Donnerstag, 28. Juli 2022, Waldeckische Landeszeitung / Landkreis
Judenhass tobte „vor aller Augen“
Historiker Michael Wildt berichtet in Vöhl über das Wissen um den Holocaust
VON DR. KARL SCHILLING

Vöhl – „Vor aller Augen. Was wussten die Deutschen vom Holocaust?“ Dieser Frage ging der Historiker Prof. Michael Wildt am Montag in der Vöhler Synagoge nach. Der Fachmann für die nationalsozialistische Diktatur zeichnete in seinem packenden Vortrag nach, wie viele Repressalien gegen Juden in aller Öffentlichkeit abliefen.
„Man musste nicht Antisemit sein, um NSDAP zu wählen“, sagte Prof. Wildt. Es habe viele Gründe gegeben, etwa der Wunsch nach einem „starken Mann“, der die Deutschen aus der Weltwirtschaftskrise und aus dem „Schandvertrag“ von Versailles führe. Aber: „Wer die Partei gewählt hat, hat Antisemitismus gewählt.“
Und die Partei habe viele Schritte zur Ausgrenzung und Demütigung der Juden öffentlich vollzogen. So stelle der erste Boykott jüdischer Geschäfte bereits im April 1933 eine „massive Zäsur“ dar – „jeder konnte sehen, wie die Nationalsozialisten gegen Juden vorgingen – auch außerhalb des Gesetzes.“ Manche hätten nach der Entmachtung der SA 1934 und der Ermordung vieler Führungskader um Ernst Röhm geglaubt, damit sei die „revolutionäre Phase“ beendet und die Regierung komme in „geordnete Bahnen“. Doch der Terror ging weiter. Das Regime verdrängte Juden aus Behörden oder Kliniken – andere profitierten und übernahmen ihre Stellungen. Und: „Das Regime machte keinen Hehl daraus, dass es Konzentrationslager gab.“ Im „Stürmer“-Kasten hätten Einwohner nachlesen können, welche „antisemitischen Maßnahmen“ vor Ort ergriffen worden seien. Viele Juden hätten ihr Geschäft aufgegeben und seien in die Großstadt gezogen.
Die Deutschen hätten zudem mitbekommen müssen, wie ihre jüdischen Nachbarn emigrierten, flüchteten oder verschwanden. Falle es nicht auf, wenn 1000 Menschen zu Fuß durch die Stadt zum Bahnhof zogen, um deportiert zu werden? Hätten Schüler nicht nachgefragt, wo ihre Klassenkameraden geblieben seien? Da zeige sich bereits, dass in der Mehrheitsgesellschaft eine „soziale Distanz“ gegenüber den Juden dagewesen sei.
Beim reichsweiten Pogrom am 9. November 1938 habe sich die Lage noch zugespitzt. Da sei das Regime offen gegen die Juden vorgegangen. „Viele haben es gesehen“, die Zeitungen berichteten, auch die WLZ. Und nicht nur die SA habe mitgemacht, auch andere hätten zerstört und mitgeplündert. Wohl 200 Juden wurden ermordet.
Das Erschreckende: Der angerichtete Schaden sei in der Bevölkerung beklagt worden, betonte Prof. Wildt – „aber kaum jemand äußerte Mitgefühl für die Juden: Gleichgültigkeit war das Moment.“
Auch die Kirchen hätten weitgehend geschwiegen ob der Schändung der Gotteshäuser. Diese „Pogromstimmung“, dieser explosionsartige Ausbruch der Gewalt sei für ihn erklärungsbedürftig, sagte der Historiker. Sei es die Angst vor einem nahen Krieg gewesen?

Im Jahr 1939 entfesselte Hitler mit dem Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg – und die Deutschen erhielten neue Kommunikationsformen: Mit Feldpostbriefen und Fotos informierten Soldaten die Deutschen zu Hause über die Geschehnisse gerade im Osten: die Demütigungen der polnischen Juden, die massenhaften Erschießungen – dies werde auch in den Briefen thematisiert, sagte Prof. Wildt. Sie seien auch das „wesentliche Element der Kenntnisse über den Holocaust“.
Hinzu kam ein weiteres modernes Medium: das von den Nationalsozialisten geförderte Radio. Doch manche „Volksgenossen“ hörten nicht nur wie gewünscht deutsche Propaganda, sondern auch „Feindsender“ wie die britische BBC – die schon ab Sommer 1942 über die systematische Ermordung von Juden in Polen und der Sowjetunion berichtet habe.
Außerdem hätten viele von der Deportation der Juden aus Deutschland, den Niederlanden oder Frankreich profitiert: Ihr Hausrat wurde „vor aller Augen“ versteigert. Wohnungen wurden frei.
Beim Wissen über den Holocaust sei allerdings zu differenzieren, betonte Prof. Wildt: Die Massenerschießungen seien „in allen Familien“ Teil der Erzählung gewesen. Aber das Ausmaß der Tötung in den Vernichtungslagern sei nicht allgemein bekannt gewesen.
Doch schon nachdem sich das Kriegsglück für die Deutschen 1943 gewendet hatte, sei in der Bevölkerung das Unbehagen da gewesen, dass mit den Juden „etwas schlimmes“ passiert sei, dass den Deutschen deshalb Strafe der Sieger drohe. So habe es geheißen: „Wir werden alle vergast.“ Wildt fragte: „Wie kommt jemand darauf?“
Sein Fazit: „Wissen setzt wissen wollen voraus. Wer wissen wollte, konnte wissen.“ Prof. Wildt hat Tagebücher ausgewertet – Schreiber haben mit ihren Nachfragen durchaus einiges an Wissen zusammengetragen.
Warum wollten manche nichts wissen? „Wenn man weiß, ist man gefordert zu handeln“, sagte Prof. Wildt. Viel einfacher sei es, etwas einfach geschehen zu lassen. Das gelte für die Gegenwart genau so wie für die Leute in der NS-Diktatur.
Eine lebhafte Diskussion schloss sich an. Der Vorsitzende des Förderkreises für die Vöhler Synagoge, Karl-Heinz Stadtler, berichtete über Schicksale aus Vöhl und warum die Synagoge das Pogrom 1938 überstand. Es ging um Eigenverantwortung, um Fragen von Abwägungen, um den Antisemitismus in der Gesellschaft, um die Rolle der Kirchen und am Ende um den Krieg in der Ukraine. -sg-