des Grauens von Theresienstadt sehr eindrucksvoll zu würdigen wussten.

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Melancholie, Satire, bissiges Chanson: Die Künstler des Ensembles „Zwockhaus“ mit (von links) Nikolai Orloff, Maria Thomaschke und Andreas Jaksch erinnerten in der Vöhler Synagoge an ermordete, aber unvergessene Kulturschaffende des Ghettos Theresienstadt. Fotos: Karl-Hermann Völker
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